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Interview von Daniel Kopp
Bei den Landeswahlen in Thüringen hat die Alternative für Deutschland unter dem rechtsextremen Landeschef Björn Höcke Ende Oktober 23 Prozent eingefahren. Was ist da passiert?
Es zeigt sich, dass die Aktivitäten, die gegen die AfD eingesetzt werden, bislang nicht dazu beitragen, dass sie an der Urne an Attraktivität verliert. Also haben wir bisher auch noch kein funktionierendes Mittel, um AfD-Wähler wieder zurückzugewinnen. Vielmehr scheint ein größerer Teil von ihnen gegenwärtig durch Argumente der anderen Parteien gar nicht mehr ansprechbar. Ein anderer Teil sieht in ihrer AfD-Wahl eine passable Art, den eigenen Unmut zu artikulieren und glaubt sich in der öffentlichen Wirkung bestätigt. Jedenfalls ist die Partei sowohl wegen als auch trotz Höcke gewählt worden.
In Ihrem Buch „Smarte Spalter“ beschreiben Sie rechtspopulistische Parteien als „Phänomen, das für zentrale ungelöste Fragen einer sich globalisierenden Moderne steht“. Um welche Fragen handelt es sich dabei? Und haben die traditionellen Parteien noch eine Chance, diese Frage zu lösen, um den Rechtspopulismus auszubremsen?
Kurzfristig nicht. Mittelfristig schon, wenn sie angemessen analysieren und passende Konsequenzen ziehen. Die immer wiederkehrenden Herausforderungen für die repräsentative, parlamentarische Demokratie berühren sowohl ökonomisch-soziale wie auch gesellschaftlich-kulturelle Probleme. Es ist nicht einfach so — obwohl häufig der Anschein erweckt wird —, dass die kulturellen Konfliktlagen, die mit den Themen Migration und Klima zusammenhängen, alles erklären können. Die Ursachen liegen tiefer, haben auch starke soziale Dimensionen. Offensichtlich ist, dass sich die parallelgesellschaftliche Entkopplung der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Welt zu zementieren scheint. Diese komplexe Gemengelage spiegelt sich in der Gegenüberstellung von kosmopolitischen und kommunitaristischen Haltungen wider. Dahinter verbergen sich allerdings nicht nur sozio-kulturelle, sondern ebenso sozio-ökonomische Ursachen.
Welchen Anteil haben die politischen Eliten an der rechtspopulistischen Dynamik in Deutschland?
Es geht um die Versprechen der Demokratie, einer gleichen Freiheit für alle. Und das ist natürlich ein sehr anspruchsvolles Projekt, welches in der Realität vielfach nicht so plausibel ausfällt. Das zeigt sich schon daran, dass der obszöne Reichtum in den letzten Jahren ohne Abstriche gestiegen ist, während von unten keine Aufwärtsentwicklung erkennbar ist. Das scheint für diejenigen, die den obszönen Reichtum genießen, kaum oder gar kein Problem sein.
Ein weiteres Problem geht mit den negativen Seiten der Einwanderung einher, die eher die unteren und mittleren Schichten belasten, weil sie mit Lohndumping, Arbeitsplatzkonkurrenz und unmittelbaren Konflikten in ihrer Nachbarschaft konfrontiert sind, während die Oberschichten eher die positiven Seiten genießen; beispielsweise in Gestalt von billigen Arbeitskräften und besseren gastronomischen Angeboten.
Die Rechte greift diese Widersprüche auf eine durchaus geschickte Weise auf, indem sie vordergründig für die „Verlierer“ Partei ergreift, das Volk gegen die Elite setzt und damit auch die Präferenzen bis hin zur Arroganz der Eliten thematisiert. Das versucht sie thematisch beispielsweise beim Euro, bei den Null-Zinsen auf den Sparkonten, bei den negativen Folgen der multiethnischen Gesellschaft und nicht zuletzt beim Klima. Und dabei inszeniert sie eine Kampagne des Volks gegen das Establishment.
Dadurch kommt es zu einer starken Herausforderung, ob die Eliten der liberalen Demokratie wirklich so integrationsfähig sind, dass sie die gesamte Breite der Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Belastbarkeiten vor Augen haben. Auf der einen Seite treten die Protagonisten der Moderne als Sprecher universalistischer Werte auf; auf der anderen Seite wirken sie häufig ausgeprägt selbstreferentiell und selektiv. Und aus dieser Perspektive kann ihnen auch zu Recht vorgeworfen werden, dass sie selbst den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden.
Was meinen Sie genau mit der Integrationsschwäche der Eliten?
Die Aufgabe der Führungsgruppen in Parteien und Regierung ist es nicht nur, die Bedürfnisse und Gefühlslagen der Gesellschaft zu verstehen und damit kommunizieren zu können. Sondern sie müssen darauf handfest reagieren, also investieren und anerkennen. Aber wenn das Verstehen und Mitfühlen mit den Anderen nur unzureichend funktioniert und stattdessen ein blutleerer Technokratismus praktiziert wird, ist es kaum möglich, die gesellschaftlichen Problemlagen zu adressieren. Da merken die Menschen, dass diese technokratische Ansprache, die scheinbar an alle adressiert sein soll, in Wirklichkeit häufig doch sehr partikular ist, kulturell und auch ökonomisch selbstreferenziell. Wenn Politik zu selbstreferenziell wird, dann ist die Gefahr sehr groß, dass sie sich von den schwächeren Teilen der Gesellschaft entkoppelt.
Wäre es dann eine Aufgabe für die traditionellen Parteien, die verschiedenen Interessen gesellschaftlicher Gruppen wieder stärker zu adressieren?
Unbedingt, im Sinne der Sensibilität, dass ein und dieselbe Maßnahme unterschiedliche soziale und kulturelle Auswirkungen hat. Es geht also darum, dass die universellen Werte gleicher Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf unterschiedliche Lebenslagen bezogen werden. Und da gibt es schon erheblichen Nachholbedarf.
Wie steht es um die Rolle des Nationalstaates?
Der Vorwurf lautet, dass die Politik nicht mehr die Kontrolle hat, weil sie den Nationalstaat schon längst preisgegeben hat. Sie nehme die unmittelbaren Gestaltungsmöglichkeiten territorialer Politik unzureichend wahr.
An dieser Perspektive ist auch ein Fünkchen Wahrheit: Denn tatsächlich gibt es nicht nur eine Überforderung des Nationalstaates, sondern auch eine Unterforderung – man denke zum Beispiel an die Schuldenbremse. Andererseits ist die Forderung nach einem Rückzug auf den Nationalstaat auch begleitet durch die Geringschätzung globalisierungspolitischer Herausforderungen im ökonomischen und ökologischen Bereich.
In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass es zwar keine einheitliche Strategie gibt, um mit Parteien umzugehen, die die Grenzen des demokratischen Rechtsstaats übertreten. Doch Ausgrenzen müsse immer Teil einer solchen Strategie sein. Die Rechtspopulisten stilisieren sich gerne als Stimme des Volkes auf der einen Seite, und Opfer, das nicht ernst genommen wird, auf der anderen. Riskiert man mit der Ausgrenzungsstrategie nicht, zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft beizutragen?
Wenn man mal reflektiert, wie Demokratie funktioniert, dann gibt es eine gewisse Plausibilität für die Beobachtung, dass Demokratie ohne eine Strategie der begründeten Ausgrenzung überhaupt nicht denkbar ist. Das heißt also, man braucht schon eine Sanktions- und Ausgrenzungskraft, um den schmalen Grad der Zivilität des demokratischen Projektes wahren zu können. Das ist ja auch Teil des grundgesetzlich verbrieften Anspruches, eine wehrhafte Demokratie zu sein.
