200 Menschen starben, als in Kasachstan zu Beginn des Jahres Massenproteste weltweit Schlagzeilen machten. Die Wut über gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise eskalierte auf eine Art und Weise, wie es für das größte und reichste Land Zentralasiens bislang beispiellos war. Der Krieg in der Ukraine und seine ökonomischen Folgen haben das Potenzial, die Konflikte in Kasachstan erneut anzufachen. Zentralasien gehört zu der Region, die am meisten vom russischen Einmarsch in die Ukraine betroffen ist. Die Regierung in Nur-Sultan befindet sich in einer schwierigen Ausgangslage und ist unter Zugzwang.

Um die Regierung angesichts der Ausschreitungen zu stabilisieren, hatte Präsident Kassym-Jomart Tokajew die Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), einer durch Russland dominierten Sicherheitsorganisation, zu Hilfe gerufen. Rund 2 500 Soldaten sicherten im Rahmen dieses Mandats die kritische Infrastruktur. Die Truppen, die überwiegend aus Russland kamen, verließen Kasachstan binnen zwei Wochen. Aber es blieben Fragen zurück mit Blick auf das Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden: Wird der Einfluss Moskaus in Kasachstan steigen? Steht Nur-Sultan künftig in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Russland? Wie könnte eine ausgewogene Rolle Kasachstans gegenüber dem Nachbarn aussehen?

Zentralasien gehört zu der Region, die am meisten vom russischen Einmarsch in die Ukraine betroffen ist.

Der Ruf gen Moskau war ein zweischneidiges Schwert für Kasachstan. Lange hatte man versucht, durch eine sogenannte „multivektorale Außenpolitik“ eine übermäßige Abhängigkeit von Russland zu vermeiden. Man baute gute Beziehungen zu China und dem Westen sowie den Nachbarstaaten auf. Man strebte eine Balance im Verhältnis zu den großen Mächten an, um eine eigene, aktive Außenpolitik gestalten zu können.

China und Kasachstan haben eine bedeutende Wirtschaftspartnerschaft: Die Volksrepublik bezieht rund 20 Prozent seiner Gasimporte aus oder über Kasachstan. Das zentralasiatische Land ist ein Dreh- und Angelpunkt in der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI), mit der China in großem Umfang in Infrastruktur in strategisch wichtigen Ländern investiert.

Zwischen Kasachstan und Russland sind die institutionellen Interdependenzen stark ausgeprägt. Beide Länder gehören verschiedenen Regionalorganisationen an, etwa der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) sowie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU). Russland ist Kasachstans größter Importpartner. Über 40 Prozent des Gesamtimportvolumens stammen von dort. Aber auch der Weltraumbahnhof Baikonur sowie geographische und kulturelle Nähe spielen eine große Rolle.

Lange hat Kasachstan versucht, durch eine sogenannte „multivektorale Außenpolitik“ eine übermäßige Abhängigkeit von Russland zu vermeiden.

Angesichts der starken wirtschaftlichen Verflechtung könnten die Sanktionen gegen Russland zu schweren Konsequenzen für die zentralasiatischen Volkswirtschaften führen. Umgeben von Ländern, die vom Westen sanktioniert wurden – Afghanistan, Iran, China und Russland –, kämpfen die zentralasiatischen Republiken mit den Folgen der neuen beispiellosen Sanktionen gegen Moskau. Vor allem Kasachstan, der bedeutendste Energieexporteur in der Region, ist auf russische Häfen und Infrastruktur angewiesen, um die globalen Märkte zu erreichen. Die Entwicklungen drohen die ohnehin schwierige wirtschaftliche Lage zu verschärfen. Die kasachische Währung Tenge (KZT) fiel analog zum Rubel dramatisch. Da in Kasachstan viele Güter des täglichen Lebens importiert werden müssen, übersetzt sich der Währungsverfall in eine starke Verteuerung. Auch die kasachischen Standardwerte spüren bereits die Folgen: Die Bank Halyk, das größte Finanzinstitut des Landes, verlor etwa 40 Prozent ihres Wertes an der Londoner Börse. Die Kaspi-Bank büßte 45 Prozent ein. Die nationale Urangesellschaft Kazatomprom verzeichnete einen Rückgang von nahezu eines Viertels ihres Wertes.

Nach dem Einsatz der OVKS-Truppen im Januar konnte man vermuten, dass der Einfluss Moskaus in Kasachstan und der Region wachsen würde. Dies scheint sich nun erstmal nicht zu bestätigen. Im Gegenteil: Kasachstan scheint auch weiterhin um eine Partnerbalance und eine ausgeglichene Außenpolitik bemüht. Aktuell zeichnet sich sogar eine spürbare Distanzierung gegenüber Russland ab.

Präsident Tokajew suchte nach dem russischen Angriff auf die Ukraine demonstrativ das Gespräch mit mehreren ausländischen Politikern: neben Wladimir Putin unter anderem auch Emmanuel Macron, Charles Michel, Volodymyr Selenskyj und Frank-Walter Steinmeier. Kasachstan werde keine Partei ergreifen, so die Message. In seinem ersten Statement zur Situation in der Ukraine betonte Tokajew, dass „die geopolitische Situation eskaliert“ sei und „beide Parteien nach einer gemeinsamen Lösung am Verhandlungstisch“ suchen müssten. Seitdem versucht man sich als Vermittler zu positionieren und spricht sich offen für eine baldige diplomatische Lösung aus. „Ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg“, heißt es aus Akorda, dem Präsidialpalast in Nur-Sultan.

Umgeben von Ländern, die vom Westen sanktioniert wurden – Afghanistan, Iran, China und Russland –, kämpfen die zentralasiatischen Republiken mit den Folgen der neuen beispiellosen Sanktionen gegen Moskau.

Kasachstans Rolle geht über Worte hinaus. Das Land liefert Hilfsgüter – sowohl staatlich als auch privat organisiert – in die Ukraine. In Almaty, wo noch vor wenigen Wochen Ausschreitungen und Gewalt herrschten, fanden massive Antikriegsdemonstrationen und Solidaritätsbekundungen für die Ukraine statt. Dennoch: In der Abstimmung bei der VN-Generalversammlung enthielt sich Kasachstan – genau wie es das auch 2014 anlässlich der Krim-Annexion getan hatte. In Anbetracht der starken Bindung zu Russland ist das wenig verwunderlich. Es ist vielmehr bezeichnend für den diplomatischen Balanceakt, den Präsident Tokajew zu bewältigen hat.

Die aktuelle Konfliktsituation leitet im eurasischen Raum eine Phase der Hinterfragung und der Neuordnung der Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur ein. Die Eurasische Wirtschaftsunion ist durch die Sanktionen stark beschädigt. Ihr Sinn wird in Kasachstan erneut infrage gestellt. Sie dient nicht mehr als Institution, durch die das Land mittel- und langfristig Wachstum generieren kann. Sicherheitspolitisch bindet die OVKS Kasachstan an Russland – dessen Interessen man in der aktuellen Lage jedoch nicht teilt. Kasachstan muss daher nun seine institutionellen Bindungen in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft neu sortieren.

Wie genau die neue Ordnung aussehen wird, ist derzeit schwer vorherzusagen. Kasachstans Optionen hin zu mehr strategischer Unabhängigkeit liegen auf dem Tisch. Es wird für das Land von großer Bedeutung sein, bisherige institutionelle Verflechtungen zu überdenken – allen voran jene mit Russland – und bei der Fortsetzung einer ausgewogenen Außenpolitik, die sich zwischen den großen Kräften bewegt, die eigenen Interessen klar zu definieren. Auch die weitere Vertiefung der regionalen Integration und die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern in Zentralasien ist ein wichtiger Baustein. Gleichzeitig gilt es, den Blick nach innen zu richten: Das Vertrauen zwischen Regierung und Bevölkerung muss erneuert werden. Nur so wird es Kasachstan gelingen, angesichts der aktuellen Herausforderungen nicht in eine tiefe Krise zu stürzen.