Wie stark die Wahrnehmung des „EU Summit on Migration“ am 11. und 12. November im maltesischen Valletta in der deutschen Öffentlichkeit unter dem Einfluss der aktuellen „Flüchtlingskrise“ steht, zeigt beispielhaft seine Übersetzung in einer Meldung des Deutschen Bundestages als „Valletta-Gipfel zur Migrationskontrolle“. Es ist allemal verständlich, dass die deutsche und auch die europäische Politik derzeit im Krisenmodus operiert angesichts der unmittelbaren Herausforderungen durch die vielen Schutzsuchenden vor allem aus Syrien, Irak und Afghanistan, wie auch aus Eritrea, Somalia und Nigeria. Und angesichts des Risses, der in diesem Zusammenhang quer durch die europäische Wertegemeinschaft hindurch sichtbar wird, und ihr Fundament erschüttert.

Diese Perspektive ist jedoch eine genuin europäische und läuft Gefahr, im Hinblick auf den Valletta-Gipfel gemeinsame Interessen mit der Afrikanischen Union und den miteingeladenen afrikanischen Staaten vorauszusetzen, wo schlicht keine existieren: Während die EU bei dieser Gelegenheit in erster Linie die Kooperation in Sachen Migrationskontrolle stärken möchte, wundert man sich in vielen afrikanischen Ländern ein wenig angesichts der großen Aufregung über die „europäische Flüchtlingskrise“. Zum einen gelten aus afrikanischer Sicht die westlichen Interventionen im Irak und in Libyen, aber auch der zögerliche Umgang mit dem Krieg in Syrien als zentrale Auslöser der derzeitigen Flüchtlingsströme, weshalb auch ihre Bewältigung eindeutig in der Verantwortung des Westens gesehen wird. Zum anderen erscheinen die Flüchtlingszahlen in Europa aus afrikanischer Sicht geradezu übersichtlich: während der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung in allen europäischen Hauptaufnahmeländer Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Niederlande (außer Schweden) laut Angaben des UNHCR für 2015 unter 0,5 Prozent liegt, beläuft sich der Anteil von Flüchtlingen in den wesentlichen afrikanischen Aufnahmeländern Kenia, Uganda und Kamerun auf über ein Prozent, im Süd-Sudan auf über zwei Prozent und im Tschad sogar auf über vier Prozent. Zudem besteht in vielen afrikanischen Staaten durch die hohen Wachstumsraten der Bevölkerung ohnehin ein besonderer Anpassungsdruck auf die Gesellschaften.

Auch die strikte Unterscheidung des europäischen Asylrechts zwischen anerkannten Gründen der Flucht und den nicht akzeptierten Motiven von sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ ist aus afrikanischer Perspektive nicht gleichermaßen nachvollziehbar.

Auch die strikte Unterscheidung des europäischen Asylrechts zwischen anerkannten Gründen der Flucht und den nicht akzeptierten Motiven von sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ ist aus afrikanischer Perspektive nicht gleichermaßen nachvollziehbar. Nicht zuletzt, weil Armut und Unterentwicklung in den verschiedenen Regionen Afrikas häufig die Ursache von Konflikten und Gewalt sind. Konflikt und Gewalt wiederum  haben Armut und Unterentwicklung zur Folge und sind eng verknüpft mit „bad governance“, Korruption und schwacher Staatlichkeit – ebenfalls Hauptursachen für Flucht und Migration.  Nicht wenige Afrikanerinnen und Afrikaner sehen die zentrale Ursache dieser strukturellen Unterentwicklung dabei in den bis in die Gegenwart hinein reichenden Folgen der Kolonialisierung beziehungsweise einer Interessengeleiteten Politik der EU mit EU-Marktzugangshürden und Fischtrawlern vor den westafrikanischen Küsten, also in kollektiven Problemkonstellationen, auf die das Asylrecht lediglich individuelle Antworten gibt.

