Indien enthielt sich bei der Resolution zur Verurteilung Russlands im VN-Sicherheitsrat und auch in der Generalversammlung. Mit dieser ambivalenten Haltung betreibt die indische Regierung einen komplizierten außenpolitischen Balanceakt. Viele empfanden Indiens Enthaltung und die allgemein gehaltenen Floskeln über einen notwendigen Waffenstillstand, die Forderung nach Dialog und den Hinweis auf legitime Interessen auf allen Seiten als herbe Enttäuschung.

Was bewegt die indische Regierung, trotz der verbrecherischen Aggression Russlands nicht mit der Mehrheit der internationalen Völkergemeinschaft Stellung zu beziehen? Noch im Dezember 2021 rollte der Kreml für Indiens Premierminister Narendra Modi in Moskau den roten Teppich aus. Die beiden Präsidenten unterzeichneten zahlreiche Handelsverträge, darunter Abkommen über eine zehnjährige Kooperation im Rüstungsbereich.

Was bewegt die indische Regierung, trotz der verbrecherischen Aggression Russlands nicht mit der Mehrheit der internationalen Völkergemeinschaft Stellung zu beziehen?

Indien pflegt seit Jahrzehnten eine enge Beziehung zu Russland. Deren Ursprung reicht zurück bis in die Zeit von Premierminister Nehru in den 1950er Jahren. Damals übernahm das blockfreie Indien auf der Suche nach einem sogenannten „dritten Weg“, Elemente der sowjetischen Planwirtschaft. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit trug dazu bei, ein enges Netz zwischen den beiden Staaten zu knüpfen. Der Handel nahm zu. Zwar gab Indien die Blockfreiheit und Unabhängigkeit in seiner Außenpolitik formal nie auf, aber das Verhältnis zwischen Indien und der Sowjetunion war trotz bestehender ideologischer Differenzen eng. Diese traditionelle Ausrichtung hat sich mit Russland fortgesetzt.

Und Indien importierte nicht nur zivile Technologie. Die UdSSR war und Russland ist bis heute der größte Waffenlieferant Indiens. Zu 60 Prozent stammen Indiens Waffenimporte aus Russland. Von hochmodernen Kampfflugzeugen bis zu Hubschraubern, von gepanzerten Mannschaftswagen hin zu Kampfpanzern, von Fregatten bis zu einem Flugzeugträger verkauft die russische Rüstungsindustrie alles, was sie zu bieten hat. Vor Kurzem bestätigte die indische Regierung, dass die Lieferung des russischen S-400 Luftabwehr-Raketensystems begonnen habe. Fast ein Drittel aller russischen Rüstungsexporte gingen im letzten Jahrzehnt an die indischen Streitkräfte, berichtet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI.

Indiens Beziehungen zu den USA waren seit jeher kompliziert, da letztere Indiens Feind Pakistan militärisch unterstützten. Der Bangladesch-Krieg 1971, Folge einer internen Krise in Pakistan, verschlechterte die Beziehungen zwischen Indien und den USA dramatisch. Als Reaktion unterzeichneten Neu-Delhi und Moskau den indisch-sowjetischen Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit. Dieser Vertrag, knapp unterhalb eines formellen Militärbündnisses, war de facto eine klare Abkehr von der Politik der Blockfreiheit, die mehr als zwei Jahrzehnte indischer Außenpolitik bestimmt hatte.

Nun herrscht in Neu-Delhi große Nervosität über die proklamierte russisch-chinesische Freundschaft.

Der sogenannte „nuclear deal“ von 2005 zwischen den USA und Indien ermöglichte allerdings eine deutliche Annäherung – die vor allem Peking bis heute beunruhigt. Dieses Atomabkommen beendete ein drei Jahrzehnte währendes Atomhandelsmoratorium. Ab 2005 erhielt Indien Zugang zu nichtmilitärischer Nukleartechnologie. Die USA tolerierten stillschweigend das zielstrebig von Indien voran getriebene Atomwaffenprogramm. Die US-Regierung unter Präsident Bush Jr. betrachtete Indien als aufstrebende Macht und als Gegengewicht zu China in Asien. Indien wiederum ist daran interessiert, Verbündete gegen China zu haben.

Nun herrscht in Neu-Delhi große Nervosität über die proklamierte russisch-chinesische Freundschaft. Zwischen Indien und China bestehen nach wie vor ungelöste Territorialkonflikte. Diese führten nicht nur 1962 zu einem Krieg, sondern werden immer wieder durch militärische Scharmützel befeuert.

Seit Mitte der 2000er Jahre versucht die indische Regierung, die im Rüstungsbereich und bei Rohstoffen bestehende Abhängigkeit von Russland durch Diversifikation der Lieferquellen zu reduzieren und in der Sicherheitspolitik neue Bündnisse zu schmieden. Vor allem mit Blick auf die Konkurrenz zu China engagiert sich die indische Regierung im Quadrilateralen Sicherheitsdialog (Quad) mit Australien, Japan und den USA.

Die indische Regierung versucht in einem Balanceakt, die konkurrierenden Interessen unter einen Hut zu bringen und sein Verhältnis zu den USA, Russland und China in Äquidistanz zu gestalten.

Indiens Balanceakt auf der internationalen, vor allem der asiatischen Bühne ist äußerst fragil. Denn Indien ist gleichzeitig auch Mitglied in der von China dominierten Shanghai Cooperation Organziation und ebenso in BRICS, dem Kooperationsforum von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. BRICS repräsentiert 42 Prozent der Weltbevölkerung und hatte sich ursprünglich zum Ziel gesetzt, ein Gegengewicht zu den vom Westen dominierten internationalen Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zu schaffen. Doch durch das unvergleichlich hohe Wirtschaftswachstum Chinas ist BRICS längst kein Forum unter Gleichen mehr.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stand Indien schon einmal an einem Scheideweg. Damals öffnete sich Indien wirtschaftlich und außenpolitisch. Steht mit der internationalen Isolierung Russlands jetzt eine ähnliche Zäsur für Indiens Außenbeziehungen bevor? Die indische Regierung versucht in einem Balanceakt, die konkurrierenden Interessen unter einen Hut zu bringen und sein Verhältnis zu den USA, Russland und China in Äquidistanz zu gestalten. Gleichzeitig strebt Indien unverhohlen einen Platz unter den Supermächten an und proklamiert, dass es eigentlich ein Recht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat.

Es bleibt abzuwarten, ob Russland Indien auch weiterhin so reichhaltig mit Waffen beliefern kann – oder ob angesichts des Krieges der Eigenbedarf die russischen Streitkräfte so hoch ist, dass Lieferungen an den Partner ausfallen.

Die Außenpolitik ist heute durch unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet. Geopolitische Orientierung, Betonung von Multilateralismus und Beachtung des Völkerrechts einerseits und nationalistische Politik der jetzigen Regierung andererseits, die nicht nur intern bei Indiens Minoritäten auf Widerstand stößt. Das führt zu einem gewissen Lavieren in internationalen Fragen. Der ehemalige Stellvertretende VN-Generalsekretär Ramesh Thakur findet die aktuelle indische Position zur russischen Invasion wenig überraschend: „Als Indien vor einem Jahrzehnt das letzte Mal im Sicherheitsrat war, reichte das Stimmverhalten zu den Krisen in Libyen und Syrien von Ja bis Nein und Enthaltung. Seien Sie nicht überrascht, wenn das Gleiche nun wieder passiert.“

Indiens umfangreiche, zum Teil hektische Aufrüstungsbemühungen werden vor allem mit Blick auf China durchgeführt. Durch seine Enthaltung bei der Verurteilung von Putins Krieg in der Ukraine findet sich Indien nun unverhofft im gleichen Boot mit China. Es bleibt abzuwarten, ob Russland Indien auch weiterhin so reichhaltig mit Waffen beliefern kann – oder ob angesichts des Krieges der Eigenbedarf der russischen Streitkräfte so hoch ist, dass Lieferungen an den Partner ausfallen. In jedem Fall wird Indien mittelfristig sein Verhältnis zu Russland gründlich überprüfen müssen.