Das Interview führte Daniel Kopp.

Am 10. April 2022 findet die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen statt. Mit Valérie Pécresse, Éric Zemmour und Marine Le Pen treten gleich drei rechte Kandidaten an, für die nach neuesten Umfragen 40 Prozent der Wählerschaft stimmen wollen. Vor diesem Hintergrund scheint es berechtigt, von einem Rechtsruck in der französischen Politik sprechen. Sie vertreten allerdings die Meinung, dass Umfragen keine brauchbare Basis für diesen Befund sind. Warum?

Klar ist, dass etwas in Bewegung ist – jedenfalls auf der politischen Ebene. Wir diskutieren vermehrt über Zuwanderung, Integration, Identität, über die Frage, was es heißt, französisch zu sein, und über Verschwörungstheorien in diesem Zusammenhang. Das ist in der französischen Politik definitiv ein Novum. Aber der Begriff „Rechtsruck“ wirft bei mir das eine oder andere Fragezeichen auf.

Zum einen sind da die Umfragen als solche. Sie wurden allesamt mit einer einzigen Interviewmethode durchgeführt: als Befragung im Internet. Bei den Regionalwahlen 2021 beispielsweise lagen die Umfrageprognosen für das Ergebnis von Le Pens Rassemblement National um neun bis zehn Prozentpunkte zu hoch. Wir müssen darüber nachdenken, ob Umfragen dieser Machart möglicherweise ein verzerrtes Bild liefern. Eine Kollegin und ich erstellen für die französische Menschenrechtskommission jedes Jahr ein Rassismus-Barometer. Dabei arbeiten wir in der Regel mit persönlichen Befragungen. Erst in den vergangenen fünf Jahren konnten wir persönliche Interviews mit Online-Umfragen kombinieren. Es zeigte sich, dass bei persönlichen Befragungen durchweg die Linke besser abschnitt. Diese Tatsache sagt etwas darüber aus, wie die Befragten rekrutiert werden oder – um es ganz einfach zu sagen – wer die Befragenden in seine Wohnung lässt. Online-Umfragen lieferten immer viel höhere Ergebnisse für das rechte Lager.

Das zweite Problem: Es gibt einen Unterschied zwischen denjenigen, die sagen, dass sie zur Wahl gehen, und allen anderen. Die Wahlbeteiligung vorherzusagen, war nie einfach und ist in Frankreich besonders schwierig. Drei Gruppen kommen in den Meinungsumfragen nicht vor: Angehörige der Arbeiterschaft, die sagen, dass sie nicht zur Wahl gehen werden; junge Menschen, die sagen, dass sie nicht wählen gehen werden; und auch ein Teil der links eingestellten Bürgerinnen und Bürger, die der Wahl möglicherweise fernbleiben, weil das politische Angebot des linken Lagers sie nicht überzeugt.

Diese beiden Aspekte rücken alles, was sich im Zusammenhang mit den Wählerabsichten abspielt, in ein anderes Licht.

In einer neueren Studie sprechen Sie auch von Umfragen, die in den Mainstream-Medien selten aufgegriffen werden. 2021 wurden Wählerinnen und Wähler beispielsweise gefragt, welche Themen ihnen am meisten unter den Nägeln brennen. Wenn man von dem Bild ausgeht, das die Massenmedien vermitteln, würde man annehmen, Zuwanderung sei das Thema Nummer eins. In Wahrheit rangierte die Zuwanderung nur auf Platz fünf der wichtigsten Anliegen – hinter der sozialen Sicherung, dem Klimawandel und der Kaufkraft. Wie ist vor diesem Hintergrund die Vorstellung zu interpretieren, dass sich die französische Politik nach rechts verschiebt?

Es gibt allerhand politische Akteure, denen die Vorstellung eines Rechtsrucks gefällt. Sie freuen sich, weil das ihre Wählerschaft, ihre Agenda und ihre Lösungen in den Fokus rückt. Wenn ich Éric Zemmour wäre, würde ich mich freuen, wenn wir über Zuwanderung diskutieren, und ich würde keine Gelegenheit auslassen, um noch mehr über Zuwanderung zu sprechen. Derzeit schlägt Zemmour alle zwei Wochen eine neue Maßnahme mit Schockwirkung vor. Neulich regte er die Schaffung eines „Ministeriums für Remigration“ an, das die Aufgabe bekommen soll, Menschen in ihre vermeintlichen Heimatländer zurückzubefördern. Dafür gibt es einen Begriff: Deportation. Zemmour dürfte klar sein, dass er sich damit eine Menge verfassungsrechtlicher Probleme einhandeln würde. Aber das ist nicht der springende Punkt. Entscheidend ist, dass er mit solchen Vorschlägen ins Zentrum des Nachrichtengeschehens rückt. Genau dieselbe Strategie hat Nicolas Sarkozy bei den Wahlen 2007 angewandt.

Eher neu ist hingegen, dass die französische Medienlandschaft zum Problem wird. Wir kennen das nur allzu gut aus der amerikanischen Politik. Es vollzieht sich ein Wandel bei den Nachrichtensendern. Nachrichten sollten weder Unterhaltungs- noch Meinungscharakter haben, sondern Informationen liefern. Inzwischen entwickeln die Nachrichtenkanäle aber unverkennbar ihre eigene politische Agenda. Das wäre 2007 in Frankreichs öffentlich-rechtlichen und privaten Medien unmöglich gewesen. Mittlerweile werden in manchen Nachrichtensendungen Leute als Experten aufgeboten, die lediglich Mitglieder der Partei von Éric Zemmour sind.

