Am Sonntag wurde Emmanuel Macron als Präsident vereidigt. Die Stichwahl am 7. Mai hatte er mit knapp 66 Prozent gewonnen. Die rechtsextreme Marine Le Pen kam auf knapp 34 Prozent. Ist es noch mal gut gegangen?

Ja, es ist noch einmal gut gegangen. Das Ergebnis liegt in der Mitte dessen, was ich vorhergesagt hatte: irgendwo zwischen 60 zu 40 und 70 zu 30. Jetzt ist es genau die Mitte geworden, besser als erwartet. Ich hatte erwartet, dass Le Pen näher an die 40 Prozent herankommt. Sie hat viel verloren durch ihren politischen Selbstmord. Die Art, wie sie das Gespräch mit Macron beim TV-Duell geführt hat, hat sie viele Stimmen gekostet.

Ist damit die Gefahr des Populismus in Europa gebannt?

Die Gefahr, dass Le Pen an die Macht kommt, ist in Deutschland immer überschätzt worden. Ich habe immer gesagt: Es wird nicht dazu kommen. Sie kann nicht gewinnen. Sie kann keine 50 Prozent bekommen. Das war den deutschen Medien überhaupt nicht klar.

Le Pen will nun für die Parlamentswahlen ihre Partei neu ausrichten. Sie will Allianzen schmieden. Das war bis jetzt nicht der Fall. Aber mit wem will sie koalieren? Und wo? In welchen Wahlkreisen? Denn es ist durchaus möglich, dass sie so gut wie überhaupt keine Sitze bekommt. Wir haben das Mehrheitswahlrecht mit zwei Runden. In der zweiten Runde wird im Allgemeinen nicht der Front National gewinnen. Sie wird sehr wenige Abgeordnete haben.

Anscheinend will sie auch die Partei umbenennen, in Richtung Patrioten.

Da ist ihr Macron zuvorgekommen. Er hat gesagt: Ich bin Patriot gegen die Nationalisten. Ich fand es übrigens bemerkenswert, dass er bei seiner Siegesrede am Abend die Europa-Hymne hat spielen lassen, bevor die Marseillaise gesungen wurde. Er war von allen Kandidaten der einzige Europäer. Er ging mit der Europa-Flagge in den Wahlkampf. Und die anderen? François Fillon hat nie für die Europa-Verträge gestimmt, immer dagegen. Macron hat eine Kampagne als Europäer gemacht. Und das hat sich gelohnt.

Um noch einmal auf das Thema Populismus zurückzukommen: Ist die Gefahr gebannt?

Die Gefahr wurde stets überschätzt. In Österreich ist es gut gegangen. In den Niederlanden lief es noch besser. Alle hatten das Gegenteil vorhergesagt. Sie sagten: Der Populismus wächst. Doch weder in den Niederlanden noch in Österreich hat er gesiegt. Und in Frankreich auch nicht. Also, so katastrophal ist es doch nicht. Und in Deutschland die AfD? Deutschland hat das „Glück“ gehabt, Hitler in der Vergangenheit gehabt zu haben. Da kann man nicht sehr extrem sein.

Nichtsdestotrotz rührte ja die große Angst und Skepsis daher, dass wider Erwarten der Populist Donald Trump in den USA gewonnen und dass Großbritannien sich für den Brexit entschieden hat. Und alle hatten vorher gesagt, das passiert niemals.

Trump hätte auch nicht gewinnen sollen. Es wird immer vergessen, dass er drei Millionen Stimmen weniger gehabt hat als seine Gegnerin und dass nur das amerikanische Wahlsystem dazu geführt hat, dass er mehr Wahlmänner in kleinen Staaten gehabt hat.

Dennoch hat er es ja geschafft.

Nein, man hat sich nicht geirrt. Man hat gesagt: Er wird nicht Präsident, weil man nur auf die Stimmen gesehen hat. Aber jetzt ist Trump eine große Chance für Europa genauso wie der Brexit. Die EU-Leitlinien für die harten Verhandlungen mit London sind in zehn Minuten angenommen worden – von 27 Staaten. Trump spielt ungefähr die Rolle, die Stalin in den 1950er Jahren gespielt hat. Ohne Stalin hätte es kein Europa gegeben.

Stalin war der Wegbereiter eines vereinten Europas?

Ja, unbedingt, sonst wäre die Bundesrepublik nicht souverän geworden. Sie ist souverän geworden, weil man vor Stalin Angst hatte. Und dieses Glück hat die heutige Bundesrepublik noch nicht begriffen. Am 9. Mai sollte eine große Feier stattfinden, hier und in Frankreich. Das ist der Tag des Schuman-Plans 1950, der zur Gründung Europas führte. Das war ein Segen für die Bundesrepublik, denn so wurde sie etwas. Vorher war sie nichts. Und das wird nicht genügend gefeiert, weil die Bundesrepublik nicht einsehen will, wie viel sie Europa zu verdanken hat.

Ich glaube schon, dass der Dank an Europa groß ist, vielleicht noch mehr an die USA.

Der Dank an Europa ist sehr begrenzt, und Deutschland ist überheblich in Europa: „Wir sind die Guten.“ „Wir schreiben schwarze Zahlen.“ „Wir haben ….“. Der deutsche Hochmut in Europa ist unbegrenzt.

Wie schätzen Sie die deutsch-französischen Beziehungen unter Macron ein?

Die werden sehr gut. Aber Deutschland muss Macron entgegenkommen. Finanzminister Wolfgang Schäuble darf nicht nur auf die schwarzen Zahlen pochen und sparen. Er muss das Geld investieren, investieren und nochmals investieren. Der Zustand der Schulen in Berlin, der Zustand der Brücken und Straßen im Land ist horrend! Da soll das Geld hingehen.

Deutschland steht relativ allein da in Europa mit seiner starken Austeritätspolitik auch gegenüber Griechenland.

Mit Griechenland ist es komplizierter, denn jeder Deutsche glaubt – zu Unrecht–, man hätte Griechenland Geld geschenkt. Man hat nicht einen Euro an Griechenland gegeben. Man hat Geld geliehen, und die Armen können die Zinsen nicht bezahlen. Die gehen an die deutschen und französischen Banken. Und da wird beklagt: Die zahlen ihre Zinsen nicht. Es ist nie etwas geschenkt worden. Es sind Darlehen.

Sie haben ein neues Buch geschrieben. Es heißt „Le Mensch“. Wie kamen Sie auf diesen Titel?

Er ist eine Anlehnung an etwas, das in Brüssel jedes Jahr stattfindet: Eine jüdische liberale Gemeinde wählt jedes Jahr „Le Mensch de l’année“ – „Den Menschen des Jahres“. „Mensch“ hat eine andere Bedeutung als das französische „homme“. Und das „Mensch-Werden“ ist das Thema des Buches. In der Verzweiflung des Weltgeschehens gilt es doch, die Menschen zu entwickeln als Menschen. „Le Mensch“ ist etwas überraschend, aber er ist auch dazu da, dass nicht nur der Untertitel dasteht. Denn der Untertitel [Die Ethik der Identitäten, Anm. d. Red.] klingt nach Philosophie – und ich bin kein Philosoph.

Ich habe Ihr Buch so verstanden, dass um Identität geht und um ein Plädoyer für die Anerkennung vieler Identitäten.

Jeder von uns hat viele Identitäten. Wenn man sich auf eine Identität beschränkt, schließt man die anderen aus. Es gibt auch kein Kollektiv, das dieselbe Identität hat. Das ist der ganze Anfang des Buches. Man soll nie „die“ sagen. Als wir Hitler-Opfer direkt nach 1945 einen Verband gegründet haben, um mit einem neuen Deutschland zusammenzukommen – nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR –, wenn wir gesagt hätten, „die“ Deutschen, dann wäre nie etwas geschehen. Wir haben gesagt: Es gibt Deutsche, die so sind, und Deutsche, die anders sind. Aber das geht nicht in die Köpfe hinein. „Die“ Flüchtlinge, „die“ Bayern, „die“ Metzger – was Sie wollen. Nein. Die einen sind so, die anderen sind anders.