Das Problem, was wir in der öffentlichen Debatte haben, ist aber, dass wir primär über Ausgrenzung reden. Aber sie ist ja das letzte Instrument in einer längeren Kette von Reaktionen, die mit anderen Maßnahmen zum Zuge kommt. Die häufigste Form ist das Ignorieren: Gemeint ist damit, dass man nicht jede durchaus auch ernstgemeinte Verletzung von Wertepositionen gleich zum großen Skandal erklären muss. Dann gibt es aber auch das Abgrenzen und sich auseinandersetzen und das Begrenzte einbinden. Der Erfolg der Rechtspopulisten lässt sich ja nicht nur durch Demagogie erklären, sondern eben auch damit, dass sie ein paar Punkte benennen, die durch den Konsens der Anderen unter den Teppich gekehrt werden.
Hat sich in den vergangenen vier Jahren der Umgang der etablierten Parteien mit den Rechtspopulisten verbessert?
Mein Eindruck ist, dass sie am Anfang komplett überfordert waren. Mittlerweile hat sich dann so eine gewisse Routine im Umgang mit der AfD, mit den Rechtspopulisten ergeben. Gleichwohl ist das Ergebnis unserer Beobachtungen, dass es nach wie vor enorm viel Unsicherheit gibt. Es wird noch lange kein wirklich souveräner Umgang mit der AfD praktiziert, der mit Kenntnis der Ursachen und Folgen verbundenen ist.
Das hängt aber auch mit der AfD selbst zusammen, die ein schwer berechenbarer Akteur ist – vor allem deshalb, weil in ihrem Inneren permanente Kämpfe zwischen Radikalen und Gemäßigten stattfinden und die Außenstehenden nie so genau wissen, welche Rolle diese Positionen für die Partei und deren aktuelle strategische Positionierung spielen. Gegenwärtig haben wir das Problem, dass der radikale Flügel die öffentliche Debatte bestimmt und sich deshalb alles auf die AfD-Landeschefs Höcke und Kalbitz kapriziert. Auf der anderen Seite ist aber die Schwäche des pragmatischen, parlamentsorientierten Flügels das primäre Problem. Die sind nämlich nicht in der Lage, diesem radikalen Flügel wirklich etwas entgegenzusetzen. Auf jeden Fall sind die Radikalen in der Offensive und die Gemäßigten in der Defensive.
Wenn man sich die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen anschaut, die sich teilweise der 30 Prozent-Marke nähern, fragt man sich: Wie wahrscheinlich ist es, dass die AfD eine neue Volkspartei wird?
Volkspartei heißt nicht nur, dass dort Teile aller gesellschaftlichen Schichten vertreten und abgebildet werden, sondern es geht hier auch um eine Repräsentanz der Interessen und Werte dieser Gruppen. Diese Repräsentanz hat immer auch ein Stück weit etwas zu tun mit dem Lebensgefühl einer Gesellschaft, mit Responsivität, mit Integrationsfähigkeit und mit dem Umgang mit Minderheiten.
Die AfD ist aus einer bestimmten normativen Perspektive noch keine Volkspartei demokratischer Art, weil sie bislang nicht unter Beweis gestellt hat, dass sie wirklich responsiv, integrationsfähig und auch gegenüber Minderheiten sensibel vorgehen kann. Stattdessen artikuliert sie ein gewisses schichtenübergreifendes Protestgefühl. Ob sich aus diesem Protestgefühl mehr machen lässt, als die Ablehnung der liberalen Ordnung, das sieht gegenwärtig nicht so aus. Während die positive Begrifflichkeit der Volkspartei darauf zielt, dass der Pluralismus akzeptiert wird und zugleich eine positive Integration aller anvisiert wird, ist die AfD gegenwärtig eine antipluralistische, ausgrenzende und sich abschottende Volkspartei der Unzufriedenen.
In der Forschung wurde lange behauptet, dass es in Deutschland keine Chance auf eine Parlamentarisierung einer rechtspopulistischen Partei gebe. Da wurde von einem „deutschen Sonderweg“ gesprochen. Die AfD hat diese Annahme nun empirisch widerlegt. Heißt das umgekehrt, dass sie anderen rechtspopulistischen Parteien Europas im Prinzip ganz ähnlich ist?
Dieser deutsche Sonderweg hatte immer ein Element von Verklärung: Tatsache ist, dass wir schon in den Fünfzigerjahren eine rechtsextreme Partei im Bundestag hatten, und dass 1969 die NPD ganz knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist. Seit den 1970er Jahren waren in Landesparlamenten rechtsextreme Parteien präsent. Zieht man die Umfragen seit den Fünfzigerjahren heran, so sind stets um die 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland rechtspopulistisch ansprechbar gewesen.
Aber im Gegensatz zu manchen anderen Ländern gab es in Deutschland keine rechtspopulistischen Parteien, die längerfristig erfolgreich waren. Vielmehr waren sie meist nur relativ kurzfristig präsent und haben sich häufig in innerparteilichen Kämpfen erschöpft, sind also an ihren inneren Widersprüchen gescheitert.
Eine deutliche Differenz scheint mir darin zu bestehen, dass die meisten anderen erfolgreichen rechten Parteien sehr stark führungsorientierte Parteien sind: in Frankreich Le Pen, in den Niederlanden Wilders, in Italien Salvini. Interessanterweise ist das bei der AfD nicht so. Es ist offen, wie dies zu bewerten ist: Ist es für sie ein Vorteil, weil nur so die Koalition der heterogenen Kräfte funktionieren kann? Oder ist das Nichtvorhandensein eines starken Führungszentrums in der AfD eher von Nachteil, weil es die wechselseitigen Angriffe bis zur Zerstörung verstärkt? Gegenwärtig hat man den Eindruck, dass die schwache Position des Steuerungszentrums in der Bundestagsfraktion schon ein Problem für die ganze Partei darstellt.
Ich hätte eher den Eindruck, dass sich die AfD institutionell konsolidiert – sie baut jetzt zum Beispiel ihre eigene Stiftung auf.
Ja, das ist schon ein richtiges Stichwort. Auf der einen Seite konsolidiert sie sich durch ihr von Staat und Gesellschaft zur Verfügung gestellten Ressourcen. Sie richtet sich also im System der parlamentarischen Demokratie ein – durch Mandate, Posten, Vereine, Stiftungen und Karrieren. Auf der anderen Seite hat sie aber bisher keinen inneren Mechanismus gefunden, der wirklich die Konsolidierung der Partei im Sinne der Akzeptanz des parlamentarisch-repräsentativen Kontextes zur Folge gehabt hätte.
Das heißt: Man muss unterstellen, dass der recht hohe Anteil der Rechtsextremisten in der AfD, der nur ein taktisches Verhältnis zu den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie hat, dominiert. Denn durch die eher graue, stille und kaum erkennbare Politik des eher pragmatischen Flügels ließe sich das Erfolgsmodell der AfD nicht so ohne weiteres erklären. Die Mischung von pragmatisch und radikal verantwortet bei der AfD diese Erfolgsdynamik.
Und wenn in dieser Erfolgsdynamik, die bislang zu einem Ausgleich zwischen den Kräften geführt hat, der programmatisch radikalere Teil die politische Führung übernimmt, dann ließe sich dieses Projekt nicht so einfach fortführen. Dann steht sie nämlich vor den Toren des Verfassungsschutzes und würde sich vermutlich in den inneren Widersprüchen – ähnlich der Selbstzerstörung ihrer Vorgängerorganisationen – verlieren. Jedenfalls können dass die Akteure und Institutionen der wehrhaften Demokratie nicht hinnehmen, sondern müssten dem entschieden Einhalt gebieten.
Das Buch "Smarte Spalter: Die AfD zwischen Bewegung im Parlament", herausgegeben von Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels, ist im Oktober 2019 im Dietz-Verlag erschienen.