Vor diesem Hintergrund wird plausibel, dass der Valletta-Gipfel von afrikanischer Seite mit deutlich weniger Elan betrieben wird als etwa von Seiten der Bundesregierung, die in dem „Gipfel zur Migrationskontrolle“ auch im Hinblick auf eine geteilte Verantwortung Europas für die syrischen Flüchtlinge und Einbeziehung afrikanischer Transitstaaten in die europäische Grenzsicherung hohe Erwartungen setzt. Aus Sicht der Afrikanischen Union hingegen steht der Valletta-Gipfel in der Kontinuität des vielbeschworenen „EU-Afrika Dialogs zu Migration und Mobilität“, dessen letzter Gipfel im April 2014 unter der hehren und deutlich anders klingenden Überschrift „Investing in People, Prosperity and Peace“ stand. Im Rahmen der „Joint African European Strategy“ wurden in diesem Kontext die fünf Bereiche Frieden und Sicherheit; Demokratie, „good governance“ und Menschenrechte; menschliche Entwicklung; nachhaltiges und inklusives Wachstum sowie globale Herausforderungen wie den Klimawandel als Prioritäten der EU und Afrika identifiziert. Damit wurden bereits potenzielle Lösungsansätze in den wesentlichen Bereichen der eigentlichen Fluchtursachen aufgezeigt, deren Implementierung durch „einen vertieften politischen Dialog und intensivere Zusammenarbeit“ ihrem Anspruch leider deutlich hinterher hinkt, wie von afrikanischer Seite bereits wiederholt kritisch angemerkt wurde.

Zu glauben, dass diejenigen, deren legale Einreisemöglichkeiten nach Europa offensichtlich gering sind, nach einem „Beratungsgespräch“ freiwillig umkehren würden in ihr Heimatland, ist jedoch schlichtweg naiv.

Hingegen scheint der vor Kurzem angekündigte „EU-Treuhandfonds für Stabilität und zur Bewältigung der grundlegenden Ursachen illegaler Migration in Afrika“ den Fokus auf das Management von Migration, aus afrikanischer Sicht also auf die Mobilitäts- und Migrationsverhinderung zu legen und mit seinem Schwerpunkt in der europäischen Grenzsicherung allenfalls kurzfristige Auslöser von Fluchtbewegungen mitzudenken, nicht jedoch ihre strukturellen Ursachen. So heißt die für Afrika geplante Variante der #Aufnahme-Einrichtungen bislang „Multi-Funktions-Zentrum“ und ist entlang der wichtigsten Transitrouten durch die Sahara, beispielsweise im nordnigrischen Agadez, geplant. Wenn diese dazu führen, dass Flüchtlinge und Migrant_innen sich den Rest ihres gefährlichen Wegs durch die Sahara oder übers Mittelmeer sparen können, wäre das zweifelsohne ein enormer humanitärer Fortschritt. Zu glauben, dass diejenigen, deren legale Einreisemöglichkeiten nach Europa offensichtlich gering sind, nach einem „Beratungsgespräch“ freiwillig umkehren würden in ihr Heimatland, ist jedoch schlichtweg naiv. Oft investieren ganze Großfamilien oder Dorfgemeinschaften all ihr Erspartes in die Kosten einer Reise der auserkorenen „Jungen und Starken“ nach Europa – in der Hoffnung, durch die Rücküberweisungen als „return on investment“ ihre Lebenssituationen im Herkunftsland zu verbessern. Interviews entlang der etablierten Migrationsrouten in Afrika belegen, dass nicht die fehlende Information oder Unterschätzung der Gefahren auf dem Weg nach Europa entscheidend sind für den Aufbruch, sondern das sorgfältige Abwägen von Kosten und erhofftem Nutzen auf lange Sicht. „Irreguläre Migration“ wird von jedem einzelnem von ihnen insofern billigend in Kauf genommen, als dies schlichtweg die einzige Möglichkeit ist, in Europa einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Und nicht selten führen die starren Regelungen der EU auch dazu, dass aus der oftmals ursprünglich temporär geplanten Migration ein prekärer Dauerzustand wird, da jede Reise zurück in die Heimat zwangsläufig eine dauerhafte Einreisesperre in den Schengen-Raum, und damit das Versiegen einer überlebenswichtigen Geldquelle für eine beträchtliche Anzahl von Menschen zur Folge hätte. Die Weltbank beziffert die Summe der jährlichen Rücküberweisungen von Migrant_innen mit 436 Milliarden US-Dollar in 2014, was etwas mehr als dem Dreifachen aller weltweit geleisteten Entwicklungsleistungen (ODA) in Höhe von 134 Milliarden US-Dollar entspricht. Die EU sollte die Bereitschaft unterschiedlicher afrikanischer Transitstaaten, Migration tatsächlich effektiv zu begrenzen, insofern keinesfalls überschätzen.

Die „Festung Europa“ wird sich nie so vollständig abschotten können, dass die Verzweiflung sich nicht an anderer Stelle einen Weg bahnen würde.

Aber auch die EU sollte sich bemühen, ihren Blick stärker auf die positiven Effekte von Migration für Entwicklung und Stabilität zu richten: Studien beispielsweise über die Situation haitianischer Arbeitsmigranten in den USA belegen eindrücklich, in welchem Ausmaß die finanziellen Rückübertragungen dazu beitragen, dass andere Familienmitglieder eben nicht auch noch migrieren müssen, sondern vor Ort ein Auskommen sichern und damit zur lokalen Entwicklung beitragen - die legale Migration einzelner somit zur Verminderung illegaler Migration beiträgt. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt die plötzliche Aufstockung der Mittel für Grenzsicherung vor den Toren Europas als lediglich ein panischer Reflex, der positive Effekte von zirkulärer Migration unterbindet und im schlimmsten Fall, etwa durch die Aufwertung und Ausrüstung von autoritären Regimen wie beispielsweise Eritrea, Gefahr läuft, hinter bereits erreichten Grundlagen und gemeinsamen Standards der „Joint African European Strategy“ zur nachhaltigen Bekämpfung der zugrundeliegenden Fluchtursachen zurückzufallen. Denn selbstverständlich erfordert die nachhaltige Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Migration auch umfangreiche und glaubwürdige Anstrengungen der afrikanischen Regierungen gegen eine Aushöhlung der allgemeinen Menschenrechte durch Krieg und Konflikte, autoritäre Regime und „bad governance“, Armut und Unterentwicklung. Dies wird mittlerweile auch von der Afrikanische Union so beim Namen genannt. Die verbrecherischen Schleuserbanden hingegen, deren dreckiges Geschäft der Erosion staatlicher Gewaltmonopole und dem Vormarsch organisierter Kriminalität weiter Vorschub leistet, sind nur Symptome der Nachfrage, nicht ihre Ursache, und werden nur an anderer Stelle neu entstehen, solange die Nachfrage besteht. Die Verlagerung der afrikanischen Migrationsströme weg von den Kanaren und den spanischen Enklaven gen Osten, in Reaktion auf den Ausbau von spanischen Grenzanlagen und die Implosion des libyschen Staates, machen eines deutlich: Die „Festung Europa“ wird sich nie so vollständig abschotten können, dass die Verzweiflung sich nicht an anderer Stelle einen Weg bahnen würde. Ein beredtes Beispiel dafür ist das Eintreffen erster syrischer Flüchtlingen über die „Polarroute“ via Russland und Norwegen.

Mittelfristig lässt sich irreguläre Migration insofern nur substanziell vermindern, wenn zusätzliche reguläre Möglichkeiten zur Migration geschaffen werden. An diesen sollte Europa und insbesondere Deutschland aufgrund schrumpfender Bevölkerung und fehlender Arbeitskräfte ein strategisches Interesse haben. Der Valletta-Gipfel stellt in diesem Zusammenhang zweifelsohne eine Chance dar, den gemeinsamen Herausforderungen auch gemeinsam zu begegnen. Diese Chance hängt allerdings von der tatsächlichen Bereitschaft der EU ab, in der Kontinuität des vielbeschworen afrikanisch-europäischen Dialogs ernsthaft auf die afrikanischen Anliegen einzugehen. Bislang wird der Valletta-Gipfel von der afrikanischen Seite nur als ein europäischer Gipfel zu europäischen Problemen wahrgenommen, bei dem die Afrikaner bestenfalls als freiwillige, notfalls auch als Erfüllungsgehilfen wider Willen bei entsprechendem finanziellen Nachdruck mit geladen sind. Das macht die EU letztlich auch erpressbar.

Eine vorausschauende Politik hingegen müsste stärker die gemeinsamen Interessen in den Blick nehmen und Migration menschenrechts- und entwicklungspolitisch ausgestalten, in dem sie legale Migrationsmöglichkeiten schafft, die Menschenrechte der Flüchtlinge und Binnenmigrant_innen schützt und Transitländer stabilisieren hilft. Kurz gesagt: eine Politik, die sich auf die der europäischen Union zu Grunde liegenden Werte rückbesinnt – und zwar gerade im aktuellen Krisenmodus.