Der hier veröffentlichte Beitrag „Löschen mit Benzin – Ein russischer Blick auf die neuen EU-Russland-Prinzipien“ von Konstantin Kossatschow darf nicht unkommentiert bleiben. Kossatschow ist Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des russischen Föderationsrats, jenes Föderationsrats, der über den Einsatz russischer Truppen im Ausland zu befinden hat. Dieser hat Anfang März 2014 den Einsatz russischer Truppen auf der – damals noch ukrainischen – Halbinsel Krim genehmigt.

Nun ist es sicher kein Fehler, auch russische Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Der Kommentar von Kossatschow ist jedoch mehr als zweifelhaft und steht in der unguten Tradition einer Berichterstattung des IPG-Journals, die die innenpolitische Entwicklung der Ukraine dramatisiert, den russischen Hybridkrieg in der Ostukraine verharmlost und selbst US-Verschwörungstheoretikern wie John Mearsheimer ein Podium <link kommentar artikel putin-reagiert-560>bietet.

Doch zu den Thesen: Kossatschow meint: „Zum Kernprinzip wird damit ein Abkommen erklärt, zu dessen Parteien weder Russland noch die EU gehören. Das bedeutet praktisch, dass die grundlegenden Beziehungen zwischen den Schlüsselakteuren in Europa direkt vom Verhalten Dritter abhängig gemacht werden“.

Mit dieser Darstellung wird einmal mehr die russische Behauptung gestützt, es handle sich im Donbas um einen inner-ukrainischen Konflikt, mit dem Russland nichts zu tun habe. Diese Version mag vielleicht im Jahr 2014 noch jemand geglaubt haben, im Jahr 2016 jedoch sind die Beweise, dass es sich in der Ostukraine um eine mehr oder minder verdeckte russische Invasion handelt, offensichtlich. Mehrfach wurden reguläre russische Soldaten identifiziert, wurde festgestellt, dass die in den Händen der sogenannten Separatisten befindliche Militärtechnik nur aus Russland stammen kann.

Der Schuldige für den Abschuss der MH-17 gilt – allen russischen Vernebelungsversuchen zum Trotz – als erwiesen und die sogenannten Separatisten im Donbass – in Wahrheit ein Verbund russischer Spezialeinheiten und lokaler Krimineller – verfügen über keinerlei demokratische Legitimation in der Region. Die jüngst auch in der deutschen Presse thematisierte Existenz von Foltergefängnissen in den sogenannten Volksrepubliken zeigt, um was für Sadisten es sich hier handelt.

In diesem Zusammenhang zu behaupten, die Erfüllung des Minsker Abkommens sei vom Verhalten Dritter abhängig, ist purer Zynismus und eine dreiste Lüge. Die Annexion der Krim mag im Minsker Abkommen nicht enthalten sein, legalisiert ist diese damit noch lange nicht. Das Abstimmungsergebnis der UN-Generalversammlung vom März 2014, bei der die Krim-Annexion bei nur elf Gegenstimmen verurteilt wurde, ist eindeutig.

Die Annexion der Krim mag im Minsker Abkommen nicht enthalten sein, legalisiert ist diese damit noch lange nicht.

Kossatschow meint: „Muss noch daran erinnert werden, dass fast alle kritischen Situationen der jüngsten Vergangenheit genau darauf zurückzuführen waren, dass euroatlantische Institutionen die ehemaligen Sowjetrepubliken aktiv zu „erschließen“ begannen und dort vehement die Idee der vermeintlichen Alternativlosigkeit der geopolitischen Orientierung Richtung Westen propagierten, die allerdings eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Russland völlig ausschließt?“

Niemand im Westen hat jemals aktiv damit begonnen, ehemalige Sowjetrepubliken zu „erschließen“. Vielmehr war es von Anfang an Teil der außenpolitischen Doktrin der Ukraine, die Annäherung zur EU zu suchen, die von allen Präsidenten mit mehr oder minder großer Intensität vorangetrieben wurde. Eine Politik übrigens, die in allen Landesteilen der Ukraine die Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit genossen hatte. Unbestreitbar ist, dass Janukowitsch letztlich aufgrund pro-europäischer Wahlkampfaussagen zum Präsidenten gewählt wurde. Wäre Russland ein vertrauenswürdiger Partner, wäre diese Politik im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker respektiert worden.

