Das Jahr 2024 scheint zu einem Jahr der Entscheidungen zu werden. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni, die US-amerikanische Präsidentschaftswahl im November und die Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern werden in Politik und Medien zu einem Showdown zwischen den Kräften der Demokratie und denen der Desinformationen stilisiert. Zusammen mit den Wahlen in Russland und Indien wird dieses Jahr fast die Hälfte der Weltbevölkerung wählen. „Bösartige ausländische Akteure“ versuchen nach Ansicht des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell dabei eine „Schlacht der Narrative“ zu gewinnen. Desinformationen würden verbreitet und zielten, so auch die Bundesregierung, darauf ab, die Gesellschaft zu spalten und das Vertrauen in staatliche Institutionen zu untergraben. Soziale Medien würden Lügen, Desinformationen und Deep Fakes verbreiten, für eine schnelle Verbreitung von Falschinformationen sorgen und die Entstehung von Filterblasen und Echokammern betreiben. Künstliche Intelligenzen, Deep Fakes und personalisierte Algorithmen würden die bestehende Verunsicherung hingegen noch weiter verstärken und zum Verlust von Vertrauen in die Institutionen der Demokratie führen.

Ist die Demokratie also im Kern bedroht? Es gibt eine Reihe von gewichtigen Einwänden gegen die These einer social-media getriebenen Flut von Desinformationen und einer hieraus resultierenden Gefährdung der Demokratie. Ein erster Einwand bezieht sich auf den Begriff selbst. Desinformationen lassen sich von schlichten Falschinformationen dadurch abgrenzen, dass sie mit einer böswilligen Intention verbreitet werden. Falschinformationen sind Irrtümer, Desinformationen sind Lügen. Die Grenze zwischen beiden ist allerdings oft schwer zu ziehen. Woher wissen wir, dass jemand böswillig handelt, ohne dass wir in seinen (oder ihren) Kopf schauen können? Der Begriff wird daher oft eher politisch als analytisch und nur zu häufig auf alle diejenigen angewandt, die eine andere Ansicht vertreten. In der Debatte über die Gefahren des Coronavirus in den vergangenen Jahren konnte (und kann) das auf beiden Seiten der Debatte häufig beobachtet werden. Auch gibt es nach wie vor keine empirisch gehaltvollen Untersuchungen, die eine klare Wirkung von Desinformationen, Filterblasen und Echokammern belegen. Ganz im Gegenteil: Die meisten Studien zeigen eine geringe Verbreitung von Desinformationen und kaum oder gar keine nachweisbaren Wirkungen. Es scheint sogar ein Zusammenhang von intensiver Mediennutzung und einem ausdifferenzierten Meinungsbild zu bestehen.

Ebenfalls bleibt unklar, ob Desinformationskampagnen überhaupt in der Lage sind, eine nachhaltige Wirkung zu entfalten. Selbst der Leiter der Strategischen Kommunikation im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), Lutz Güllner, der verantwortlich ist für die Bemühungen der EU, russische Einflussnahmen auf die Wahlen zum Europäischen Parlament zu unterbinden, gibt zu, dass hierzu eigentlich nichts bekannt ist. Vorliegende, empirische Studien weisen darauf hin, dass Desinformationen nur einen kleinen Bruchteil im Netz verfügbarer Informationen darstellen und nur von einer kleinen Minderheit rezipiert werden. Die allermeisten Nutzer sind sich durchaus dessen bewusst, dass selbsternannte Influencer und dubiose Webseiten nicht unbedingt als vertrauenswürdige Informationsquellen zu betrachten sind.

Im Vergleich zu heute lebte der durchschnittliche Bundesbürger vor vierzig Jahren in einer Informationswüste.

Der vielleicht wichtigste Einwand gegen die These einer destruktiv wirkenden Manipulation lautet allerdings, dass es niemals ein größeres Angebot qualitativ anspruchsvoller und kostengünstiger Wissensangebote gab als heute. Mittlerweile gibt es die ARD- und ZDF-Mediatheken, Blogs wie die „Volksverpetzer“, politische Talkshows im Fernsehen sowie einen einfachen und kostengünstigen digitalen Zugang zu einer Vielzahl von Tageszeitungen und anderen Zeitschriften. Wer sich informieren will, hat heute leichteren Zugang als wohl jemals zuvor: Im Vergleich zu heute lebte der durchschnittliche Bundesbürger vor vierzig Jahren in einer Informationswüste, die in vielen Fällen aus der Bildzeitung und eventuell noch der Tagesschau bestand. Von Vielfalt war da keine Spur. Das Internet und Social Media sind damit zuerst einmal für einen riesigen Zugewinn an Pluralität in der Meinungsbildung verantwortlich. Damit geht zwar häufig auch eine gesteigerte Verunsicherung einher. Das aber prägt die Moderne spätestens seit der Erfindung des Buchdruckes im 16. Jahrhundert. Pluralität stellt die epistemische Grundlage der offenen Gesellschaft dar. Sie ist so gesehen die Vorbedingung der Demokratie, nicht ihre Gefährdung.

Diese Einwände gegen die oben referierte skeptische Diagnose dürfen allerdings nicht missverstanden werden. Die Gefahren liegen jedoch auf einem abstrakteren und gleichzeitig fundamentaleren Niveau. Das zentrale Problem der Stabilität von Demokratie besteht nicht darin, dass Menschen lügen und Informationen strategisch zur Manipulation der Meinung anderer einsetzen – das war noch nie anders. Es liegt vielmehr darin, dass wir uns heute sowohl innerhalb Deutschlands als auch Europas und der Welt in miteinander zunehmend schwer zu vereinbarenden Wahrheitsräumen bewegen. Wenn der russische Präsident Wladimir Putin im Interview mit Tucker Carlson ausführlich darlegt, weswegen die Ukraine zu Russland gehört, dann lügt er nicht unbedingt, sondern bringt eine auf historischen Konstruktionen aufgebaute subjektive Wahrheit zum Ausdruck, an die er wahrscheinlich aufrichtig glaubt – so bizarr das auch in vielen westlichen Ohren klingen mag. Und genauso dürfte die Rede vieler US-amerikanischer Trump-Anhänger, dass die demokratische Partei Amerika in den Abgrund führe, nicht wirklich als Lüge zu qualifizieren sein, die wider besseren Wissens verbreitet wird. Es ist die zu unterstellende Aufrichtigkeit, nicht die Lüge, die uns Sorge bereiten muss. In der modernen Gesellschaft werden unumstößliche Wahrheiten zu einem knappen Gut und der Kampf um die Deutungshoheit der Realität zu einer zentralen Bühne. Der von uns gerne geglaubte Mythos, dass es in der Moderne nur eine einzig richtige Wahrheitsordnung gibt, die sich etwa durch einen Faktencheck erschließen lässt, ist theoretisch leider wenig gehaltvoll.

In der philosophischen Debatte findet sich die zugrunde liegende Schwierigkeit der Bestimmung von Wahrheit in einer bis auf Aristoteles zurückgehenden Auseinandersetzung darüber, was eigentlich Wahrheit konstituiert. Der Grundkonsens beinhaltet heute, dass der Wahrheitsgehalt von Sätzen nicht direkt von der Realität (Fakten) abgeleitet, sondern nur auf dem Umweg über andere Sätze verifiziert werden kann. Der Idee einer feststellbaren Kongruenz von Satz und Realität ist damit der Boden entzogen. Die sogenannte Kohärenztheorie der Wahrheit reagiert auf dieses Problem, indem sie nur solche Sätze als wahr versteht, die sich widerspruchsfrei in einen größeren Kontext von solchen Aussagen einfügen lassen, die von uns bereits als wahr akzeptiert wurden. Wahr ist also das, was widerspruchsfrei unsere Weltkonstruktionen (und Vorurteile) ergänzt.

Wenn aber die Übereinstimmung mit Überzeugung statt mit Fakten zum zentralen Kriterium wird, dann droht Wahrheit intersektional, subjektiv und kontextspezifisch zu werden. Die Wahrheit der Einen wird fast zwangsläufig zur Unwahrheit der Anderen. Was ist nun daraus für die aktuelle Debatte über Desinformationen abzuleiten? Für die USA bedeutet es zunächst, dass 100 Millionen mögliche Anhänger von Trump weder (ausschließlich) Lügner noch Dummköpfe sind. Sie leben vielmehr in einer Welt, die sich aus einem festen Glauben an traditionelle Werte, einer Ablehnung von Ostküstenintellektualität und Widerwillen gegen postmoderne Kontingenz zusammenfügt. Es ist eine Denkordnung aus sich wechselseitig bestärkenden Elementen, die einen festen Rahmen für die Einordnung neuer Informationen bieten. Faktenchecks und fachliche Expertise erübrigen sich hier.

Wie können und wie sollten wir mit dieser grundlegenden Umstrittenheit umgehen? Demokratie ist kein philosophischer Salon, sondern kennt immer wieder Momente, in denen unvereinbare und hart vorgetragene Positionen aufeinanderprallen. Wir müssen lernen, diesen Streit auszuhalten und gleichzeitig das Auseinanderdriften von Wahrheitsordnungen verhindern. Hierbei geht es nicht um bloße Faktenchecks, sondern darum, gesellschaftsweite Verständigungen über die Grundlagen unserer Ordnung kontinuierlich zu erneuern. Liberale und Illiberale, Rechte und Linke, Feministinnen und Feministen und alte weiße Männer müssen miteinander im Gespräch bleiben. Dann gibt es auch keinen Grund, bösartige ausländische Akteure oder gar eine Schlacht der Narrative zu befürchten.