Nach den aufsehenerregenden und teils empörenden Äußerungen des US-Präsidenten Donald Trump hat sich der Fokus aller Diskussionen über die Ukraine Schritt für Schritt verschoben – weg von der Frage der Verteidigung des Landes gegen den russischen Angriffskrieg hin zur politischen Auseinandersetzung und zur Notwendigkeit, unter Kriegsbedingungen Wahlen abzuhalten. Auch wenn der US-Präsident nicht über Wahlen in anderen Ländern entscheidet, bleibt eine Tatsache bestehen: Jeder Wahlkampf beruht auf zwei eng verknüpften Elementen – den ideologischen Inhalten und der notwendigen Infrastruktur für die Stimmabgabe.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer zu sagen, welche dieser beiden Komponenten beim Abhalten einer Wahl in der Ukraine die größeren Probleme bereiten würde. Politisch ist es in der Ukraine derzeit extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich, vom mehrjährigen Krieg zu einem Parteienwettstreit überzugehen. Noch größere Schwierigkeiten wird dem Staatsapparat jedoch möglicherweise das Umschalten von der Frontarbeit auf das Organisieren einer Wahl bereiten. In welchem Rahmen sich bei einer künftigen Wahl die ideologischen Inhalte bewegen werden, hängt davon ab, in welchem Format und mit welchem Ergebnis der Krieg beendet wird. Wie der Krieg ausgehen wird, kann jedoch heute weder in der Ukraine noch anderswo irgendjemand vorhersagen.
Die ukrainische Regierung hat bis zuletzt nach neuen Mechanismen der Zusammenarbeit mit der Trump-Regierung gesucht. Das erste Gespräch zwischen Emmanuel Macron, Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump bei der feierlichen Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame in Paris weckte Hoffnungen, dass der amerikanische Präsident ein offenes Ohr für die ukrainische und europäische Position haben könnte.
Nach seiner Amtseinführung machte Trump sich jedoch sogleich daran, seine Variante der „Beendigung des Krieges innerhalb von 24 Stunden“ in die Tat umzusetzen – nämlich die Beziehungen zu Russland und Wladimir Putin wiederaufzunehmen, die Ukraine zur Annahme der russischen Forderungen zu nötigen, Wahlen zu fordern und eine zwiespältige Vereinbarung über ukrainische Bodenschätze abzuschließen. Vor diesem Hintergrund machen sich in den politischen Führungsgremien der ukrainischen Parteien Chaos und Verunsicherung breit, weil selbst Selenskyjs früheren Gegnern nicht klar ist, wie sie in einer geopolitisch derart turbulenten Situation zu ihm in Konkurrenz treten sollen.
Das Duell um das Präsidentenamt wird voraussichtlich zwischen Selenskyj und einem „neuen Gesicht“ ausgetragen werden.
Anfang Februar zeichneten sich in der ukrainischen Gesellschaft zwei grundsätzliche Entwicklungen ab. Erstens: Selenskyjs Zustimmungswerte in seiner Eigenschaft als Präsident befinden sich kontinuierlich im Sinkflug und liegen derzeit bei 20 Prozent, obwohl die Menschen ihm als Person nach wie vor großes Vertrauen entgegenbringen. Trumps derbe Behauptung, nur noch vier Prozent der ukrainischen Bevölkerung hielten zu Präsident Selenskyj, ist natürlich völliger Unfug. Sein Rückhalt bewegt sich in der Größenordnung von 50 bis 60 Prozent.
Zweitens: Mit Walerij Saluschnyj ist ein möglicher Hauptkonkurrent gegen den amtierenden Präsidenten auf den Plan getreten. Saluschnyj war bis Februar 2024 Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte und ist gegenwärtig Botschafter in London. Nach seiner Entlassung als Armeechef avancierte er in den Umfragen zum beliebtesten Politiker. Seine Umfragewerte sind mittlerweile zwar etwas gesunken, aber auf der Beliebtheitsskala liegt Saluschnyj weiterhin uneinholbar vorn.
Die Nachfrage der Wählerschaft nach einer militärischen Führungsfigur kann allerdings nicht nur Saluschnyj bedienen. Auch andere Militärs haben Chancen, in den Umfragen den zweiten Platz zu erobern. Zwei Namen werden in diesem Zusammenhang genannt: Kyrylo Budanow, Chef des Militärnachrichtendienstes, und Andrij Bilezkyj, Kommandeur der zu den effektivsten Verbänden zählenden Dritten Sturmbrigade. Es ist jedoch durchaus möglich, dass unerwartet noch weitere prominente Vertreter des Militärs den Hut in den Ring werfen.
Das Duell um das Präsidentenamt wird voraussichtlich zwischen Selenskyj und einem „neuen Gesicht“ ausgetragen werden, das höchstwahrscheinlich aus Militärkreisen stammen wird. Bei Selenskyjs Spindoktoren löst die Perspektive einer offenen Konfrontation mit neuen Präsidentschaftsbewerbern Besorgnis aus. Aus ihrer Sicht wäre es vorteilhafter, wenn ein „Altbekannter“ es in die Stichwahl schaffen würde, etwa der frühere Präsident Petro Poroschenko. Möglicherweise werden jedoch durch die offenen Anfeindungen des US-Präsidenten gegen Selenskyj und durch den unverhohlenen Druck, der in der Wahlfrage aufgebaut wird, alle politischen Konstellationen, die vor wenigen Tagen noch selbstverständlich schienen, gründlich durcheinandergewürfelt.
Noch unmöglicher zu beantworten ist die Frage nach der Infrastruktur, die für die Durchführung einer Wahl benötigt wird. Es ist noch nicht einmal bekannt, welche Ukrainerinnen und Ukrainer stimmberechtigt sind – und wo sie ihre Stimme abgeben könnten. Zu Beginn der Großinvasion sperrte die Zentrale Wahlkommission den Zugriff auf das Wählerverzeichnis. In drei Jahren Krieg haben Hunderttausende Menschen ihr Leben verloren, Millionen Ukrainer das Land verlassen oder sind als Binnenvertriebene an einen anderen Ort in ihrem Heimatland geflüchtet. Um eine wie auch immer geartete Wahl abzuhalten, müssen die Daten des Wählerverzeichnisses dementsprechend aktualisiert werden. Das erfordert enorme Ressourcen und sehr viel Zeit.
Nur einer von 16 Ukrainern, die sich im Ausland aufhalten, ist konsularisch registriert. Zu den übrigen 15 hat der Staat de facto keine Verbindung – und ohne diese Verbindung lässt sich deren Beteiligung an der Wahl unmöglich sicherstellen. Hinzu kommt, dass es für die Parteien und Kandidaten schwer wird, bei denjenigen, die das Land verlassen haben, Wahlkampf zu machen, weil ausländische Parteien sich in den meisten EU-Mitgliedstaaten nicht oder nur eingeschränkt betätigen dürfen. Noch schwerer wird es, die eine Million einberufenen Soldaten zu erreichen, denen die Beteiligung am politischen Leben nach geltender Gesetzeslage untersagt ist.
In drei Jahren Krieg haben Hunderttausende Menschen ihr Leben verloren, Millionen Ukrainer das Land verlassen oder sind als Binnenvertriebene an einen anderen Ort in ihrem Heimatland geflüchtet.
Auch die Frage, wo die Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgeben könnten, ist ungelöst. Wahllokale sind geschützte Orte, an denen gewährleistet ist, dass die Stimmabgabe geheim und sicher ablaufen kann, die Stimmen korrekt und transparent ausgezählt und alle Unterlagen sicher aufbewahrt werden. In den frontnahen Gebieten, die ein Drittel des Landes ausmachen, wurden viele Einrichtungen, die früher als Wahllokale dienten, durch russische Granaten, Drohnen und Raketen zerstört: Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Fabriken und Ähnliches. In einem kurzen Wahlkampf wird auch niemand auf die Schnelle neue Orte schaffen, an denen gewählt werden kann.
Klar ist, dass wegen der tiefgreifend veränderten Bevölkerungsstruktur neue Formen des Abstimmens gefragt sind. Dabei kommen vor allem die Fernwahl oder die vorzeitige Stimmabgabe infrage, wobei weder die Verfassung noch das Wahlgesetz der Ukraine irgendwelche Regelungen zu diesen Formen des Wählens beinhaltet. Durch eine zeitliche Streckung des Wahlakts – zum Beispiel auf eine Woche – könnte man zumindest mehr Menschen beteiligen und Sicherheitsrisiken wie etwa Luftalarme teilweise minimieren. Diese Variante der Wahlorganisation ist für das Land allerdings finanziell mit vielfach höheren Kosten verbunden.
Doch wie lässt sich die Stimmabgabe der Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer organisieren, die sich im Ausland aufhalten? Die Ukraine verfügt über rund 120 Botschaften und Konsulate, die sich mehrheitlich außerhalb Europas befinden. An einem Tag Millionen von Wählerinnen und Wählern durch die Botschaften zu schleusen, ist allein schon physisch eine surreale Vorstellung. Man kann sich freilich auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die „Venedig-Kommission“ berufen. Diese haben sich auf den Standpunkt gestellt, dass ein Land dafür sorgen kann, aber nicht muss, dass seine im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürger dort ihre Stimme abgeben können. Doch wäre dies gerecht vor dem Hintergrund, dass praktisch jeder fünfte Wähler aus dem Land fliehen musste? Bei allen früheren Wahlen garantierte die Ukraine übrigens die Möglichkeit, die Stimme im Ausland abzugeben.
Es gibt mehrere mögliche Auswege aus dieser Situation. Die erste Möglichkeit: Die Zahl der Wahllokale, in denen die Menschen per Stimmzettel abstimmen können, wird erhöht. Das ist die einfachste Variante, weil dafür keine Gesetzesänderungen erforderlich sind. Doch die Einrichtung neuer Wahllokale bedeutet einen höheren Logistikaufwand; dafür braucht es mehr Geld und mehr geschultes Personal. Die zweite Möglichkeit ist die vorzeitige Stimmabgabe per Briefwahl. Diese Variante ist billiger, aber mit einer Reihe von Schwächen und Unsicherheitsfaktoren verbunden. Für diese Abstimmungsvariante wären erstens Gesetzesänderungen notwendig und zweitens müsste ein langer Zeitraum für den Versand der Briefwahlunterlagen eingeplant werden. Die Schwachstelle ist dabei das Vertrauen in die Post, denn wenn in diesem Punkt Zweifel aufkommen, kann dies den ganzen Wahlprozess delegitimieren.
In puncto Schnelligkeit und Kosten wäre eine Online-Abstimmung die vielversprechendste Variante. Eine Wahl der Größenordnung, wie sie in der Ukraine ansteht, hat allerdings noch kein Land der Erde online abgehalten. Eine entsprechende Software gibt es nirgendwo zu kaufen, weil sie schlicht und einfach nicht existiert. Zudem birgt eine Online-Wahl enorme Risiken, die von Cyberangriffen bis zu möglichen Verletzungen der Anonymität und des Wahlgeheimnisses reichen. Sobald der Krieg vorbei ist, wird das Wahlthema für die Ukraine akut werden. Derzeit sieht es jedoch nicht danach aus, dass sich diese Frage schnell klären lässt.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld