Lula bleibt bei seinem Nein. In der vergangenen Woche betonte Brasiliens Präsident Luiz Inácio da Silva bei seinem Staatsbesuch in China einmal mehr, weitere Waffenlieferungen an die Ukraine würden nur zu einer Eskalation des Krieges führen und jede Aussicht auf Friedensverhandlungen verbauen. Bei vielen Europäerinnen und Europäern, die sich selbst als Freunde Lulas sehen, sorgten seine Äußerungen für Enttäuschung und Kritik.
Der Krieg in der Ukraine lässt eine Reihe von harten Realitäten offen zutage treten. Europäische Spitzenpolitiker und Meinungsmacher beweisen, dass sie nicht den Hauch einer Vorstellung haben von den Sichtweisen und Erwartungen der nicht-westlichen Welt, die heute als „Globaler Süden“ bekannt ist. Dass Länder wie Brasilien, Südafrika und Indien den Narrativen und der Politik der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten nicht blind folgen, hätte niemanden überraschen dürfen. Das heißt noch lange nicht, dass sie den russischen Einmarsch in die Ukraine gutheißen.
Unmittelbar nach der Invasion verurteilte Lula – damals noch als Oppositionsführer – „den Einsatz militärischer Gewalt zur Beilegung von territorialen Differenzen, die auf dem Verhandlungsweg geregelt werden sollten“. Nach seiner Wahl zum Präsidenten stimmte Brasilien am 23. Februar für die UN-Resolution, mit der ein sofortiger Rückzug der russischen Truppen gefordert wurde. Trotzdem verweigerte Lula sich der Forderung von Bundeskanzler Olaf Scholz, Munition für die Gepard-Flugabwehrpanzer an die Ukraine zu liefern.
Für Deutschland bedeutet der Krieg in der Ukraine eine „Zeitenwende“ – für den Globalen Süden nicht.
Deutschland ist für Brasilien in vielen Bereichen – von Anlageinvestitionen bis zur Umweltpolitik – seit Langem ein wichtiger Partner. Ende Januar reiste Scholz als erster westlicher Regierungschef nach dem Beginn von Lulas neuer Amtszeit nach Brasilien. Andererseits gibt Deutschland sich anscheinend nicht die geringste Mühe, Brasiliens Haltung zu verstehen und zu respektieren. Scholz hätte klar sein müssen, dass Lula gar nicht anders konnte, als sein Ansinnen abzulehnen – genau wie die beiden anderen südamerikanischen Länder, die er auf seiner Reise besuchte: Chile und Argentinien. Auch dort bat er vergeblich um Unterstützung bei den Waffenlieferungen an die Ukraine.
Der Grund für die Ablehnung ist leicht zu verstehen: Die Behauptung, die NATO-Staaten und ihre Verbündeten seien „die Stimme der internationalen Staatengemeinschaft, die eine regelbasierte Ordnung respektiert“, ist schlicht und einfach unzutreffend. Für Deutschland bedeutet der Krieg in der Ukraine eine „Zeitenwende“ – für den Globalen Süden nicht.
Wir müssen nicht bis zu den Gräueltaten der Kolonialzeit zurückgehen, um zu verstehen, dass man die moralische Überheblichkeit, mit der der Globale Süden kritisiert wird, weil er sich eine eigene Meinung erlaubt, durchaus mit Skepsis betrachten darf. Immerhin reden wir hier von den gleichen Ländern, die bedenkenlos ohne UN-Mandat Belgrad bombardiert und das UN-Mandat für Libyen überstrapaziert haben, um in dem Land nachhaltige Zerstörung anzurichten; von Ländern, die unter Berufung auf Artikel 5 des NATO-Vertrages in Afghanistan einmarschiert sind und Billionen von US-Dollar investiert haben, um das Land zu ruinieren und am Ende doch wieder den Taliban zu überlassen. Die USA und Großbritannien begründeten den Irakkrieg mit einer Lüge, um die Ölreserven des Landes auszubeuten, und machten damit den Islamischen Staat groß. Und haben diese Länder – Deutschland eingeschlossen – mit ihren Waffenverkäufen an Saudi-Arabien nicht den Krieg gegen die Volksgruppe der Huthi im Jemen unterstützt, der nach UN-Angaben eine gewaltige humanitäre Krise mit mehr als 300 000 Opfern verursacht hat? Und warum sollte man Polen dafür feiern, dass es ukrainische Migranten aufnimmt, und nicht anprangern, dass das Land Flüchtlinge aus außereuropäischen Ländern kriminalisiert? Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Westliche Ölkonzerne streichen Rekordprofite und „unmoralische Gewinne auf dem Rücken der Ärmsten“ ein.
Schauen wir noch etwas genauer hin. Während Europa nach dem 24. Februar 2022 weiterhin jeden Tag für eine Milliarde Euro Erdöl, Erdgas und Kohle von Russland kaufte, wurden Länder des Globalen Südens dafür kritisiert, dass sie Europas Sanktionen nicht mittragen. Indien wurde vorgehalten, dass es sich die Situation zunutze mache und verstärkt Öl zu verbilligten Preisen aus Russland importiere, während westliche Ölkonzerne Rekordprofite und „unmoralische Gewinne auf dem Rücken der Ärmsten“ einstrichen, wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres einräumte – von den Übergewinnen für den militärisch-industriellen Komplex der USA ganz zu schweigen. Und wie sollen afrikanische Länder sich zu den diplomatischen Bemühungen europäischer Regierungschefs verhalten, die seit der Invasion auf mehr Importe fossiler Energieträger aus Afrika drängen, nachdem sie jahrelang erklärt hatten, diesbezügliche Investitionen würden nicht mehr finanziert?
Noch einmal: Das heißt nicht, dass der Globale Süden die Augen davor verschließt, dass Russlands Invasion eindeutig die territoriale Integrität der Ukraine verletzt und dass dies zu verurteilen ist – was Lula immer wieder getan hat. Auf der anderen Seite sollte man aber auch nicht über die vielen Fehler hinwegsehen, die der Westen sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinen Beziehungen zu Russland geleistet hat. Diese Fehler sind keine Rechtfertigung für den Einmarsch, aber sie müssen mitbedacht werden, wenn wir eine Friedenslösung wollen.
Glaubt irgendjemand allen Ernstes, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Rückzug der russischen Truppen aus dem Donbass und von der Krim erzwingen kann, wenn man ihm nur mehr Waffen liefert? Oder glaubt jemand ernsthaft an die Möglichkeit eines Regimewechsels in Moskau? Ist es fair und aufrichtig, Selenskyj und der ukrainischen Bevölkerung, die hinter ihm steht, den Eindruck zu vermitteln, dass sie auf ewig weiter Unterstützung erhalten werden – koste es, was es wolle?
Europa mag steif und fest behaupten, dass Russland sich selbst isoliert – aus der Perspektive des Globalen Südens stellt sich das ganz anders dar.
Die russische Außenpolitik versteht sich ohne Zweifel sehr gut darauf, den Unmut des Globalen Südens für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dieser Unmut entzündet sich daran, dass der Westen sich dagegen sperrt, die berechtigten Klagen und sicherheitspolitischen Sorgen Russlands anzuerkennen, und andere Meinungen und Lösungsversuche mit Arroganz quittiert. Solche anderen Meinungen werden bestenfalls als naiv abgetan und als Abweichung von dem, was die NATO für die rechtmäßige regelbasierte internationale Ordnung hält – eine Ordnung, die laut US-PräsidentJoe Biden die Welt in Demokratien und Autokratien aufteilt. Ein anschauliches Beispiel für den Erfolg der russischen Diplomatie ist die Haltung der OPEC-plus (Organisation der Erdöl exportierenden Länder). Europa mag steif und fest behaupten, dass Russland sich selbst isoliert – aus der Perspektive des Globalen Südens stellt sich das ganz anders dar.
All das hat einen paradoxen Effekt: Es stärkt im Globalen Süden das Bewusstsein dafür, dass er intensiver kooperieren und seine Prioritäten im Kampf gegen Armut und Hunger oder gegen Klimakrisen (unter denen diese Länder am stärksten zu leiden haben) und auch gegen Pandemien deutlich artikulieren muss. Europa muss begreifen, dass in den Augen der meisten Entwicklungsländer China in diesem Gesamtkontext ein maßgeblicher Partner ist – und Russland nicht das größte Problem. Das erklärt auch, warum immer mehr Länder ihr Interesse an einem Beitritt zum BRICS-Verbund und zu seiner Neuen Entwicklungsbank bekunden. Die eurozentrische Welt geht ihrem Ende entgegen, die Vormachtstellung der USA wird infrage gestellt. Diese Entwicklung wird sich auch durch mehr Waffenlieferungen an die Ukraine nicht aufhalten lassen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld