Eigentlich ist es eine Sensation: Peter Obi, der Präsidentschaftskandidat der kleinen Labour Party (LP), die vor vier Jahren gerade mal 5000 Stimmen in ganz Nigeria holte, gewinnt in Lagos. Gegen Bola Ahmed Tinubu. Den ehemaligen Gouverneur, den „Paten“ von Lagos, der für die Regierungspartei All-progressives Congress (APC) auf dem Präsidententicket steht. Eigentlich hat Tinubu Lagos seit seiner Zeit als Gouverneur 1999 fest im Griff, setzte Nachfolger ein und protegierte Vizepräsidenten. Aber diesmal ist er selbst dran. Am Wahltag ist das deutlich zu sehen: In vielen Ecken der Megacity hört man, dass Wähler und Wählerinnen unter Druck gesetzt werden, APC zu wählen. Andernorts werden Wahllokale überfallen und Wahlunterlagen vernichtet. Dennoch steht da am Ende: Peter Obi gewinnt in Lagos. Mit 584 454 zu 572 606 Stimmen. Es ist eine Sensation – eigentlich.

In Nigeria – wo tiefe Krisen und große Hoffnungen herrschen – hatte in den vergangenen acht Jahren die APC-Regierung unter Präsident Buhari, der verfassungsgemäß nicht mehr antrat, praktisch ihr gesamtes politisches Kapital verspielt: Trotz erheblicher Erfolge im Kampf gegen Boko Haram hat sich die Sicherheitslage in Nigeria stetig verschlechtert, Entführungen sind im ganzen Land an der Tagesordnung, separatistische Bewegungen im Norden und Süden bedrohen die nationale Einheit und der Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehhirten kostet jedes Jahr mehrere tausend Menschenleben. Auch der Kampf gegen die Korruption stockte und die regelmäßige Spritknappheit – bei stetigen Milliardenausgaben für die Subvention importierten Benzins – macht den Menschen in der größten Volkswirtschaft Afrikas zu schaffen. Zuletzt sorgte eine fehlgeschlagene Währungsreform für nie dagewesene Bargeldknappheit und brachte die informell geprägte Wirtschaft zum Erliegen.

Entgegen dem Trend in vielen Nachbarstaaten glaubt die Mehrheit der Nigerianerinnen tatsächlich daran, dass Änderungen auf demokratischem Weg möglich sind.

Dennoch, oder gerade deswegen setzten viele der über 93 Milllionen Wahlberechtigten ihre Hoffnung in die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 25. Februar 2023. Entgegen dem Trend in vielen Nachbarstaaten glaubt die Mehrheit der Nigerianerinnen tatsächlich daran, dass Änderungen auf demokratischem Weg möglich sind. Über elf Millionen Erstwähler wurden registriert, über 39 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler sind unter 35 Jahre alt. Neben Tinubu trat wie vor vier Jahren der mittlerweile 76-jährige Atiku Abubakar für die von 1999 bis 2015 regierende Peoples Democratic Party (PDP) an – es war sein sechster Versuch, Präsident des Landes zu werden. Bei der Wahl 2019 ging Atiku gemeinsam mit Peter Obi als Vize ins Rennen und verlor gegen Buhari. Als sich ein Jahr vor der Wahl abzeichnete, dass die PDP auch diesmal Atiku das Vertrauen schenken würde, entschied sich Obi zum Wechsel zur Labour Party.

Diese Partei, die einst mit Hilfe der nigerianischen Gewerkschaftsbewegung gegründet wurde, lag seit vielen Jahren brach. Nur wenige überzeugte Gewerkschafter arbeiteten im Hintergrund am Wiederaufbau der Partei. In den zehn Monaten zwischen seinem Wechsel zu Labour und den Wahlen geschah nun in Nigeria nie Dagewesenes: Der seit seiner Zeit als Gouverneur von Anambra – von 2006 bis 2014 – als sparsam und gewissenhaft geltende Obi galt spätestens seit seinen positiven Aussagen zu den EndSARS-Protesten 2020 als „Held der Jugend“, seine Anhängerinnen mobilisierten landesweit vor allem über die sozialen Netzwerke. Im ganzen Land riefen diese „Obidients“ zu Massenkundgebungen auf. Große Teile der Zivilgesellschaft standen ebenfalls hinter seiner Bewerbung. Die Kandidatur Obis wurde in vielerlei Hinsicht zur Projektionsfläche für die Hoffnung auf ein neues Nigeria, dass seiner Jugend eine Stimme gibt und wirtschaftlichen Aufstieg ermöglicht. Trotz seiner eher wirtschaftsliberalen Ansichten gelang es ihm auch, die Unterstützung der großen Gewerkschaftsverbände NLC und TUC zu erlangen. Der NLC empfahl seinen über vier Millionen Mitgliedern erstmals seit 1992 offiziell einen Kandidaten zur Wahl.

Am Mittwoch, dem 1. März 2023, machte es die nigerianische Wahlbehörde INEC dennoch amtlich: Der 70-jährige Tinubu, ehemaliger Gouverneur und „Pate“ von Lagos hat es doch noch geschafft: Mit gerade einmal 36,6 Prozent der abgegebenen Stimmen wird er der neue Präsident Nigerias. Eine Klausel in der Verfassung, wonach die einfache Mehrheit im ersten Wahlgang genügt, solange man in zwei Dritteln der Bundesstaaten mindestens 25 Prozent der Stimmen erhält, macht eine Stichwahl unnötig. Tinubu, mit allen Wassern gewaschen, gilt vielen als Vertreter der alten Eliten: Obschon er sich gerne als self-made-man aus Lagos präsentiert, findet er kaum Anklang bei der Jugend des Landes, repräsentiert er doch für viele alles, was schief läuft in Nigeria: Unsicherheit, Korruption, Einschüchterung und Vetternwirtschaft. Aufgrund zahlreicher Pannen und Unzulänglichkeiten bei Wahl und Auszählung weigert sich die Opposition bislang, das Ergebnis anzuerkennen und fordert stattdessen eine Wahlwiederholung. Ob, und wenn ja, wie sich die im neuen Electoral Act von 2022 vorgesehenen Election Tribunals dieser Einsprüche annehmen, bleibt abzuwarten.

