Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Nach dem Alaska-Gipfel sowie dem Besuch der europäischen Staats- und Regierungschefs in Washington konzentriert sich die aktuelle Debatte stark auf territoriale Fragen, Sicherheitsgarantien und eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptgrund für Putins Invasion in die Ukraine?

All diese Faktoren sind wichtig, aber sie stehen nicht im Zentrum des Konflikts. Putins Hauptmotivation ist es, die ukrainische Demokratie zu zerstören, damit sie nicht länger als Vorbild für das russische Volk und als Alternative zu seiner erstarrten Autokratie dient. Das muss man verstehen, um zu begreifen, was nötig wäre, damit Putin eine Waffenruhe nicht dazu nutzt, seine geschwächten Truppen wiederaufzubauen, sich neu zu bewaffnen und erneut einzumarschieren. Aus Putins Sicht ist das Ziel des Krieges nicht erreicht, solange die ukrainische Demokratie noch funktioniert. Jede ernsthafte Lösung muss deshalb sicherstellen, dass er in absehbarer Zeit keine neue Gelegenheit bekommt, die Ukraine zu zerstören.

Wie genau bedroht das demokratische System der Ukraine Putins Machterhalt in Russland? Schließlich kämpft die Ukraine unter anderem selbst mit Korruption sowie eingeschränkter Pressefreiheit und ist sicherlich kein makelloses Vorbild der Demokratie?

Niemand würde behaupten, die Ukraine sei eine perfekte Demokratie. Aber sie ist eine funktionierende Demokratie. Es gibt echte Wahlen mit Machtwechseln – Dinge, die es in Russland nicht gibt, die sich aber viele Russen wünschen. Besonders bedeutend ist die Ukraine vor allem, weil sie der zweitgrößte postsowjetische Staat nach Russland ist. Sie ist slawisch, orthodox und ähnelt Russland in vielerlei Hinsicht. Deshalb hat sie eine besondere Bedeutung für die russische Bevölkerung. Viele Russen sind offenkundig unzufrieden mit der autokratischen Entwicklung ihres Landes. Hätte Putin den Dissens nicht unterdrückt und sich nicht mit einer unterwürfigen Echo-Kammer umgeben, müssten die Russen heute nicht die Folgen seiner Entscheidung tragen, die Ukraine zu überfallen.

Ihnen zufolge ist dieser Krieg im Kern ein Kampf zwischen Demokratie und Autokratie. Ist das nicht ein bequemes westliches Narrativ, welches die komplexen ethnischen, territorialen und sicherheitspolitischen Faktoren ausblendet, die Konflikte – auch in Osteuropa – oft antreiben?

Putin sehnt sich eindeutig nach einer Wiederauferstehung der Sowjetunion, dessen Zusammenbruch er als größte Katastrophe des letzten Jahrhunderts bezeichnet hat. Aber das ist keine realistische Option – allein schon, weil drei ehemalige Sowjetrepubliken, Litauen, Lettland und Estland, heute NATO-Mitglieder sind. Und auch die anderen Staaten wollen keinesfalls zurück unter Moskaus Kontrolle.

Putin spricht auch von der angeblichen Bedrohung durch eine NATO-Erweiterung. Doch seine Invasion hat die NATO vor allem stärker gemacht: Schweden und Finnland sind beigetreten. Gerade Finnland bringt eine ernst zu nehmende militärische Kapazität in das Bündnis ein.

Die Vorstellung, dieser Krieg sei eine angemessene Reaktion auf die NATO-Erweiterung, ist schlicht unrealistisch.

Außerdem hat er die NATO-Mitglieder zu massiven, wenn auch bislang meist nur versprochenen, Ausgabensteigerungen für die Verteidigung gedrängt. In vielen Szenarien nach dem Krieg ist sogar eine europäische Truppenpräsenz in der Ukraine vorgesehen – also genau das Gegenteil dessen, was Putin vorgibt, verhindern zu wollen.

Die Vorstellung, dieser Krieg sei eine angemessene Reaktion auf die NATO-Erweiterung, ist schlicht unrealistisch. Ein NATO-Beitritt der Ukraine war ohnehin eine ferne Aussicht, weil Artikel 5 des NATO-Vertrags bedeutet hätte, dass die Bündnisstaaten sofort im Krieg mit Russland stünden. Das war nie realistisch. Ich halte das für eine bequeme Rationalisierung für eine Invasion, die tatsächlich von ganz anderen Motiven angetrieben ist.

Manche im Westen meinen, ein „Gebietstausch“ oder territoriale Zugeständnisse könnten den Weg zum Frieden ebnen. Warum halten Sie solche Kompromisse für gefährlich?

Zunächst einmal: Die Rede von einem möglichen „Gebietstausch“ – ein Begriff, den Trump geprägt hat – verharmlost das Ganze. Es klingt, als ginge es um einen Immobilien-Deal, und nicht um den Kampf für die Demokratie. Ich persönlich würde nicht darauf bestehen, dass die Ukraine jedes letzte Stück postsowjetisches Territorium behält. Aber Putin fordert jetzt, dass die Ukraine große Teile der Region Donezk abtritt, die Russland bislang gar nicht kontrolliert – Land, auf dem Hunderttausende Menschen leben.

Dieses Gebiet ist faktisch die Maginot-Linie der Ukraine, wo sie sehr umfassende Verteidigungsanlagen errichtet hat. Würde die Ukraine das aufgeben, hätte Putin freie Bahn für das, was er wirklich will: den Marsch auf Kiew und die Zerschlagung der ukrainischen Demokratie. Es ist ein Fehler, über „Gebietstausch“ zu reden, als ginge es bloß um Territorium. Dieses Gebiet ist nicht nur die Heimat vieler Ukrainer, es ist auch entscheidend für die Verteidigung des Landes – in mancher Hinsicht sogar wichtiger als die vorgeschlagenen europäischen Friedenstruppen, die eine Nachkriegs-Ukraine absichern sollen.

Sie selbst sprechen sich für europäische Friedenstruppen in der Ukraine aus. Wie realistisch ist das angesichts von Russlands tiefer Abneigung gegen jegliche westliche Einmischung in seinem „Hinterhof“? Würde das nicht ein katastrophales Eskalationsrisiko bergen?

Derzeit besteht Russland darauf, jede Art von Sicherheitsgarantie mit einem Veto blockieren zu können – und es würde das, was momentan auf dem Tisch liegt, natürlich ablehnen. Aber gäbe man Moskau dieses Veto, würde man de facto den Weg für eine erneute Invasion freimachen. Das darf der Westen nicht akzeptieren. Die Ukrainer werden dies ohnehin nicht tun. Putin wird nicht alles bekommen, was er will.

Putin wird nicht alles bekommen, was er will.

Das alles ist Teil seiner maximalistischen Agenda. Er glaubt, in der Ukraine schrittweise kleine Geländegewinne machen zu können. Putin zeigt sich gleichgültig gegenüber den massiven Verlusten russischer Soldaten und ist bereit, weiterhin russische Männer zu opfern, um minimale Geländegewinne zu erzielen. Aber es gibt Grenzen. Eine ist, dass ihm irgendwann die Männer ausgehen könnten, die sich, trotz immer höherer Zahlungen an ihre Familien, in diesen Fleischwolf schicken lassen.

Eine weitere Grenze könnte entstehen, wenn Trump endlich über bloße Rhetorik hinausginge und seine Drohung mit „schweren Konsequenzen“ bei einer Weigerung Putins, einem Waffenstillstand zuzustimmen, tatsächlich wahrmachen würde. Das könnte neue Zölle oder andere Formen von Druck bedeuten – die Art von Druck, die Trump bislang nicht bereit war auszuüben. Solche Maßnahmen könnten die Kosten für Putins Starrsinn erhöhen und ihn eher zu den Kompromissen bewegen, die für einen dauerhaften Waffenstillstand nötig sind.

Sicherheitsgarantien gelten als entscheidend für die Ukraine. Welche Art von Garantien wären einerseits realistisch und zugleich wirksam, um eine weitere russische Aggression abzuschrecken?

Man darf nicht vergessen, dass sich die Ukraine vor dem Hintergrund früherer Sicherheitsgarantien im Stich gelassen fühlt – allen voran vom Budapester Memorandum. Damals gab die Ukraine ihre Atomwaffen auf, im Gegenzug für das Versprechen bestimmter europäischer Staaten, der USA und Russlands, ihre territoriale Integrität zu garantieren. Dieses Memorandum war am Ende wertlos. Es ist verständlich, dass die Ukraine diesmal etwas Verbindlicheres will.

Am wichtigsten ist, die ukrainischen Streitkräfte selbst zu stärken. Sie haben den größten Anreiz zu kämpfen und haben sich als sehr effektiv erwiesen. Putins Forderung nach einer Demilitarisierung der Ukraine ist nichts anderes als eine Vorbereitung für eine erneute Invasion.