Das scheint aber, sonst würden Sie nicht darüber ein Buch schreiben, nicht jedem klar zu sein. Jeder beharrt darauf: Ich bin Deutscher per se und habe meine Vorrechte als Deutscher.

Johannes Rau hat, glaube ich, einmal gesagt: In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es heißt nicht: Die Würde des deutschen Menschen ist unantastbar. Das geht in manche Köpfe nicht hinein.

Was sagen Sie zu Ländern wie Polen und Ungarn und ihrer Haltung zu Flüchtlingen?

In Polen habe ich große Hoffnung. Wenn bei den nächsten Wahlen nicht gemogelt wird, kann die heutige Opposition siegen.

Das ist sehr optimistisch.

Nein. Es gibt so viele Anzeichen. Ungarn ist komplizierter.

Viktor Orbán wird wahrscheinlich bleiben?

Ja, da muss die CDU etwas tun. Die CDU ist immer noch in derselben Gruppe im Europäischen Parlament wie die Fidesz von Orbán. Mit welcher Berechtigung? Und EU-Ratspräsident Donald Tusk hat vor ein paar Wochen erklärt: Merkel und Orbán ziehen am selben Strang. Merkel hätte hier aufschreien müssen.

Was sagen Sie zu Autokraten wie Victor Orbán, Jarosław Kaczyński, Recep Tayyip Erdoğan?

Erdoğan ist viel schlimmer. Mich irritiert, dass man so wenig von Artikel 49 des EU-Vertrags spricht. Artikel 49 verbietet, ein Land aufzunehmen, das die Grundrechte nicht respektiert. Also dürfte es überhaupt keine Verhandlungen mit der Türkei geben. Das ist ganz klar. Auf der anderen Seite gibt es leider auch keinen Artikel 48 oder 51, der sagen würde: Wie gehen wir mit denen um, die Mitglied sind und die Grundrechte nicht respektieren? Momentan beginnt die EU, so eine Art von Sanktionen gegen Polen zu verhängen. Aber die eigentliche Sanktion für Ungarn und Polen wäre, wenn sie kein Geld mehr von der Union bekommen würden. Sie schimpfen ununterbrochen auf Europa. Sie benehmen sich wie die deutschen und französischen Landwirte. Man kritisiert Europa, das furchtbare Brüssel. Aber es wären tausende Betriebe pleite, wenn es nicht das europäische Geld gäbe für die Landwirtschaft.

Liegt hier nicht das grundsätzliche Problem der EU, dass sich jeder das herauspickt, was er gerade braucht und gut findet und für das Schlechte wird Brüssel verantwortlich gemacht?

Aber daran sind auch die Medien schuld, die nie richtig erklären, was Europa ist und was Europa kann. Die Süddeutsche hat vor zwei, drei Jahren elf Artikel über Europa gebracht und nur genörgelt! Nichts Positives.

Wie sollte sich die EU reformieren? Macron wird wahrscheinlich einen Minister für die Eurozone vorschlagen.

Es muss kein Minister sein, aber jemand, der wirklich Verantwortung dafür hat, was innerhalb der Eurozone geschieht. Ein bisschen Ausgleich der Haushalte usw. Man schafft eine gemeinsame Währung und tut nichts, um innerhalb dieser Währung Haushalte, Steuern etc. ein bisschen anzugleichen. Es gibt zwar ein Gremium der Finanzminister, aber das genügt nicht. Und da wird der Vorschlag von Macron von deutscher Seite nicht gut aufgenommen werden, weil man glaubt, man müsse dann den deutschen Handelsüberschuss unter den anderen verteilen.

Hat Deutschland Ihrer Meinung nach mit Schuld daran, dass es vielen anderen EU-Ländern wirtschaftlich so schlecht geht?

Schuld nicht, man kann nicht sagen, die Deutschen sollen nicht mehr die Maschinen exportieren, die in der ganzen Welt verlangt werden. Aber man sollte doch ein bisschen achtgeben, dass es den anderen nicht schlecht geht und dass man nicht ohne weiteres sagt, Spanien müsse sich genau so und nicht anders verändern, wenn es dort 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit gibt.

Die Fragen stellte Anja Papenfuß.