Der indonesische Präsident Joko Widodo ist letzte Woche nach Kiew und Moskau gereist, um zwischen den beiden Kriegsparteien zu vermitteln. Das erklärte Ziel der Reise war es, Russland und die Ukraine zu einer baldigen friedlichen Lösung des Ukraine-Krieges beziehungsweise zumindest zur Wiederaufnahme ihrer Getreideexporte zu bewegen.
Beide Länder gehören mit einem geschätzten Anteil von 30 Prozent an den globalen Weizenexporten zu den größten Getreideexporteuren der Welt, Russland ist außerdem einer der wichtigsten Düngemittel-Exporteure. Die kriegsbedingte Unterbrechung der Getreideexporte hat wesentlich zum Anstieg der Preise für Getreide und Grundnahrungsmittel weltweit beigetragen.
Neben den Auswirkungen auf Lieferketten und die Weltmarktpreise vieler Rohstoffe und Produkte hat der Ukraine-Krieg außerdem zu einer Verschärfung der weltpolitischen Systemkonkurrenz und zur Intensivierung des Konflikts zwischen China und Russland einerseits und dem „Westen“ andererseits geführt.
Für Indonesien und Präsident Widodo standen bei der diplomatischen Reise daher vor allem die sicherheitspolitischen Konsequenzen des Konflikts für Südost-Asien und die Asien-Pazifik-Region sowie die Auswirkungen auf den G20-Vorsitz Indonesiens dieses Jahr im Vordergrund. Jakarta verfolgt traditionell eine Politik der Blockfreiheit und möchte sich nicht an eine bestimmte Großmacht binden. Als größtes Land Südostasiens mit knapp 280 Millionen Einwohnern und einziges Mitglied der Region in der G20 hat es außenpolitisch durchaus einiges Gewicht.
Jakarta verfolgt traditionell eine Politik der Blockfreiheit und möchte sich nicht an eine bestimmte Großmacht binden.
Jakartas außenpolitische Interessen liegen vor allem in einer regelbasierten Weltordnung, die die Handlungsoptionen globaler und regionaler Großmächte einschränkt. Indonesien hat dementsprechend den Einmarsch Russlands in die Ukraine als völkerrechtswidrig kritisiert und abgelehnt. Bei der entsprechenden Abstimmung bei den Vereinten Nationen hat es sich allerdings enthalten und sich auch nicht den westlichen Sanktionen angeschlossen. Damit will es seine Neutralität unter Beweis stellen und so seine Handlungsspielräume bewahren. Die sicherheitspolitischen Konsequenzen für die Asien-Pazifik-Region betreffen insbesondere die Rolle Chinas. So gibt es vor allem Sorgen, welche Lehren und Konsequenzen Peking im Hinblick auf Taiwan ziehen wird – konkret, ob und wann China entscheiden wird, sich Taiwan militärisch einzuverleiben.
Das seit einigen Jahren steigende sicherheitspolitische und strategische Interesse der westlichen Länder an Indonesien und Südostasien ist vor diesem Hintergrund durchaus willkommen. Nicht zuletzt, weil sich vor allem Indonesien erhofft, von beiden Seiten mehr handels- und entwicklungspolitische Zugeständnisse zu erhalten, ohne sich auf die eine oder andere Seite schlagen zu müssen. Gleichzeitig besteht jedoch die Sorge, dass die sicherheitspolitischen Initiativen der USA in der Region auf chinesischer Seite zu Bedrohungsvorstellungen ähnlich denen Putins führen – mit der Konsequenz eines eventuellen Präventivangriffes auf Taiwan.
Seit Dezember 2021 hat Indonesien jetzt für ein Jahr den Vorsitz der G20 inne, der mit dem Gipfel am 15. und 16. November dieses Jahres auf Bali seinen Höhepunkt und Abschluss haben soll. Für Indonesien war der Vorsitz der G20 gleichzeitig eine Anerkennung seiner Bedeutung und eine Möglichkeit, in wichtigen Politikbereichen Erfolge zu erreichen.
Die offiziellen Themen des Gipfels dokumentieren dies: Unter dem Obertitel „Recover Together, Recover Stronger“ zielt Indonesien in den Hauptthemen „Globale Gesundheitsarchitektur“, „Digitale Transformation“ und „Nachhaltige Energie-Transition“ auf erweiterte Finanzbeiträge und Technologietransfer durch die westlichen Länder sowie China an Entwicklungsländer und vor allem Länder mittleren Einkommens wie es selbst ab.
Das erklärte Ziel Kiews ist dagegen die Befreiung der Donbas-Region von Russland.
Der Ukraine-Krieg hatte den G20-Gipfel zunächst gefährdet, weil mehrere westliche Länder den Ausschluss Russlands beziehungsweise Putins gefordert und im Falle seiner Teilnahme mit ihrer Absage gedroht hatten. Für Indonesien war diese Forderung nicht akzeptabel, weil es mit einer Ausladung Putins dem westlichen Druck nachgegeben, sich auf die Seite des Westens gestellt und das Fernbleiben anderer Länder – vor allem Chinas – riskiert hätte. Der Gipfel wäre damit gescheitert und hätte vermutlich abgesagt werden müssen.
