Respekt, Dankbarkeit, Bewunderung und bei aller Freude ob des großen Wurfes, ein Staunen über so viel Chuzpe und – Schande über mich – auch ein bisschen Neid. Das empfand ich bei der Erst-Lektüre des Huntington-Aufsatzes und danach seines Buches. Respekt vor dem Mut, den der Autor aufbrachte, indem er sich nicht in Ästen und Bäumen verhedderte, sondern den Blick auf den Wald heftete. Endlich jemand, der Weltpolitik wirklich global analysierte und prognostizierte. Kein Klein-Klein, endlich ein Professor der wirklich einer in des Wortes Ursinn war: ein Bekenner – zu einer Methode, besser: Sichtweise. Das bewundere ich dauerhaft.

Was Huntingtons Chuzpe sei? Er argumentierte weltpolitisch und welthistorisch, doch sein Wissen auf beiden Feldern war lücken- und teils fehlerhaft. So waren ihm etwa mongolische Muslime offenbar unbekannt. Hat er deswegen Mongolen im Zusammenhang mit der russischen Geschichte unter Türken subsummiert? Trotz der Fehler stimmen seine damaligen Analyse und Prognosen auf absehbare Zeit. Der Grund: Huntington erkannte und benannte Zusammenhänge. Der Generalist hätte, auch für das Buch, Spezialisten hinzuziehen sollen. Das hätte seine Kritiker von damals, heute und morgen gezwungen, sich auf die große Linie zu konzentrieren. Hätte man (wer auch immer) früher auf ihn gehört, wären kapitale Fehler vermieden worden. Man hätte den „kommenden Dingen“ früher und wirksamer entgegensteuern können. Besonders bezogen auf den Umgang mit Islam, Muslimen und Islamischer Welt.

Früher und klarer als die meisten Spezialisten, Journalisten oder gar Politiker erkannte Huntington die politische Urgewalt der Religion(en).

Früher und klarer als die meisten Spezialisten, Journalisten oder gar Politiker erkannte Huntington die politische Urgewalt der Religion(en), allen voran des Islam. Es war sozusagen – damals besonders im areligiösen, vormals christlichen Westeuropa, weniger in den USA – eine bestrittene Wiederentdeckung. Dabei hat Huntington nichts anderes versucht und geschafft als die Wirklichkeit der Welt zu betrachten, oft richtig zu erkennen, zu beschreiben und ihr Zukunftspotential zu taxieren.

Das Wiedererstarken des Islam war 1993 längst offensichtlich. Es war mit Händen zu greifen. Manches Hirn in Europa wollte das nicht wahrhaben. Nun doch einige Beispiele über die von Huntington genannten hinaus. Früher als von ihm genannt, 1976 bis 1982, begann der erste Aufstand der syrischen Radikal-Sunniten gegen den alawitischen Assad-Clan. Seit 1978/79 bekämpften afghanische mit anderen Islamisten Kabuls Kommunisten und, ab Dezember 1979, die Rote Armee. Im Februar 1979 hatte im Iran die Khomeini-Revolution gesiegt. Im November 1979 stürmten saudische Radikal-Sunniten die Große Moschee von Mekka, 1981 folgte Sadats Ermordung durch Islamisten, 1987 die Gründung der palästinensischen Hamas, 1988ff al-Qaida und, und, und… Europa schaute, staunte und verstand selten. Huntington aber verstand und wagte, daraus abgeleitet, Vorhersagen, von denen nicht wenige zutrafen. Nicht zuletzt die wichtigste: der Clash zwischen Okzident und Orient. Freilich kann man den schon – ganz ohne Islam – auf die frühhistorischen indoeuropäischen sowie anderen Völkerwanderungen oder „nur“ auf den Clash und Crash zwischen dem alten Hellas und Persien zurückdatieren. Wie gesagt: lückenhaft und manchmal so etwas wie die Entdeckung Amerikas im späten 20. Jahrhundert. Immerhin, Huntington entdeckte, nein, er sah – und (be)schrieb. Und das früher und klarer als andere.

Huntington sah auch den Zerfall der Vielvölkerstaaten voraus. Der war erkennbar. Siehe Jugoslawien und Sowjetunion. Aber er verstand beides zu Recht nicht als Einzelfälle, sondern als Teil einer globalen Entwicklung, eines Prozesses.

Warum ein bisschen (kleinkarierter!) Neid? Weil ich das globale (Wieder-)Erstarken der Religionen (Islam, Judentum, Hinduismus und, instruiert durch Jürgen Domes 1932-2001, Konfuzianismus) bereits seit 1977 fachlich sowie massenmedial publizierend und referierend vorhergesagt hatte. Auch die Sprengkraft des Islamismus in Westeuropa. Ich kam vor Huntington, und er kam früher als die meisten. Woraus wir dies lernen: 1) Wer zu früh kommt, den straft das Leben auch. 2) Deutschland war (ist?) in der Welt-Wahrnehmung wissenschaftliche, wissenschaftspolitische und mediale Provinz. 3) Man kann Kollegenneid leicht abbauen und sich über den Erfolg des anderen aufrichtig freuen.