Falsch ist es auch zu behaupten, dass eine Annäherung der Ukraine an die EU die Zusammenarbeit zwischen Russland und der Ukraine unmöglich macht. Seit 1997 bestand ein ukrainisch-russisches Freihandelsabkommen, das nicht im Widerspruch zu dem Assoziierungsabkommen mit Brüssel gestanden hätte. Selbstverständlich können Freihandelsabkommen parallel zueinander bestehen. Nicht möglich war jedoch ein Abschluss des Assoziierungsabkommens unter gleichzeitiger Mitgliedschaft der Ukraine in der Eurasischen Zollunion. Letztere weist starke protektionistische Tendenzen auf und steht damit im eklatanten Gegensatz zu den Prinzipien der Welthandelsorganisation. Auch betont die Zollunion eine unabdingbare Führungsrolle Russlands, was eine faktische Neuauflage der Sowjetunion bedeutet. Wäre Russland an einer friedlichen Kooperation mit dem Westen interessiert gewesen, wäre es ein Leichtes gewesen, das Konzept der Eurasischen Zollunion so zu modifizieren, dass sie kompatibel wäre. Doch ist bis heute das Kernproblem des Konflikts, dass Russland nicht bereit ist, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine zu akzeptieren, und sie gegen ihren Willen im eigenen Einflussbereich halten möchte. Eine solche Politik hat einen Namen: Imperialismus.

Kossatschow meint: „Die EU vertrat bereits vor den Sanktionen konsequent immer härtere Positionen und zwang Russland die eigenen Regeln und Normen als universell auf. Das betraf beispielsweise das sogenannte Dritte Energiepaket zur Energiecharta.”

Indem Russland bereits im Jahr 2006 damit begonnen hatte, Gaspreise und Gaslieferungen vertragswidrig als Waffe und Disziplinierungsinstrument einzusetzen, wurde die Eskalationsspirale einseitig in Gang gesetzt. Und ja, in einer Marktwirtschaft bestimmt der Käufer und nicht der Lieferant die Konditionen. Das mag für einen auf Monopolen beruhenden Staatskapitalismus unschön sein, ist jedoch nicht verhandelbar.

Im Gegensatz zur behaupteten Konfrontationspolitik des Westens steht die Aufnahme Russlands in die G8 – eine Maßnahme, die dem wirtschaftlich wesentlich stärkeren China bis heute verwehrt geblieben ist – sowie die Möglichkeit, diverse internationale Großveranstaltungen wie etwa die Olympischen Spiele von Sotchi auszurichten. Auch die Mitgliedschaft Russlands im Europarat und die Existenz des Nato-Russland-Rates verweist die Behauptung von der angeblichen Einkreisung Russlands in das Reich der Märchen.

Kossatschow meint: „Als Russland vorschlug, ein Abkommen zur gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur zu schließen und auf die Osterweiterung der NATO zu verzichten, einen Dialog mit Slobodan Milošević oder Wiktor Janukowitsch zu führen, die Rechte der ethnischen Russen in baltischen Staaten zu thematisieren, den schon abgestimmten Plan für die Beilegung des Transnistrien-Konflikts anzunehmen, ein gemeinsames Raketenabwehrsystem oder die South-Stream-Pipeline zu bauen usw., waren die Europäer nicht an der Diskussion dieser Themen mit Russland interessiert.”

Eine wie auch immer geartete europäische Sicherheitsarchitektur kann nur auf dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker beruhen. Es war der eindeutige Wunsch der Staaten Ostmitteleuropas, dem Atlantischen Bündnis beizutreten. Wie die Ereignisse in der Ukraine und im Jahr 2008 in Georgien zeigen, geschah dies aus einer offenbar nicht ganz unbegründeten Furcht heraus.

Eine wie auch immer geartete europäische Sicherheitsarchitektur kann nur auf dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker beruhen.

Wie berechtigt gerade für die baltischen Staaten diese Furcht ist, zeigt, dass der angeblich notwendige Schutz der russischen Minderheit im Baltikum auch hier thematisiert wird. Mit denselben Argumenten – Schutz nationaler Minderheiten – erfolgte 1938 der Anschluss des Sudetenlandes durch Hitlerdeutschland und wurde 2014 die Krim-Annexion durchgeführt. Der Abzug russischer Truppen aus Transnistrien war im Übrigen für das Jahr 2001 zugesagt worden. Im Jahr 2016 stehen dort immer noch russische Truppen. Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus.

