Am Vortag des angekündigten Generalstreiks gegen die Haushaltspläne der erst neulich gestürzten Regierung des Premierministers François Bayrou empfing sein Nachfolger Sébastien Lecornu die Spitzenvertreter der französischen Sozialisten (PS) zum ersten Gespräch im Matignon-Palast. Mit „offenen Armen, aber leeren Händen“, wie die progressiven Medien enttäuscht resümierten. Dabei haben sich in den letzten Wochen die Gefolgsleute Emmanuel Macrons und seines Vertrauten Lecornu zu der Erkenntnis durchgerungen, dass ein Einvernehmen mit der PS von höchster Dringlichkeit sei. Sollten liberale Hardliner an der Notwendigkeit von Kompromissen noch zweifeln, könnten die landesweiten Streiks und Demonstrationen, zu denen zahlreiche Gewerkschaften aufgerufen haben, illustrieren, wie brenzlig es für Lecornu und Macron werden könnte, wenn sie auf ihren neoliberalem und längst minoritären Kurs beharren.
Warum ausgerechnet die Zwölf-Prozent-Partei um Olivier Faure nun die Überlebensgarantie der neuerlichen Regierung – genau genommen die neunte seit Macrons Amtsantritt im Jahr 2017 – sein soll, das erklärt ein Blick auf die Kräfteverhältnisse in der französischen Nationalversammlung. Diese ist seit den Neuwahlen im Sommer 2024, die Macron überraschend ausgerufen hatte, in drei nahezu gleich starke Blöcke gespalten. Macrons Versuch, damit „Klarheit“ in den Mehrheitsverhältnissen zu schaffen, war ihm gründlich misslungen. Die Folgen der Pattsituation sind Lähmung, Misstrauensvoten und ein hoher Verschleiß an Regierungspersonal. Seit Macron das Präsidentenamt übernahm, dienten bereits 158 Ministerinnen und Minister.
Die 2024er-Neuwahlen stärkten ausgerechnet das rechtsextreme Rassemblement National (RN) und schwächten das zentristische, marktliberale Macron-Lager. Und sie zeigten, dass eine vereinte Linke in Frankreich noch Mehrheiten findet. Angetreten als „Neue Volksfront“, ein Zusammenschluss aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und der linksradikalen La France Insoumise (LFI), erlangte die Zählgemeinschaft die Mehrheit der Sitze. Dennoch weigerte sich Macron, das linke Bündnis mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Er setzte noch eins drauf, in dem er statt ihrer die fünft-schwächste Partei der Assemblée, die konservativen Republikaner, mit der Regierungsbildung betraute. Deren Premier, der erfolgreiche Brexit-Verhandler Michel Barnier, scheiterte nur drei Monate später mit einem rigiden Austeritätsprogramm, bei dem die Reichen geschont und die Sparleistungen von der unteren Hälfte der Bevölkerung erbracht werden sollten. Nicht anders erging es seinem Nachfolger François Bayrou. Bayrou, Chef der kleinen Zentristenpartei MoDem, hielt sich neun Monate. Angesichts der Aussichtslosigkeit, seinen polarisierenden Sparhaushalt durchs Parlament zu bekommen, stellte er gleich selbst die Vertrauensfrage – und wurde am 8. September mit großer Mehrheit aus dem Amt gewählt.
Für dieses Debakel trägt in erster Linie der starke Mann der Republik, Emmanuel Macron, Verantwortung.
Für dieses Debakel trägt in erster Linie der starke Mann der Republik, Emmanuel Macron, Verantwortung. Als frischer Reformer angetreten, der den verkrusteten französischen Sozialstaat fit für die Märkte des 21. Jahrhundert machen wollte, erweist er sich mehr und mehr als Zerstörer der fünften Republik. Für seine zweite Amtszeit hat er gleich gar kein Programm mehr vorgelegt. Die Suche nach Mehrheiten spart man sich gerne. Vielmehr ließ er seine Premierminister – die strikt weisungsgebunden handeln müssen – auch schon vor seiner Wahlniederlage im Sommer 2024 häufig per Dekret, am Parlament vorbei, regieren. Wichtige Reformen, wie die des Wahlrechts, des Bildungssektors und die ungelöste Rentenfrage packte er erst gar nicht mehr an.
Je mehr Macron daher darauf beharrt, dem Parlament seinen marktliberalen Kurs aufzuzwingen, desto mehr wächst dort der Wille zum Chaos. Noch zieht bei einigen Parteien, allen voran den Konservativen, das Doomsday-Szenario vorgezogener Neuwahlen, um sich loyal gegenüber dem minoritären Präsidentenlager zu verhalten. Seit September aber darf Macron laut Verfassung wieder Neuwahlen anberaumen. Marine LePen, RN-Chefin und sich des wachsenden Zuspruchs ihrer Rechtsextremen gewiss, lässt daher keine Gelegenheit aus, lauthals Neuwahlen zu fordern.
Besonders in die Bredouille sind in den letzten Monaten die 62 Abgeordneten der PS geraten. Kaum eine andere Partei hat sich so erkennbar um Kompromisse bemüht und dabei im eigenen Lager provoziert. So weigerte sich die PS im Frühjahr, sich dem von LFI initiierten Misstrauensvotum gegen François Bayrou anzuschließen. Allen voran beschimpfte Jean-Luc Mélenchon, der Chef der linksradikalen Partei LFI die PS als Sozialverräter. Hätte die PS mitgestimmt, wäre Bayrou schon damals gestürzt worden. Stattdessen boten die Sozialisten an, nicht mitzustimmen, wofür im Gegenzug Bayrou versprach, eine neue Rentenkommission mit der Rentenreform zu beauftragen. Monate später war manifest, dass Bayrou gar kein Interesse an einer Rentenreform hatte und unbeugsam blieb, woraufhin die PS ihr Stillhalteabkommen zurückzog. Bald darauf stürzte Bayrou.
Damit genießen die Sozialisten seit langem wieder eine einzigartige Schlüsselstellung.
Damit genießen die Sozialisten seit langem wieder eine einzigartige Schlüsselstellung. Intern jedoch wird die Partei, die sich nach einstiger Größe als Volkspartei sehnt und von sich selbst sagt, sie sei „bereit zu regieren“, von heftigem Gerangel erschüttert. Dabei geht es, wie in der Linken nahezu insgesamt, keineswegs um unüberwindbare ideologische Differenzen. Vielmehr entzweien – mit Blick auf die nächsten Wahlen – taktische Erwägungen die Lager und Flügel der PS. Während ihr Erster Sekretär Olivier Faure für eine strategische Offenheit vis-à-vis den Linksradikalen der LFI und einer Neuauflage der Volksfront steht, setzte sich sein Parteiinterner Herausforderer, Nicolas Mayer-Rossignol, im Sommer durch mit dem kategorischen Nein zur Zusammenarbeit mit dem polarisierenden LFI-Chef Mélenchon. Dieser ist selbst strikt dagegen, dem neuen Premierminister Raum zur Diskussion zu lassen. Er plädiert für ein umgehendes Misstrauensvotum und die Absetzung Macrons. Die Grünen hingegen sind vor allem für eine Neuauflage der Volksfront mit LFI.
Die PS hat, zögerlich, vorerst zurückgefunden zu ihrer reformistischen Haltung und gibt sich erneut selbstbewusst-konstruktiv. Sie verlangt vom neuen Regierungschef die Umsetzung der sozialverträglichen Vorschläge ihres Gegenhaushalts. Dieser enthält ernstzunehmende Sparvorschläge, setzt dabei aber deutlich stärker auf die Erhöhung der Einnahmen durch die Streichung von Firmensubventionen und Besteuerung sehr hoher Einkommen und verzichtet weitgehend auf Kürzungen im Sozialbereich. Kommt Lecornu der PS nicht entgegen, drohen die Sozialisten, bien sûr, mit einem Misstrauensvotum. Vor der Ernennung Lecornus hatte die PS Macron aufgefordert, ihr als „Brückenkraft“ die Regierung anzuvertrauen. Schließlich seien sie derzeit zahlenmäßig das Zünglein an der Waage. Die französischen Genossen pokern hoch – und könnten tief fallen.
Neuwahlen, die immer wahrscheinlicher werden, je weniger Macrons neuer Regierungschef Kompromisse anbietet, bereiten den Sozialisten insgeheim schon jetzt schlaflose Nächte. Die Angst, im Mehrheitswahlsystem Frankreichs ohne breites Bündnis mit allen linken Parteien antreten zu müssen, ist nur allzu berechtigt. Außer dem RN schafft es wohl keine Einzelpartei mehr in allen 577 Wahlkreisen anzutreten – geschweige denn Kandidatinnen und Kandidaten zu stellen, die eine Chance haben, in den entscheidenden zweiten Wahlgang zu kommen.
Doch auch das Macron-Lager muss zittern. So unbeliebt wie der Präsident inzwischen ist, droht seiner Partei Ensemble sogar der brutale Absturz. Bisher hat Lecornu den Sozialisten, trotz Massendemonstrationen auf den Straßen, nicht zu erkennen gegeben, dass er zu Kompromissen bereit ist. Es bleibt daher höchst ungewiss, ob dem Ideologen Macron ein Kompromiss abzuringen wäre. Gelänge es, darf sich die PS damit brüsten, den kochenden Volkszorn besänftigt zu haben. Bleibt Macron stur, stürzt seine neunte Regierung und er müsste Neuwahlen ausrufen – mit unabsehbaren Folgen für die Sozialisten, die dann ihre Verbündeten verprellt und ihre Existenz gefährdet hätten.