Darüber hinaus wäre es sinnvoll, eine internationale Friedenstruppe als sogenannten „Stolperdraht“ zu stationieren, um eine weitere russische Aggression abzuschrecken. Was realistische Optionen angeht: Frankreich und Großbritannien sind bereit, Soldaten zu entsenden. Deutschland denkt darüber nach, und ich hoffe, es geht diesen Schritt, denn Deutschland wäre ein sehr wichtiger Teil einer solchen Truppe.

Zugleich wollen alle europäischen Truppen verständlicherweise eine amerikanische Rückendeckung: keine US-Soldaten vor Ort, aber US-Luft- und -Aufklärungsunterstützung als zusätzliche Abschreckung gegen eine mögliche russische Attacke.

Sie kritisieren, dass wichtige Fragen von Krieg und Frieden von Trump und seinem „fragilen Ego“ abhängen. Ist das nicht letztlich eine Folge des aktuellen Kräfteverhältnisses – und der Schwäche Europas?

Es ist erschreckend, dass Entscheidungen über Leben und Tod, der Kampf Demokratie versus Autokratie, so stark von einem launischen, selbstbezogenen amerikanischen Präsidenten abhängen. Aber leider ist das die Realität.

Und Sie haben recht: Das ist zum Teil eine Folge der militärischen Schwäche Europas. Europa hat seine Verteidigung lange vernachlässigt und sich darauf verlassen, dass die USA die überwältigende Macht innerhalb der NATO stellen. Das war für viele frühere US-Präsidenten in Ordnung, aber für Trump ist es nicht mehr akzeptabel.

Ich bin sicher, es ist für die europäischen Staats- und Regierungschefs beschämend, diese Charaden im Weißen Haus über sich ergehen zu lassen.

So sehr Europa verständlicherweise andere Ausgabenprioritäten hat: Ich sehe angesichts von Trumps Unzuverlässigkeit keine Alternative, als die Militärausgaben deutlich zu erhöhen. Bis dahin – und das geschieht nicht über Nacht – ist es entscheidend, Trump dazu zu bringen, eine ernsthafte Rückendeckung für eine europäische Sicherungstruppe in der Ukraine zu leisten. Und das erfordert leider, auf Trump einzugehen: sein fragiles Ego zu streicheln, sein Selbstwertgefühl aufzupolieren.

Ich bin sicher, es ist für die europäischen Staats- und Regierungschefs beschämend, diese Charaden im Weißen Haus über sich ergehen zu lassen. Aber leider ist es angesichts der enormen Macht der USA und der relativen militärischen Schwäche Europas notwendig.

Was sollten westliche Regierungen nun konkret tun, um die Kosten von Putins Krieg in die Höhe zu treiben und die Überlebenschancen der Ukraine zu stärken?

Für die Europäische Union ist es entscheidend, sich langfristig und auf hohem Niveau zur Aufrüstung der Ukraine zu verpflichten. Ein weiteres Thema sind die eingefrorenen russischen Vermögenswerte, die größtenteils in europäischen Banken liegen. Während die Erträge aus diesen Vermögen derzeit für die Ukraine genutzt werden, gelten die Vermögenswerte selbst als unantastbar. Das muss neu diskutiert werden, denn sie könnten eine enorme Finanzquelle sein – sowohl für die militärische Unterstützung als auch für den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Teile der Ukraine.

Darüber hinaus ist es entscheidend, die beträchtliche Macht der US-Regierung einzubeziehen. Ich würde mir wünschen, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs auf strategisch kluge Weise Druck auf Trump ausüben, damit er nicht nur leere Drohungen ausspricht, sondern tatsächlich die „schweren Konsequenzen“ umsetzt, die er angekündigt hat, falls Putin bei seiner kompromisslosen Haltung bleibt.

Und wie steht es mit Verhandlungen?

Natürlich sollte eine Verhandlungslösung angestrebt werden. Es wird keinen klaren militärischen Sieg auf der einen oder der anderen Seite geben. Angesichts der enormen Opfer und Kosten ist eine Lösung durch Verhandlungen wünschenswert.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand ausschließt, mit Putin zu verhandeln. Aber ich würde mir wünschen, dass die Europäer stärker eingebunden sind – das wollen sie auch selbst. Zumindest muss es direkte Gespräche zwischen der Ukraine und Putin geben, nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg.

Europa wird angesichts der Macht Washingtons die USA bei diesen Gesprächen nicht ersetzen können. Aber ich würde es sehr begrüßen, wenn Europa einen festen Platz am Verhandlungstisch hätte.