Der russische Präsident Wladimir Putin verfolgte in den letzten Jahren sicherheitspolitisch und militärisch zwei zentrale Ziele: die Osterweiterung der NATO zu stoppen sowie die ukrainische Regierung zu stürzen und zumindest Teile des Territoriums zu okkupieren. Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine hat das Regime Putin mit seiner sogenannten „militärischen Spezialoperation“ diese Ziele nicht erreicht. Im Gegenteil: Mit der Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der NATO ist das transatlantische Bündnis noch näher an Russland herangerückt.

Auch der erwartete Blitzerfolg in der Ukraine blieb aus und die Auseinandersetzung ist in einen Abnutzungskrieg übergegangen. Der Krieg findet aber nicht nur zwischen Russland und der Ukraine statt. Auch die NATO ist Teil der Konfrontation. Zwar betonen die Regierungen der NATO-Länder immer wieder, sich nicht direkt an diesem Krieg zu beteiligen. Die militärische Unterstützung für die Ukraine ist jedoch inzwischen sehr weitreichend und de facto hat Russland mit seiner Aggression den Zusammenhalt sowohl in der NATO als auch in der EU gestärkt.

Die russische Invasion in der Ukraine war ein „Game Changer“ für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Die Grundzüge dieser Politik, die nach dem Ende des Kalten Krieges zementiert wurden, sind jetzt außer Kraft gesetzt. Doch mit welchem politischen Projekt kann dieser brutale Krieg beendet werden und wie kann eine neue europäische Sicherheitspolitik aussehen? Diese Fragen müssen angesichts der großen Verluste in der Ukraine und auch in Russland gestellt werden. Ein vorrangiges Ziel müsste ein Waffenstillstand sein, um die Verluste an Leib und Leben, an Zerstörung der Infrastruktur und der Flucht von einigen Millionen Menschen zu beenden. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Verwerfungen der Wirtschaft, die den gesamten Globus betreffen, zu beenden. Besonders problematisch sind für viele Länder die Unterbrechung der Getreidelieferungen, für andere – und nicht nur für Russland – die drastischen Sanktionen und der Verlust an Energie- und Rohstoffquellen. Solange beide Seiten an einen militärischen Sieg glauben, besteht wenig Hoffnung auf Verhandlungen. Zum Innehalten könnten nun aber die jetzt deutlich spürbaren Ermüdungserscheinungen beitragen.

Aber wie ist es möglich, das System Putin zum Einlenken zu bewegen? Kommunikation und diplomatische Bemühungen kommen zurzeit nicht von der Stelle. Zwischen Russland und der EU beziehungsweise der NATO ist der Gesprächsfaden abgerissen – trotz der Bemühungen von Emmanuel Macron und Olaf Scholz. Die chinesische Regierung, die Einfluss auf Russland hat, hält sich weiterhin bedeckt, was de facto eine Stärkung Putins bedeutet.

Die massive Aufrüstung und die gegenseitigen Drohungen erinnern stark an den Kalten Krieg.

Die massive Aufrüstung und die gegenseitigen Drohungen erinnern stark an den Kalten Krieg. Obwohl sich die heutige Situation deutlich unterscheidet, gibt es auch Parallelen. Die Geschichte der Entspannungspolitik zeigt, dass trotz miserabler Bedingungen ein Erfolg und zahlreiche Rüstungskontrollverträge in den 1970er und 1980er Jahren möglich waren. Die Schlussakte von Helsinki schrieb 1975 wichtige Prinzipien fest. Vereinbarungen über nationale Souveränität, die Unantastbarkeit der Grenzen, Achtung der Menschenrechte sowie wirtschaftliche, technische und kulturelle Zusammenarbeit waren notwendig, um die Blockkonfrontation zu beenden. Auch wenn die Helsinkiprinzipien jetzt von Russland mit Füßen getreten werden, lohnt dennoch ein Blick zurück, um daraus Schlüsse für heute zu ziehen.

Trotz der nuklearen Drohung und der gegenseitig gesicherten Zerstörung, der Konfrontation der Systeme, der Teilung Deutschlands, des sogenannten Eisernen Vorhangs und der ideologischen Konkurrenz, war es möglich, Spannungen abzubauen und vertragliche Vereinbarungen zu treffen. Ebenso sollte das, was heute wie eine unauflösliche Konfrontation aussieht, nicht dazu führen, dass man sich in erster Linie oder ausschließlich auf militärische Mittel verlässt, zumal Russland auch nach einem möglichen Ende des Krieges mit ziemlicher Sicherheit eine Nuklearmacht bleibt. Vier Wege bieten sich an: die Vermittlung von außen, beispielsweise durch neutrale Staaten, ein Helsinki II-Prozess, die Wiederbelebung der OSZE und ein Minsk III-Prozess.

Erstens, Vermittlung: Bislang blieben die Bemühungen afrikanischer Regierungen, die eine Delegation nach Moskau entsandten, erfolglos. Ebenso wenig führten die Initiativen des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, des indischen Premiers Modi oder des türkischen Präsidenten Erdoğan zum Durchbruch. Dennoch scheint im Moment nur eine Initiative von außen erfolgsversprechend. Vielleicht könnte ein Dialog zwischen Papst Franziskus und dem Patriarchen der Orthodoxen Kirche, Kyrill I. die verhärteten Fronten auflösen. Das Getreideabkommen, von der UNO und Erdoğan vermittelt, hat gezeigt, dass humanitäre Schritte möglich sind, auch wenn es jetzt von Moskau aufgekündigt wurde.

Zweitens, Helsinki II: Die sicherheitspolitische Grundlage des Westens für die Helsinkikonferenz 1975 war eine Doppelstrategie, wie sie im Harmel-Bericht der NATO von 1967 vorgeschlagen wurde: militärische Stärke auf der einen Seite sowie dauerhafte politische Beziehungen zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt auf der anderen. Also einerseits militärische Abschreckung bei gleichzeitigen Verhandlungen über den Abbau der Rüstung und andererseits politische Vereinbarungen, die letztlich zur Auflösung der Blockkonfrontation führten.

Ein Waffenstillstand oder gar Frieden ist ohne Verhandlungen kaum möglich.

Drittens, Wiederbelebung der OSZE: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit ihren 57 Mitgliedsländern in Europa, Nordamerika und Zentralasien bietet eigentlich ein Dialogforum, um sicherheitspolitische Konflikte zu regeln. Doch die in Europa vorhandenen Spannungen führten zu einer Marginalisierung der Organisation, die angesichts des Ukrainekrieges sowie anderer „eingefrorener“ Konflikte (beispielsweise im Kaukasus) dringend der Wiederbelebung bedarf.

Viertens, Minsk III: In den Minsk I- und Minsk II-Abkommen wurden Maßnahmen vereinbart, um den seit 2014 geführten Krieg in der Ostukraine politisch beizulegen. Die Ukraine hat Verhandlungen nach dem Vorbild des Minsker Abkommens abgelehnt und Präsident Putin erklärte vor dem russischen Angriff auf die Ukraine das Abkommen für gescheitert. Solche Foren sind trotz oder gerade wegen der festgefahrenen Konfrontation auch heute notwendig. Nicht nur, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, sondern auch um das unkontrollierte Wettrüsten auf allen Ebenen längerfristig zu stoppen und zu deeskalieren. Unabhängig vom Verlauf des Kriegs werden irgendwann ernsthafte Verhandlungen notwendig sein. Ein Waffenstillstand oder gar Frieden ist ohne Verhandlungen kaum möglich und Krieg ist niemals eine Antwort auf irgendetwas.

Funktionierende Kommunikations- und Rüstungskontrollforen, in denen sich die Kriegsgegner austauschen könnten, existierten selbst während des Kalten Krieges. Seit Ende der 1960er Jahre gab es bei Atomwaffen und ab 1973 bei konventioneller Rüstung Verhandlungen, die zwar schleppend verliefen, letztlich aber unbeabsichtigte Kriege verhinderten und zum Abbau von Militärpotentialen führten. Im Gegensatz zu heute wurde der Ausbruch eines heißen Krieges verhindert. Aber wie kann der Krieg beendet werden? Jetzt kommt es darauf an, die Ukraine mit allen vernünftigen und vertretbaren Mitteln zu unterstützen. Was „vernünftig und vertretbar“ ist, wird jedoch sehr unterschiedlich beurteilt, wie jüngst die umstrittene Lieferung von Streumunition durch die USA verdeutlicht.

Die Sanktionen müssen Russland hart treffen, aber es ist unrealistisch, kurzfristig auf einen Zerfall des Systems Putin zu setzen.

Die Forderungen der ukrainischen Regierung gehen weit über das hinaus, was derzeit von den USA, der NATO und der EU angeboten wird, obwohl die Unterstützer der Ukraine ihren militärischen Beistand schrittweise ausgeweitet haben. Auch an den wirtschaftlichen Maßnahmen und der Härte der Sanktionen scheiden sich die Geister. Das Gebot der Stunde bei gleichzeitiger Fortsetzung der militärischen Stärkepolitik des Westens sollten Verfahren zur Deeskalation sein.

Die Sanktionen müssen Russland hart treffen, aber es ist unrealistisch, kurzfristig auf einen Zerfall des Systems Putin zu setzen. Fortgesetzter Druck auf Moskau ist nötig, aber Putin muss auch eine Möglichkeit erhalten, gesichtswahrend seine Kriegsführung zu beenden. Das ist keine Appeasement-Politik, sondern eine Ausstiegsstrategie. Aber auch der Ukraine muss verdeutlicht werden, dass unrealistische Kriegsziele kriegsverlängernd sind und deshalb nicht durch den Westen unterstützt werden sollten.

Langfristig ist ein Helsinki II für Gesamteuropa notwendig, das durch eine Organisation wie die OSZE umgesetzt wird. Für die Beendigung des Kriegs in der Ukraine bedarf es eines Prozesses wie er mit den Minsker Abkommen versucht wurde. Auch wenn der Minsk-Prozess gescheitert ist, führt kein Weg an Verhandlungen vorbei. Es muss ein politisches Projekt verfolgt werden, in dem die nukleare Abschreckung eingedämmt wird, und ein Konzept, das zur Deeskalation, Rüstungskontrolle und vielleicht irgendwann zu Abrüstung führt.

Es ist besonders wichtig, einige der mit Helsinki I vereinbarten Prinzipien in Erinnerung zu rufen. Einer der Grundsätze lautet: Einhaltung des Völkerrechts. Russland verletzte dieses Prinzip durch den Einmarsch in die Ukraine und zuvor durch die Annexion der Krim auf eklatante Weise. Doch auch die Besetzung des Irak 2003 und der Kosovo-Krieg 1999 durch die USA, eine Koalition der Willigen und die NATO waren klare Verstöße gegen das Völkerrecht. Diese Rechtsstaatlichkeit ist universell, und wir sollten uns dafür einsetzen, diese Grundsätze aufrechtzuerhalten. Gerade diejenigen, die die regelbasierte internationale Ordnung betonen, sollten sich selbst strikt an diese Regeln halten.