Kurzum, lassen Sie uns mit dem Begriff des Rechtsrucks vorsichtig sein – sowohl in Bezug auf die Agenda als auch auf die Werte. Viele Fragen spielen hier eine Rolle. Sind Sie für oder gegen Umverteilung? Für oder gegen Einwanderung? Für oder gegen die Gleichstellung der Geschlechter? Tatsächlich zeigt sich, dass die Unterstützung für linke sozioökonomische Werte, aber auch für kulturelle Werte in Frankreich immer noch sehr hoch ist.

Sie haben einen Index für die Toleranz entwickelt. Er zeigt, dass die französische Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren toleranter geworden ist. Was bedeutet das konkret?

Dieser Index ist sehr zuverlässig. Er erfasst, wie sich die Toleranz von 1990 bis 2019 entwickelt hat. Dabei zeigt sich ein Trend hin zu größerer Toleranz, dessen Motor der Generationenwechsel ist. Je jünger die Menschen sind, umso größer ist ihre Toleranz. Nicht zuletzt ist es auch eine Bildungsfrage. Mit dem zunehmend höheren Bildungsstand der französischen Bevölkerung nimmt auch deren Toleranz zu. Zudem sind selbst die Ältesten heute toleranter als noch vor 20 oder 30 Jahren. Beispielsweise haben sie die Vorstellung, dass es „okay“ ist, eine andere sexuelle Orientierung zu haben oder einer anderen Religionsgemeinschaft anzugehören, in ihr Denken integriert.

Es gibt die ein oder andere Schwankung in Abhängigkeit davon, wer gerade an der Regierung ist. Wenn die Linke an der Regierung ist, nimmt die Toleranz meistens ab. Unter rechten Regierungen nimmt die Toleranz zu. Das sagt viel über die Art und Weise aus, wie die Gesellschaft mit ihrer inneren Vielfalt umgeht. Besonders auffällig war das nach den Terroranschlägen in Frankreich im November 2015. Da hätte man, ähnlich wie seinerzeit in den USA, eine Zunahme der Islamfeindlichkeit erwarten können. Das passierte aber nicht. Die französische Gesellschaft war weitgehend in der Lage, zwischen Terrorismus, Islamismus und der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft des Islams zu differenzieren.

Das klingt so, als wären die Rahmenbedingungen für ein Erstarken der Linken günstig. Warum ist die Linke aktuell nicht stärker?

Auffallend ist, dass die traditionelle Rechte – sogar Marine Le Pen und Éric Zemmour – sozusagen „als Letzte die Stellung hält“. Ich will damit sagen, dass die meisten französischen Wählerinnen und Wähler inzwischen ein grundsätzliches Problem mit dem politischen Angebot insgesamt haben. Das zeigt sich deutlich, sobald man sie nach ihrer Nähe zu einer politischen Partei fragt: Würden Sie sich dem linken oder dem rechten Spektrum zuordnen? Die Leute kennen die Akteure und wissen, wer links oder rechts steht. Aber sich selbst wollen sie in dieses Spektrum nicht mehr einordnen – selbst wenn sie eine klare Werteorientierung erkennen lassen und beispielsweise entschieden für Umverteilung oder kulturelle Vielfalt sind.

In der Vergangenheit standen solche Menschen üblicherweise einer bestimmten Partei nahe. Das ist nun nicht mehr so. Und das trifft die Linke stärker. Zum Teil liegt das daran, dass das rechte Lager sehr fest mit den Ältesten und Reichsten verbunden ist. Die natürliche Wählerschaft der linken Parteien sind junge Menschen und Millennials – die dem politischen Angebot jedoch kein Vertrauen mehr entgegenbringen.

Das könnte bedeuten, dass die Rechte die Wahl kampflos gewinnt – weil die Gegenseite es einfach nicht schafft, eine neue Wahlbindung zu vielen Bürgerinnen und Bürgern aufzubauen. Das ist ausgesprochen beunruhigend.

Ist das der Grund, warum die Linke derzeit so schwach ist?

Das aktuelle Tief ist kein Exklusivproblem der linken Parteien. Auch La Republique En Marche!, Les Républicains oder sogar der Rassemblement National haben im Grunde keinen festen Bezug mehr zur französischen Gesellschaft. Früher haben wir Parteien als gesellschaftlichen Verbund betrachtet. Diese Zeiten sind vorbei. Und das wirkt sich vor allem auf das linke Lager aus.

Das zeigt sich zum Beispiel an Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise, der jetzt seinen dritten Präsidentschaftswahlkampf bestreitet. Jeder kennt ihn. Jeder weiß um seine Qualitäten und Defizite. Aber er ist nicht der Typ, der sich mit anderen an einen Tisch setzt und sich von den Menschen Rat holt. Er macht, was er will.

Millionen von Französinnen und Franzosen stehen ökologischen Organisationen und Vereinen nahe, kaufen regionale Produkte und Ähnliches mehr. Aber die Grünen als Partei haben nicht einmal 10 000 Mitglieder. Das ist verschwindend wenig.

Und was ist mit den Sozialisten, die einmal Frankreichs führende Partei waren? Sie liegen in den Umfragen bei knapp unter zwei Prozent. Als Benoît Hamon 2017 für sie sechs Prozent der Stimmen holte, wurde das als Betriebsunfall gewertet. Was heute geschieht, ist eine Katastrophe. Wenn die Linke sich als politisches Angebot neu formieren will, hat sie ein großes Stück Arbeit vor sich.

 

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld