In Ankara hat ein Gericht das Verfahren gegen Oppositionsführer Özgür Özel von der Republikanischen Volkspartei (CHP) vertagt. Es geht um mögliche Unregelmäßigkeiten beim CHP-Parteitag 2023, auf dem Özel und seine engsten Vertrauten gewählt wurden. Die Entscheidung des Gerichts erfolgte unter dem Druck massiver CHP-Proteste und verschafft der größten Oppositionspartei eine kurze Atempause im Machtkampf mit dem Regime, der Prozess bleibt jedoch zugleich ein politisches Damoklesschwert über der Partei.
Sollte das Gericht die Vorwürfe bestätigen, könnten Özel und der gesamte Parteirat abgesetzt werden. Ausgerechnet der abgewählte frühere Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu bringt sich bereits als staatlicher Zwangsverwalter ins Spiel. Ein solches Urteil wäre weniger ein juristischer Akt als ein politisch motivierter Eingriff. Ein erzwungener Machtwechsel in der CHP käme dem faktischen Ende des Mehrparteiensystems gleich und damit dem letzten Schritt in den voll ausgebildeten Autoritarismus.
Einen Vorgeschmack auf dieses Szenario gab es schon vor zwei Wochen: Wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten enthob ein Gericht die gesamte Istanbuler CHP-Führung ihres Amtes und setzte mit Gürsel Tekin, einem alten Vertrauten Kılıçdaroğlus, einen kommissarischen Regionalchef ein. Tekin, einst stellvertretender Parteivorsitzender, war nach Kılıçdaroğlus Abwahl 2023 politisch bedeutungslos geworden. Damals hatten die Delegierten Özgür Özel und den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu zum neuen Führungsduo gewählt – ein klarer Bruch mit der Kılıçdaroğlu-Ära, die von endlosen Wahlniederlagen gegen Erdoğan geprägt war.
Heute jedoch unterstützen Tekin und andere ehemalige CHP-Kader aus Frust über ihre Abwahl die politischen Pläne Erdoğans – und schwächen so die eigene Partei von innen. Offenbar gehen Kılıçdaroğlu und sein Umfeld davon aus, dass Erdoğan dauerhaft an der Macht bleiben wird – und versuchen deshalb, innerhalb des bestehenden Systems politisch präsent zu bleiben.
Seit Monaten verfolgt die AKP-Regierung eine Doppelstrategie: Zum einen soll die CHP mithilfe der Justiz unter Korruptionsverdacht geraten, flankiert von einer breiten Kampagne regierungsnaher Medien. Zum anderen werden gezielt führende Köpfe ausgeschaltet.
Besonders hart trifft es Ekrem İmamoğlu, den abgesetzten Bürgermeister Istanbuls und aussichtsreichsten Herausforderer Erdoğans.
Besonders hart trifft es Ekrem İmamoğlu, den abgesetzten Bürgermeister Istanbuls und aussichtsreichsten Herausforderer Erdoğans. Seit fast einem halben Jahr sitzt er im Gefängnis, seine Inhaftierung löste landesweite Proteste aus. Seit Oktober 2024 wurden zudem zehn der 26 CHP-Bezirksbürgermeister in Istanbul sowie mehrere Stadtoberhäupter in anderen Regionen verhaftet – meist unter politisch motivierten Korruptions- oder Terrorvorwürfen, die von den Betroffenen zurückgewiesen werden.
Auch İmamoğlu selbst sieht sich mit konstruierten Anklagen konfrontiert, etwa wegen angeblich falscher Angaben zu seiner akademischen Laufbahn. Die nächste Verhandlung ist für den 20. Oktober angesetzt – ihr Ausgang könnte entscheidend für seine mögliche Präsidentschaftskandidatur sein. Schon jetzt ist klar: Diese Verfahren haben nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern dienen allein dem Ziel, Erdoğans gefährlichsten Rivalen auszuschalten.
Auch rechtlich ist das Vorgehen höchst fragwürdig. Laut Verfassung ist allein der Hohe Wahlrat (YSK) – kein Gericht – befugt, Wahlen, einschließlich Parteitage, zu überwachen. Der Wahlrat hat die Wahl Özgür Özels zum CHP-Vorsitzenden bereits bestätigt. Zum Schutz Özels fordert daher eine große Mehrheit der CHP-Delegierten die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags am 21. September, um ihn erneut zu bestätigen. Özel kündigte zudem an, die CHP werde einem Gerichtsurteil nicht folgen – notfalls könne die Partei Millionen Anhänger mobilisieren, um auf die Straße zu gehen. Auch in der Bevölkerung gilt das Verfahren kaum als legitimer Rechtsakt: Landesweit sehen 58 Prozent der Wählerinnen und Wähler darin einen „politischen Eingriff“.
Die künftige Ausrichtung des autoritären Regimes ist noch völlig offen. Erst vergangene Woche übernahmen die Behörden im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens die Kontrolle über den regierungsnahen Fernsehsender Habertürk des Can-Holding-Konzerns und stellten ihn unter Treuhänderschaft des staatlichen Einlagensicherungsfonds. Zehn Führungskräfte des Konzerns, der 121 Unternehmen in den Bereichen Energie, Gesundheit, Bildung und Medien umfasst, wurden wegen angeblichen Betrugs, Steuerhinterziehung und Geldwäsche festgenommen. Der Vorgang zeigt, dass innerhalb der Regimeelite unterschiedliche Vorstellungen über die künftige Machtordnung herrschen.
Offenkundig setzt das Regime alles daran, die CHP vollständig aus dem politischen System zu drängen.
In der Regierungskoalition aus Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) und Nationalistischer Bewegungspartei (MHP) zeichnen sich zwei Modelle ab: Die eine Seite strebt einen voll ausgebildeten Autoritarismus an – ein System, in dem Erdoğan selbst über seine Nachfolge entscheidet und alle Akteure sowie Institutionen der Autorität des Präsidenten untergeordnet sind. Die andere Variante setzt ebenfalls auf ein autoritäres Modell, lässt jedoch begrenzten Raum für die formale Existenz einer Opposition. Ein neues politisches System entsteht – doch noch fehlt eine gemeinsame Vorstellung, welche Rolle die CHP darin als kooptiertes Element überhaupt spielen könnte.
Bei den Kommunalwahlen 2024 hatte die CHP Erdoğans AKP deutlich geschlagen und in aktuellen Umfragen liegt sie rund fünf Prozent vor der Präsidentenpartei. Die Zustimmung zur AKP sinkt weiter. Seither versucht Erdoğan, die unliebsame Konkurrenz mithilfe einer gefügigen Justiz auszuschalten. Offenkundig setzt das Regime alles daran, die CHP entweder vollständig aus dem politischen System zu drängen oder sie in ein neues autoritäres Modell einzupassen.
Doch die Strategie der Regierung, die CHP systematisch zu zerschlagen, trägt bislang nicht die gewünschten Früchte. Je stärker der äußere Druck, desto enger rückt die Partei zusammen. Repression erzeugt paradoxerweise Kohäsion. Das lässt sich auf drei Ebenen beobachten: Erstens hat die CHP in den vergangenen Monaten eine deutliche interne Konsolidierung erlebt – das ständige Eingreifen der Justiz schärft das Bewusstsein für die eigene Rolle als letzte Bastion demokratischer Opposition. Zweitens hat die politische Verfolgung eine neue gesellschaftliche Mobilisierung ausgelöst. Die Inhaftierung von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern oder die Bedrohung des Parteichefs gelten längst nicht mehr als parteiinterne Fragen, sondern als Angriff auf die demokratische Substanz des Landes. Drittens wächst unter Özel die parteiinterne Autonomie: Gerade weil die CHP permanent bedroht ist, steigt die Bereitschaft, interne Konflikte zurückzustellen und Geschlossenheit zu zeigen. Was Erdoğan als Schwächung der Opposition geplant hatte, könnte sich damit ins Gegenteil verkehren – in eine gestärkte, mobilisierte und geeinte CHP, geschlossener als zu Zeiten Kılıçdaroğlus.
Özel selbst bringt es auf den Punkt: „Jeder, der die Plätze bei unseren Parteiversammlungen füllt, weiß, dass nicht die CHP das eigentliche Ziel ist, sondern die Demokratie, die Freiheit und das Wahlrecht.“ Damit ist klar: Die CHP leistet ihren Widerstand im Namen der gesamten Opposition – um die Hoffnung auf Demokratie und das Mehrparteiensystem in der Türkei lebendig zu halten.