Die Ergebnisse der Labour Party unter Peter Obi kommen einem politischen Hurricane gleich.

Auch wenn die Zahlen insofern noch mit Vorsicht zu genießen sind: Die Ergebnisse der Labour Party unter Peter Obi kommen einem politischen Hurricane gleich: Eine Partei, die 2019 noch gerade einmal 0,02 Prozent der Stimmen erringen konnte, erhielt nun 25,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, über sechs Millionen insgesamt. Neben dem Sieg in Lagos errang die LP in elf von 36 Staaten die meisten Stimmen, in der Hauptstadt Abuja gelang ein Erdrutschsieg mit über 60 Prozent der Stimmen. Insgesamt errang Obi den dritten Rang, hinter Tinubu und Atiku, der 29,1 Prozent für die PDP einfuhr.

Was die Zukunft angeht, lassen sich bereits jetzt zwei gegenläufige Trends erkennen: Der Wunsch nach Wandel in Nigeria ist angesichts multipler Krisen mehr als deutlich geworden. Peter Obi und auch Rubia Kwankwasso – der für die kleine New Nigeria Peoples Party (NNPP) in seinem Heimatstaat Kano gewann und insgesamt über eine Million Stimmen sammelte – haben das Zweiparteiensystem herausgefordert und erhebliche Erfolge erzielt. Besonders in den kosmopolitisch geprägten Metropolen Lagos und Abuja erzielte Labour überragende Erfolge, welche wohl vor allem auf die starke Mobilisierung der Jugend zurückzuführen sind. Auffällig ist genau dieser Erfolg in den Metropolen, denn hier wiegen inhaltliche Argumente mehr als ethnische Zugehörigkeit. Über sechs Millionen Stimmen landesweit sind mehr als ein Achtungserfolg für das junge Bündnis aus Jugend, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften.

Der Wunsch nach Wandel in Nigeria ist angesichts multipler Krisen mehr als deutlich geworden.

Andererseits lässt sich die vorläufige Wahlkarte auch anders interpretieren: Einen nicht unerheblichen Teil dieser sechs Millionen Stimmen erhielt Peter Obi – als Angehöriger der Ethnie der Igbo und Katholik – im Südosten Nigerias, der Heimat der meisten Igbo. Auch die anderen drei Kandidaten, allesamt Muslime, errangen ihre überzeugendsten Siege in denjenigen Regionen, in denen ihre jeweilige Ethnie die Mehrheit stellt. Während Obi seinen Heimatstaat Anambra mit sage und schreibe 95 Prozent der Stimmen gewinnen konnte, erhielt er in nördlichen, ländlich geprägten Bundesstaaten wie Katsina, Sokoto oder Zamfara weniger als ein Prozent der Stimmen. Selbst in Millionenstädten wie Ibadan oder Kano konnte Labour nicht annähernd die Erfolge von Abuja oder Lagos replizieren. Auch wenn die beiden großen Parteien APC und PDP ausgeglichenere Ergebnisse erhalten haben, besteht für die Zukunft die große Gefahr, dass politische Akteure die vielfachen sozialen und ökonomischen Marginalisierungserfahrungen dazu nutzen könnten, die Spaltung des Landes entlang ethnischer oder religiöser Linien voranzutreiben. Dazu kommt, dass auch die noch ausstehenden Ergebnisse der Parlamentswahlen erstmals seit 1999 keine klare Mehrheit in den beiden Kammern hervorbringen könnten. Und trotz der Hoffnung und Aufbruchstimmung vor den Wahlen: Die Wahlbeteiligung wird am Ende wohl noch unter den 34,75 Prozent von 2019 liegen.

Für die Labour Party wird vor diesem Hintergrund in den nächsten vier Jahren entscheidend sein, ob sie in der Lage sein wird, sich tatsächlich als ernst zu nehmende Plattform für den von vielen herbeigesehnten Wandel zu etablieren. Nicht nur auf der Straße und im Internet, sondern auch in den Parlamenten, wo die LP wohl viele Sitze erringen wird. Noch ist nicht klar ob, und wenn ja, in welcher Rolle Obi der Partei treu bleiben wird. Die Wahlen 2023 haben schon jetzt gezeigt, dass ein Bündnis aus Zivilgesellschaft und Gewerkschaften in der Lage ist, die Verhältnisse in Nigeria herauszufordern. Es bleibt abzuwarten, ob dies auch jenseits der persönlichen Popularität einzelner Kandidaten und ethnisch-religiöser Bruchlinien verstetigt werden kann. Und nicht zuletzt: Wird die eigene Bewegung die 25,4 Prozent als Sieg begreifen, der für die Zukunft motiviert, oder als Niederlage, herbeigeführt durch Wahlfälschung und Einschüchterung? Nicht zuletzt das Abschneiden der Labour Party bei den anstehenden Gouverneurs- und Parlamentswahlen in 28 bzw. 36 Bundesstaaten am 11. März könnte darüber Aufschluss geben.