Die NATO war zu keinem Zeitpunkt gegen Russland gerichtet und die reibungslose Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland beim Kampf gegen den Terrorismus, Anfang des Jahrtausends zeigt, dass eine Kooperation der großen Militärblöcke möglich ist.

Auch sei die Frage erlaubt: Wer bedroht hier wen im Ostseeraum? Der Anzahl der Kriegsschiffe in den Ostseehäfen zufolge sind das sicher nicht die NATO-Staaten Polen, Estland, Lettland und Litauen. Und während man zu Zeiten von George W. Bush allenfalls darüber nachgedacht hat, einen defensiven Raketenschutzschirm in Polen zu errichten, stehen heute in Kaliningrad ganz real mit Atomsprengköpfen bestückbare Offensivwaffen. Also nochmals: Wer bedroht hier wen?

Kossatschow meint: „Europa ist nicht nur die EU. Daher sind Versuche eines Teiles von Europa, im Namen von ganz Europa zu sprechen und die eigenen internen Normen und Standards als universell darzustellen, inakzeptabel. (…) Zwischen Russland und der EU gibt es keinen Wertekonflikt. Es gibt Interessenkonflikte. Es gibt die Logik der Einflusssphären, die euroatlantische Institutionen zur ununterbrochenen Osterweiterung treibt. (…) Ein Kernprinzip sollte der Verzicht auf Vorbedingungen, Ultimaten und einseitige Vorwegnahmen sein. Verweise auf das „Recht des Stärkeren“ beziehungsweise die Argumentation mit Bevölkerungszahlen und Wirtschaftsmacht sind nicht stichhaltig“.

Bereits mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und später mit den beiden UN-Menschenrechtspakten hat die damalige Sowjetunion die Menschenrechte anerkannt. Mit der Aufnahme in den Europarat 1996 hat Russland sich ausdrücklich dazu verpflichtet, schrittweise sein Rechtssystem den EU-Staaten anzupassen. Lange Zeit wurde seitens der EU und des Europarats gegenüber Russland eine beispiellose Nachsicht geübt. Einige Bereiche, insbesondere freie, gleiche, geheime und faire Wahlen, eine rechtsstaatliche Ordnung, Schutz vor staatlicher Willkür und Schutz ethnischer und sexueller Minderheiten, stehen nicht zur Disposition.

Indem Russland bislang keinen dieser Punkte in geltendes Recht umgesetzt hat, zeigt sich, dass hier sehr wohl ein Wertekonflikt besteht. Wie kann es sein, dass im russischen Fernsehen zur Tötung aller Ukrainer, zum Atombombenabwurf auf NATO-Staaten und zur Eroberung von Europa aufgerufen werden kann? Sind das also die Werte der „russischen Welt“? Na dann, herzlichen Glückwunsch!

Würde im Umgang mit Russland wirklich das Recht der Stärken angewendet, etwa durch konsequente Sanktionen, einen Ausschluss des Landes aus dem SWIFT-Abkommen oder ein Öl- und Gasembargo, wäre Russland innerhalb weniger Wochen bankrott. Die Tatsache, dass das nicht geschieht, zeigt, dass niemand im Westen ein Interesse hat, Russland zu zerstören – aller Propaganda zum Trotz.

Vielmehr wurde und wird immer wieder versucht, Russland goldene Brücken zu bauen, um Vertrauen wiederherzustellen und Russland die Gesichtswahrung zu ermöglichen. Das Minsker Abkommen, bei dem ausdrücklich darauf verzichtet wurde, Russland als Kriegspartei zu bezeichnen, ist das beste Beispiel hierfür. Nein, es obliegt ausdrücklich Russland, zum international vereinbarten Wertekonsens zurückzukehren.

Polemische, propagandistische Artikel wie der von Konstantin Kossatschow sind kein geeignetes Mittel, um das verlorene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Allein eine Änderung seiner Politik kann Russland wieder in die internationale Gemeinschaft zurückführen.

Dieser Artikel erschien am 26. Mai 2016 auf der Osteuropa-Plattform der Grünen: grueneosteuropaplattform.wordpress.com/2016/05/27/replik-auf-den-artikel-von-konstantin-kossatschow-im-ipg-journal-von-16-05-2016/