Indonesien reagierte darauf mit einer diplomatischen Offensive von Außenministerin Retno Marsudi und Präsident Widodo selbst. So lud Widodo den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum G20-Gipfel ein, so dass nun beide Seiten vertreten sein werden. Seine Ernennung als einer der sechs „Champions“ der von UN-Generalsekretär Guterres einberufenen „Global Crisis Response Group“ gibt Widodo nun die Gelegenheit, auf den durch den Ukraine-Krieg verursachten Anstieg von Lebenshaltungskosten weltweit mit humanitären Missionen zu reagieren. Indonesiens Neutralität bleibt dabei gewahrt und sein globaler Einfluss wächst.
Nicht zuletzt kann Präsident Widodo dadurch sein persönliches außen- und innenpolitisches Ansehen steigern. Letzteres ist für ihn deshalb von Bedeutung, weil er Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers im Jahr 2024 nehmen will, da er selbst nicht mehr kandidieren kann. Dies ist ihm wichtig, um die Fortführung seiner politischen „Leuchtturm“-Projekte zu garantieren, darunter die Verlegung der Hauptstadt von Jakarta auf der Insel Java auf die nördlich gelegene Insel Borneo.
Als Ziel seiner Reise nach Moskau und Kiew haben Widodo und die indonesische Außenministerin Marsudi angegeben, dass er Russland und die Ukraine aus humanitären Gründen zu einer Wiederaufnahme ihrer Getreideexporte bewegen will. Im Idealfall im Rahmen einer baldigen Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand – oder sogar durch ein Friedensabkommen. Widodos Hauptargument vor allem gegenüber Putin dürfte gewesen sein, dass der russische Präsident mit einer Ablehnung riskiert, dass Länder, die sich bisher neutral verhalten haben, ihre Haltung ändern und gegebenenfalls den Sanktionen gegen Russland beitreten werden. Russland riskiere damit eine zunehmende Isolation und den Verlust seines weltpolitischen Einflusses.
Doch diese Argumente haben bislang weder Putin noch Selenskyj überzeugt. Russlands anfängliches Kriegsziel in der Ukraine war die schnelle Einnahme Kiews und die Installation einer russlandhörigen Marionetten-Regierung. Nach dem Scheitern dieses Ziels will Russland jetzt die Donbas-Region und die südliche ukrainische Küste vollständig unter seine Kontrolle bringen. Erst nach Erreichen dieses Ziels dürfte Putin zu Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen bereit sein, und in den Verhandlungen darauf bestehen, dass die Ukraine sich nicht dem Westen anschließt, also auf eine NATO- und EU-Mitgliedschaft verzichtet.
Eine Zusage Moskaus, seine Düngemittel-Exporte zu erhöhen, war nach ersten Informationen das bisher einzige Ergebnis der Reise Widodos.
Das erklärte Ziel Kiews ist dagegen die Befreiung der Donbas-Region von Russland. Die Ukraine würde wahrscheinlich die Fortsetzung der russischen Besetzung der Krim akzeptieren, aber auf westliche Sicherheitsgarantien bestehen, darunter zumindest die Fortführung des EU-Beitrittsprozesses. Allerdings hängt die Durchhaltefähigkeit der Ukraine entscheidend von der Fortsetzung der westlichen Unterstützung und insbesondere zunehmender Waffenlieferungen ab.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist also eine Beendigung des Krieges unwahrscheinlich. Im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Getreide- und Düngemittellieferungen wären zwar Lösungen ohne eine Beendigung des Krieges denkbar, so eine einseitige Erhöhung russischer Exporte sowie die Einrichtung eines Exportkorridors für die Ukraine über Odessa. Ob Putin zu Letzterem bereit ist, ist jedoch fraglich, er dürfte dem nur zustimmen, wenn er weitreichende Zugeständnisse der Ukraine und des Westens erreichen kann. Eine Zusage Moskaus, seine Düngemittel-Exporte zu erhöhen, war nach ersten Informationen das bisher einzige Ergebnis der Reise Widodos.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Teilnahme von Präsident Widodo am G7-Gipfel auf Schloss Elmau zu sehen. Hier ging es – hinter den Kulissen – zum einen um eine Abstimmung über die Angebote, die Widodo Putin und Selenskyj machen kann. Wichtiger für Widodo war jedoch, die G7-Mitglieder von ihren Forderungen abzubringen, Putin vom G20-Gipfel auszuschließen, und ihre Teilnahme auch ohne Ausschluss Putins zu bestätigen. Bundespräsident Steinmeier hatte dem Vernehmen nach Widodo bereits bei seinem Staatsbesuch in Indonesien vor anderthalb Wochen mitgeteilt, dass Bundeskanzler Scholz am G20-Gipfel teilnehmen wird. Die anderen G7-Länder werden voraussichtlich nun ebenfalls ihre Teilnahme bestätigen.
Damit hat Präsident Widodo seine wichtigsten Ziele erreicht: Indonesien hat seine weltpolitische Rolle gestärkt, seine Verhandlungsspielräume gegenüber beiden Seiten im globalen Systemkonflikt offengehalten und er hat den G20-Gipfel im eigenen Land gerettet.