Vidkun Quisling, Norwegens Faschistenführer während des Krieges, dessen Name zu einen Synonym für die Kollaboration mit dem Bösen geworden ist, lebte mit seiner Frau in einer ziemlich grandiosen Villa außerhalb von Oslo. Diese Villa dient heute als das norwegische Zentrum für Holocaust- und Minderheitenstudien – eine schöne Umwidmung eines befleckten Ortes.
Anfang dieses Jahres besuchte ich das Zentrum aus Anlass einer faszinierenden Ausstellung zur 1814 verkündeten ersten Verfassung des unabhängigen Norwegens. Sie war ein bemerkenswert aufgeklärtes und fortschrittliches Dokument, verfasst von Gelehrten mit umfassendem geschichtlichen, rechtswissenschaftlichem und philosophischem Hintergrund. Einige waren Experten für klassische griechische Literatur, andere für das antike Hebräisch; alle waren begeisterte Leser von Kant und Voltaire.
Eine besonders bemerkenswerte Klausel enthält das Dokument jedoch: Artikel II proklamiert in dem evangelisch-lutherischen Staat die Religionsfreiheit, mit der Einschränkung jedoch, dass „Juden trotzdem vom Besuch des Reiches ausgeschlossen sind“. Das war selbst für die damalige Zeit merkwürdig. Der im selben Jahr besiegte Napoleon hatte den Juden in den von ihm eroberten Ländern die Bürgerrechte eingeräumt. Und just bevor die Klausel in das norwegische Recht einging, hatte der König von Dänemark den Juden in seinem Reich die Staatsbürgerschaft gewährt.
Unvereinbarkeit der jüdischen Gewohnheiten
Am interessantesten in Bezug auf Norwegens Verfassung des Jahres 1814 ist nicht, dass sie diese Klausel enthält, sondern warum. Die erklärten Motive der Intellektuellen, die sie formuliert hatten, waren nicht rassistischer Art; sie sahen die Juden nicht als biologisch minderwertig an. Vielmehr ging es ihnen um Fragen von Kultur und Glauben: Die jüdischen Ansichten und Gewohnheiten wurden als mit den modernen, aufgeklärten westlichen Werten unvereinbar betrachtet.
Einer der Verfasser, Frederik Motzfeldt, argumentierte, dass die Juden sich nie an die Menschen irgendeines Landes assimilieren würden. Ein anderer machte geltend, dass das Judentum seine Anhänger ermutige, Christen und andere Nichtjuden zu täuschen. Die Juden, so die Ansicht, würden immer ein „Staat im Staate“ sein. Experten für hebräische Kultur erläuterten, dass das Judentum und die norwegische Verfassung unvereinbar seien. Das mosaische Gesetz sei die einzige Verfassung, die von den Juden anerkannt werde, und sei daher zu fürchten. Deswegen sei es für Norwegen das Beste, Juden die Staatsbürgerschaft zu verweigern.
Die wesentliche Frage war also Religion und nicht Rasse – auch wenn beide leicht verwechselt werden könnten. Wie Håkon Harket, der größte norwegische Experte für die antijüdische Klausel, erklärt: „Selbst jene, die sich für die Bürgerrechte der Juden einsetzten, hegten häufig den Ehrgeiz, die Juden vom Judentum zu befreien.“
Die Aufklärung als Chiffre westlicher Werte
Man braucht die Parallelen zu den aktuellen Vorstellungen über die Muslime und den Islam kaum zu betonen. Auch heute beruft man sich auf die Aufklärung als eine Chiffre für die westlichen Werte, die angeblich Gefahr laufen, „islamisiert“ zu werden. Auch heute warnen die Leute vor muslimischen Schwindlern, einem Staat im Staate und der Unmöglichkeit der Assimilierung.
Sicher gab es 1814 kein jüdisches Äquivalent zum gewalttätigen Dschihadismus, der heute im Westen die Beziehungen zu den Muslimen vergiftet. Trotzdem kann man aus der fehlgeleiteten – übrigens ein paar Jahrzehnte später aufgehobenen – Judenklausel der norwegischen Verfassung Lehren ziehen. Ein schlechtes Urteil kann auch aus anständigen Motiven herrühren, und Wissen (über den Islam oder das Judentum) ist kein Schutz vor dummen Ideen.
Die wichtigste Lehre jedoch ist, dass es immer töricht – und sogar gefährlich – ist, Menschen danach zu beurteilen, was sie unserer Ansicht nach glauben. Anzunehmen, dass alle Muslime aufgrund ihres religiösen Hintergrunds das Gleiche denken, dass sie eine „Denkweise“ haben statt individueller Gedanken, ist ein ebenso großer Fehler, wie anzunehmen, dass man die Denkweise von Juden, Christen oder irgendwem anders kennen kann. Und zu behaupten, dass sich etwas so Vielfältiges wie ein religiöser Glaube aufgrund bestimmter antiker Texte mit einer feststehenden ideologischen Position verknüpfen lässt, ist absolut irreführend.
Es gibt im Westen populistische Demagogen, die gern den Koran verbieten und Muslimen die Einwanderung in ihre Länder untersagen würden. Ihre Gefolgschaft könnte im Wachsen begriffen sein, und wird von der Angst angetrieben, der Terrorismus könne aus dem Nahen Osten überschwappen. Noch sind diese Menschen in der Minderheit, und die Angst, der Westen könne „arabisiert“ oder „islamisiert“ werden, hat sich bisher nicht wirklich in der Mitte der Gesellschaft etabliert.
David Cameron auf Hexenjagd
Doch selbst Politiker der Mitte laufen – manchmal aus hehren Beweggründen – Gefahr, dieselbe Art Fehler zu machen wie die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung Norwegens im Jahre 1814. Der britische Premierminister David Cameron etwa will den islamistischen Extremismus durch ein Verbot der Äußerung von Ideen, die die Regierung für Extremismus fördernd oder glorifizierend hält, bekämpfen. Menschen, die „unsere Werte ablehnen“, sollen strafrechtlich verfolgt werden, so Cameron, „ob sie gewalttätige Mittel einsetzen oder nicht“.
Cameron ist nicht als Rassist oder religiöser Eiferer bekannt. Er versucht, ein reales Problem zu bekämpfen: die Förderung gewalttätiger extremistischer Ideologien. Doch obwohl man Menschen, die Gewalttaten begehen, eindeutig bestrafen sollte, gemahnt die Verfolgung von Menschen allein wegen ihres Denkens – oder schlimmer noch: unserer Vorstellung davon – an eine Hexenjagd.
Cameron hat Recht: „Zentrale Werte“ wie „Demokratie und Toleranz“ sind wichtig, und man sollte sie verteidigen. Doch es ist schwer vorstellbar, dass das Verbot von Ideen oder die Bestrafung jener, die sie äußern, die optimale Methode dafür ist.
© Project Syndicate
3 Leserbriefe
Was Ernests Hoffnung auf (Forderung nach?) innermuslimischen Reformen anbelangt, so erinnert das genau an die von Buruma kritisierte Vorstellung der norwegischen Verfassungsväter, den Juden das Judentum abzugewöhnen.