Für Japans Premierminister Fumio Kishida wird es ernst. Seit Monaten sind die Popularitätswerte seiner Regierung im freien Fall. Mit komplexen Herausforderungen konfrontiert, antwortet der als nice guy geltende Politiker meist sinngemäß: „Wir schaffen das.“ Konkrete Antworten bleibt er aber schuldig. So wurde zum Beispiel die mit viel Tamtam angekündigte Verdopplung des Militärhaushalts mehrfach verschoben, da die Finanzierung nicht geklärt werden konnte. Bis einschließlich Haushaltsjahr 2025 ist die Erhöhung zunächst einmal vom Tisch. Angesichts der massiven Staatsverschuldung Japans sorgten auch Pläne für eine Steuersenkung sowie die Ankündigung einer „präzedenzlosen Erhöhung“ der Unterstützung für Familien mit Kindern eher für Verwunderung – auch wenn Letzteres angesichts des demografischen Wandels und der fortschreitenden Schrumpfung der japanischen Bevölkerung sicherlich eine richtige und wichtige Prioritätensetzung ist.

Jetzt aber hat Kishida ganz andere Probleme. Seit Wochen braut sich ein massiver Spendenskandal über seiner Regierung zusammen. Mehrere Minister stehen im Verdacht, Einnahmen aus „Spenden-Partys“ veruntreut und für persönliche Zwecke sowie als Schmiergelder zur Wahlbeeinflussung verwendet zu haben. Solche Partys werden von Abgeordneten organisiert, um Inhalte zu diskutieren und Netzwerke zu vertiefen. Solange die Einnahmen beziehungsweise Überschüsse in den Rechenschaftsberichten der Abgeordneten und der Partei verbucht werden, ist das ein ganz normaler Vorgang. Offenbar wurden aber von zahlreichen Abgeordneten der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) weit mehr Tickets verkauft, als zur Deckung der Kosten für die Partys notwendig waren. Die Überschüsse wurden nicht als Spenden registriert, sondern als Schwarzgelder verwendet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt; und zumindest ein betroffener Politiker hat die Verdachtsmomente bestätigt.

Mit geschätzt über drei Millionen Euro aus illegalen Party-Einnahmen steht die Abe-Gruppe im Zentrum des Interesses der Staatsanwaltschaft.

Pikanterweise kommen mehrere unter Verdacht stehende Politiker aus der innerparteilichen Gruppierung (Faktion) des früheren Premierministers Shinzo Abe – der mit 99 Abgeordneten größten Gruppierung in der LDP und einer wichtigen Stütze des Kabinetts Kishida. Dazu gehören unter anderem Regierungssprecher Hirokazu Matsuno, Wirtschaftsminister Yasutoshi Nishimura, Agrarminister Ichiro Miyashita, Innenminister Junji Suzuki sowie ein gutes Dutzend Vizeminister und parlamentarische Staatssekretäre. Matsuno alleine soll mit der Party-Methode in den vergangenen fünf Jahren mehr als zehn Millionen Yen (ca. 64 000 Euro) eingenommen haben, deren Verbleib ungeklärt – und wahrscheinlich undokumentiert – ist. Zwar sind auch andere Faktionen von dem Skandal betroffen, inklusive der Gruppe von Premierminister Kishida, die aus 49 Abgeordneten besteht. Mit geschätzten 500 Millionen Yen (über drei Millionen Euro) aus illegalen Party-Einnahmen steht die Abe-Gruppe allerdings im Zentrum des Interesses der Staatsanwaltschaft. Premierminister Kishida gab am 9. Dezember 2023 bekannt, die vier Minister sowie auch die Inhaber der drei wichtigsten LDP-Parteiposten – Generalsekretär, Vorsitzender des Politikforschungsrates, Vorsitzender des Wahlkomitees – entlassen zu wollen. Die vier Ministerrücktritte erfolgten am 14. Dezember. Die Tageszeitung Asahi spricht von einer „Säuberung.“

Zu den unter Veruntreuungsverdacht stehenden Partei-Granden gehört auch der machtbewusste Koichi Hagiuda, ein Ziehkind von Abe und der aktuelle Vorsitzende des LDP-Politikforschungsrates. Hagiuda ist bekannt für seine Verwicklung in die zahlreichen Skandale des ehemaligen Premierministers. Während Abes Amtszeit wurden die regelmäßigen Skandale einfach ignoriert, obwohl sie präzedenzlose Ausmaße angenommen hatten. So nahm sich ein Verwaltungsangestellter das Leben, weil das Fälschen von Dokumenten seiner Arbeitsmoral widersprach, er aber keine Unterstützung fand, als er versuchte, die Unregelmäßigkeiten zu melden. Abe selbst kümmerte sich darum, dass die Massenmedien die Skandale nicht zu ausführlich thematisierten. Nach einem Anruf bei einer Zeitung oder einem TV-Sender wurde der eine oder andere kritische Reporter oder Kommentator entlassen, so dass die Aufregung sich irgendwann wieder legte.

Vor allem aber schweißte die ungewohnte Erfahrung, sich nach einer historischen Wahlniederlage zwischen 2009 und 2012 in der Opposition wiederzufinden, die konservative LDP so eng zusammen, dass sie innerlich fest zusammenhielt und dadurch aller Kritik widerstand. Abe absolvierte daher trotz der präzedenzlosen Skandalserie mit acht Jahren die längste Regierungszeit in der japanischen Geschichte. Jetzt, drei Jahre nach seinem Rücktritt und zwei Jahre nach seiner Ermordung, lassen sich ähnliche Skandale nicht mehr so einfach kontrollieren. Der Leidtragende ist Premierminister Kishida.

Ob das Kabinett die „Säuberung“ überleben wird, ist fraglich.

Kishida hat die vier entlassenen Minister mit Politikern aus kleineren Faktionen beziehungsweise ohne Faktionszugehörigkeit ersetzt. Dazu gehören der vormalige Außenminister Yoshimasa Hayashi aus Kishidas eigener Faktion als neuer Regierungssprecher und der ehemalige Justizminister Ken Saito, ein Faktionsloser, der zum Wirtschaftsminister ernannt worden ist. Ob das Kabinett die „Säuberung“ überleben wird, ist fraglich. Im Dezember beginnen die Beratungen über den Haushalt für 2024, und völlig ohne Unterstützung aus der Abe-Faktion wird die Regierung es schwer haben, diese zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

Die Oppositionsparteien agieren seit dem Bekanntwerden des jüngsten LDP-Skandals in selten gesehener Geschlossenheit und befinden sich angesichts des aufsehenerregenden Ausmaßes der Affäre im Aufwind. Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt NHK veröffentlichte am 11. Dezember – noch vor der Verschärfung der Regierungskrise samt Ministerrücktritten – Umfrageergebnisse, denen zufolge das Kabinett Kishida nur noch 23 Prozent Zustimmung genießt. Die LDP insgesamt steht laut der Umfrage erstmals seit über zehn Jahren bei unter 30 Prozent – die schlechtesten Werte seit der Rückkehr der LDP an die Macht im Jahr 2012. 66 Prozent der Befragten äußerten die Meinung, dass Kishida zu spät Konsequenzen aus dem Skandal gezogen habe. Die führende Oppositionspartei, die Konstitutionell-Demokratische Partei (KDP), brachte am 12. Dezember ein Misstrauensvotum gegen Regierungssprecher Matsuno ein. Dies lehnte die LDP zwar noch geschlossen ab, aber weil Matsuno besonders schwer belastet ist, dürfte das der Partei einen weiteren Vertrauensverlust bescheren.

Auch die Abe-Faktion zeigt Auflösungserscheinungen.

Vor allem aber wird die zunehmend kritische und unkooperative Haltung der Abe-Faktion Premierminister Kishida das politische Leben erschweren. Trotz des massiven Vertrauensverlusts der Politiker aus der Abe-Gruppe könnten seine Tage als Regierungschef ohne die Unterstützung dieser größten innerparteilichen Gruppierung schneller gezählt sein, als ihm lieb ist. Es werden schon Rufe laut, dass Kishida nach der Verabschiedung des Haushalts 2024 zumindest vom LDP-Vorsitz zurücktreten solle. Dass er die für September 2024 anstehende Neuwahl des LDP-Vorsitzes ohne die Unterstützung der Abe-Gruppe nochmals für sich entscheiden kann, ist eher unwahrscheinlich.

Andererseits zeigt auch die Abe-Faktion Auflösungserscheinungen. Seit dem Tod Shinzo Abes hat sie keinen unbestrittenen Führer, und die ersten Abgeordneten, die der Gruppe zugerechnet werden, verlassen bereits das sinkende Schiff. So gestand der Vizeminister für Verteidigung, Hiroyuki Miyazawa, am 14. Dezember als erstes Mitglied der Faktion öffentlich ein, dass es ein Schwarzgeld-System gegeben hat, und legte noch nach, indem er bestätigte, dass die Faktions-Mitglieder Anweisungen erhalten haben, nichts über die Angelegenheit publik werden zu lassen. Seine Tage in der Abe-Gruppe dürften damit gezählt sein. Kommentatoren argwöhnen aber auch, dass im Falle des Bekanntwerdens weiterer Details beziehungsweise im Falle der Kooperation mehrerer Faktions-Mitglieder mit der Staatsanwaltschaft die aktuelle Regierungskrise auch anders enden könnte als mit dem Rücktritt Kishidas – nämlich mit dem endgültigen Ende der Ära Abe.