Misstrauen statt Konsens – davon ist das multilaterale Handelssystem unter dem Dach der Welthandelsorganisation (WTO) derzeit geprägt. Erstmals in der Geschichte der 1995 gegründeten WTO konnten sich die Mitglieder am Ende des Ministertreffens in Nairobi im Dezember 2015 auf keine gemeinsame Position im Abschlussdokument einigen. Während sich die USA bereits dafür aussprachen, die im Jahr 2001 begonnene Doha-Entwicklungsrunde nun endlich zu Grabe zu tragen, halten vor allem Entwicklungsländer an ihr fest. Die Auseinandersetzung hat auch hohe symbolische Wirkung. In der Doha-Runde geht es um Bereiche, in denen Entwicklungsländer Regeländerungen zugunsten ihrer Volkswirtschaften, vor allem bei der Agrarpolitik, verlangen. Sie erwarten hier Zugeständnisse der „alten“ wirtschaftlich starken Länder und Regionen, insbesondere der USA und der Europäischen Union. Erst dann sei man bereit, Verhandlungen über „neue“ Themen wie e-Handel, Investitionen und anderes aufzunehmen. Das Problem dabei ist: Zu den Entwicklungsländern gehören auch Handelsriesen wie China und Indien; ihnen dieselben Zugeständnisse zu machen wie Togo oder Burundi, dafür gibt es seitens der alten Handelsriesen wiederum wenig Verständnis. Dieses Dilemma dient vielen als Vorwand, bilaterale Handelsabkommen voranzutreiben. Hier lassen sich eigene Regeln setzen, ohne den quälenden Mühlen des Multilateralismus ausgesetzt zu sein.

 

Wofür die WTO gut ist

Die WTO ist nach wie vor das maßgebliche Forum zur multilateralen Aushandlung weltweiter Handelsregeln. Und sie sollte es bleiben. Die Totengräberstimmung aufgrund der stockenden Doha-Verhandlungen übersieht das anerkannte System, das den globalen Handel unter dem Dach der WTO strukturiert. Die Mitgliedsländer finden hier ein Gerüst, das Transparenz und Orientierung verleiht und einen effektiven Lösungsrahmen für Handelsstreitigkeiten bietet.

Im Jahr 2006 führte die WTO den sogenannten Transparenzmechanismus ein. Dieser hält die Mitgliedstaaten dazu an, bereits bei der Aufnahme von Verhandlungen über neue Handelsabkommen das WTO-Sekretariat zu informieren. In einer Datenbank werden diese Informationen jedermann zugänglich gemacht. Allein die EU verhandelt offiziell neben TTIP derzeit 13 bilaterale Handelsverträge. Hinzu kommt noch das sektorspezifische plurilaterale Abkommen im Dienstleistungsbereich, TiSA. All diese Verhandlungen werden außerhalb der WTO geführt – und dennoch gewährleistet der Transparenzmechanismus zumindest ein Mindestmaß an Information.

Ein zweites, in der Öffentlichkeit kaum präsentes, aber äußerst effektives Instrument der WTO-Gerichtsbarkeit ist das Streitbeilegungsverfahren. Zwischenstaatliche Handelskonflikte können hier vorgebracht und in geordneten Verfahren nach klaren Regeln „ausgefochten“ werden. Alle derzeit 162 WTO-Mitgliedstaaten erkennen dieses System an, achten es und befolgen die jeweiligen Urteile: die Umsetzungsrate liegt bei über 90 Prozent. Im April 2016 wurde das 507. offizielle Verfahren seit der Gründung der WTO eingeleitet. Viele weitere Streitigkeiten konnten schon zuvor beigelegt werden. Das Streitbeilegungsverfahren hat damit erheblich zur Stabilität weltweiter Handelsbeziehungen beigetragen.  

 

Die multilaterale Lücke: Investitionsabkommen

Wo sich für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen im multilateralen Konsens ein stabiles und erfolgreiches System etabliert hat, da klafft im Bereich der Investitionen (insbesondere ausländischer Direktinvestitionen) weiter eine riesige Lücke. Eine Aufnahme von Verhandlungen über Investitionen im Rahmen der WTO wurde bislang vor allem von den Entwicklungsländern abgelehnt. Dafür gab es Gründe, doch verschieben sich gerade die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft sowie damit einhergehend auch politische Prämissen, so dass hier womöglich neue Spielräume entstehen.

Über 3000 bilaterale Investitionsabkommen (BITs) gibt es inzwischen. Für Konflikte rund um diese BITs gibt es keine Anlaufstelle bei der WTO. Ihr fehlt das Mandat. Es gibt auch sonst keine Organisation auf internationaler Ebene, die regulatorisch im Bereich der Investitionsabkommen zuständig ist. BITs räumen ausländischen Investoren das Recht ein, Staaten zu verklagen, wenn gegen – oft sehr weit und schwammig verfasste – Vereinbarungen verstoßen wird. Diese Investor-Staat-Streitbeilegung, die im Rahmen der TTIP-Diskussionen unter der englischen Abkürzung ISDS (Investor-state dispute settlement) auch der breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, behandelt lediglich die Rechte von Investoren, während mögliche Pflichten außen vor bleiben. Die meisten Staaten verstehen durchaus, dass Investoren Schutz bedürfen, etwa vor willkürlichen Enteignungen. Bei dem in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegenen „Klageaufkommen“ privater Investoren gegenüber gewählten Regierungen ging es aber fast nie um willkürliche Enteignungen, sondern um politische Entscheidungen. Investoren sahen ihre potenziellen künftigen Gewinne gefährdet, weil sie in BITs die regulatorischen Rahmenbedingungen oft auf Jahrzehnte unverändert sehen wollen. Die Klagen zielen somit auf die politische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit von Regierungen ab. In der Konsequenz haben inzwischen mehrere Länder ihre BITs wieder aufgekündigt, unter anderem Ecuador, Südafrika und Indonesien. Brasilien hat nie eines unterzeichnet.

Die Reform der bilateralen Investitionsabkommen ist notwendig und der Aufbau eines internationalen Regimes seit langem überfällig. Auf Druck der SPD hat die EU eine Modifikation des ISDS vorgeschlagen, die aber auf halbem Wege stehenbleibt. Investoren müssen neben der Gewährung von Rechten auch verbindliche und einklagbare Pflichten vor allem im Bereich Sozialstandards und Umweltschutz auferlegt bekommen dürfen. Und diese dürfen vom Gesetzgeber auch verändert werden. Die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet, ein multilaterales System zu etablieren, das die Schieflage des ISDS beheben würde. Das „Investment Policy Framework for Sustainable Development“ orientiert sich dabei vor allem an der Maßgabe nachhaltiger Investitionen; ein Ansatz, der bei Industrie- wie Entwicklungsländern auf immer mehr Zustimmung stößt. Die Bereitschaft, hier an einem multilateralen Rahmenwerk zu arbeiten, dürfte sich erhöht haben.

 

Bloß kein Sanktionsmechanismus: Arbeitsstandards

Was bislang für den Bereich der Investitionen gilt, trifft umso mehr auf die Frage nach Arbeits- und Sozialstandards zu: Der WTO fehlt das Mandat, und Diskussionen darüber sind tabu. Das zu bohrende Brett könnte wohl dicker nicht sein. Denn Versuche, Handelsregeln und Arbeitsstandards miteinander zu verknüpfen, sind immer wieder gescheitert. Und dies am Widerstand der Entwicklungsländer, die Handelsnachteile befürchten, wenn beispielsweise geringe Lohnniveaus oder mangelhafte Schutzvorkehrungen am Arbeitsplatz als wettbewerbsverzerrende Bedingungen handelspolitisch sanktioniert werden könnten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist jene Organisation, die sich für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weltweit stark macht. Anders als die WTO mit ihrem Streitbeilegungsverfahren verfügt die ILO nur über die Macht des erhobenen Zeigefingers. Zur Umsetzung oder Bestrafung bei Verletzungen der Standards oder Regeln fehlen ihr entsprechende Mechanismen. Und obwohl sich die Mitgliedschaft in beiden Organisationen größtenteils deckt, mangelt es offenbar auch am Willen zu mehr Kohärenz. Schaut man sich den letzten WTO-Bericht zur Handelspolitik Bangladeschs an, der wenige Monate vor der <link kommentar artikel primark-kik-und-co-1396>Rana-Plaza-Katastrophe herauskam, werden dort die billigen Arbeitskräfte als komparativer Vorteil hervorgehoben. ILO-Sachverständige hatten schon jahrelang unter anderem eben diese zu niedrigen Löhne angeprangert.

Ist es also realistisch, dass Arbeits- und Sozialstandards in naher Zukunft Eingang finden in den Katalog multilateraler Handelsregeln? Wahrscheinlich nicht. Aber es gibt Schritte, die unternommen werden sollten, um die Möglichkeiten hierfür zu verbessern. Ein Abschluss der Doha-Entwicklungsrunde würde verlorenes Vertrauen zurückbringen. Staaten sollten institutionenübergreifend eine bessere interne Koordinierung vorantreiben. Juristischen Experten der ILO und WTO sollte erlaubt werden, gemeinsam an Möglichkeiten einer engeren Verzahnung ihrer jeweiligen Mechanismen zu arbeiten. Zudem dürften sich Fortschritte in der Debatte um die Pflichten von (ausländischen) Investoren positiv auswirken auf den Willen, die Einhaltung grundlegender Standards auch heimischen Produzenten abzuverlangen. In diesem Bereich leistet auch die oft nicht beachtete, neben WTO und UNCTAD dritte für Handel zuständige internationale Organisation, das Internationale Handelszentrum ITC, wertvolle Arbeit. Das ITC zeigt auf und berät Unternehmen in Entwicklungsländern, welches Potenzial im Handel mit nachhaltig produzierten Produkten liegt.

Misstrauen statt Konsens? Es wird Zeit, den Blick wieder auf Konsens zu richten. Ja, der multilaterale Weg ist mühsam. Aber er ist der einzig erfolgversprechende, um ein von allen akzeptiertes Handelssystem weiterzuentwickeln. Den Rahmen dafür gibt es bereits. Er sollte gestärkt und ausgebaut werden, anstatt durch bilaterale Abkommen eine weitere Fragmentierung gemeinsamer Standards zu riskieren. Dazu braucht es vor allem ein klares politisches Bekenntnis zur multilateralen Handelspolitik.