Seit mittlerweile vier Wochen ist der Andenstaat Ecuador in Aufruhr. Die von Präsident Daniel Noboa per Dekret aufgehobenen Dieselsubventionen waren der Tropfen, der die bereits seit Längerem schwelende Unzufriedenheit mit dem Regierungskurs zum Überlaufen brachte. Sie provozierten einen von der indigenen Bewegung angeführten Generalstreik, dem sich auch Gewerkschaften, Studierende und soziale Bewegungen anschlossen. Bei den Demonstrationen in verschiedenen Städten sowie indigenen Territorien des Landes richtet sich die Wut der Menschen gegen die massiven Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor, gegen die Beschränkung demokratischer Rechte wie der Versammlungsfreiheit sowie gegen die fortschreitende Machtkonzentration in der Exekutive.
Die Regierung reagierte mit militärischer Stärke und robuster Repression: Es kam zu einem massiven Truppenaufmarsch, zum Einsatz von Tränengas und zur Blockade von Zugangsrouten, um die Demonstrationen zu verhindern. In manchen Regionen wurde zudem die Strom- und die Internetversorgung unterbrochen. An den ersten 26 Streiktagen gab es laut Polizeiangaben 172 Festnahmen, darunter elf Jugendliche. Ein indigener Anführer erlag im Krankenhaus seinen Schuss- und Schlagverletzungen, die er durch den Einsatz der Sicherheitskräfte erlitten hatte. Inzwischen gibt es zwei weitere Todesopfer und hunderte Verletzte. Seitdem haben sich die Proteste weiter radikalisiert. Am 7. Oktober wurde der Konvoi des Präsidenten in der Provinz Cañar mit Steinwürfen attackiert. Die Regierung wertet dies als Mordanschlag. Die Protestierenden werden pauschal als Vandalen und Terroristen kriminalisiert, mit denen nicht verhandelt werde. Ein von der Kirche vermittelter Dialog zwischen Regierungsvertretern und indigenen Organisationen scheiterte am Wochenende.
Die Protestierenden werden pauschal als Vandalen und Terroristen kriminalisiert, mit denen nicht verhandelt werde.
Das Streichen von Treibstoffsubventionen war in den letzten Jahren eine der schwierigen Konditionen für die Ausweitung des Kreditprogramms des Internationalen Währungsfonds. 2019 und 2022 hatten die Vorgängerregierungen von Guillermo Lasso und Lenin Moreno bereits ähnliche Versuche unternommen – und dann angesichts massiver sozialer Proteste doch wieder zurückgenommen. Noboa selbst hatte sich noch im Wahlkampf dagegen ausgesprochen, mit Hinweis auf die direkte Wirkung auf die Inflation. Nach Kalkulationen des Observatoriums für Arbeit und kritisches Denken verursacht die Streichung der Dieselsubventionen eine Verteuerung des Grundwarenkorbes um 103 US-Dollar. In Ecuador, wo immer noch rund 40 Prozent der Bevölkerung und 70 Prozent der indigenen Bevölkerung von multidimensionaler Armut betroffen sind, ist das ein beträchtlicher Einschnitt für Familien der Arbeiterklasse.
Die Maßnahme steht im Kontext einer harten neoliberalen Reformagenda, die Präsident Daniel Noboa seit seiner Wiederwahl im April 2025 durchzusetzen begann. Flügelkämpfe in der Opposition und abtrünnige Parlamentarier der beiden größten Oppositionsparteien Revolución Ciduadana und Pachakutik hatten Noboa eine Mehrheit in der Nationalversammlung beschert. Diese wussten der Präsident und seine noch junge politische Formierung ADN („Nationale demokratische Aktion“) zu nutzen, um weitreichende wirtschaftliche, steuerliche, arbeitsrechtliche, ökologische und institutionelle Reformen voranzutreiben und die Macht der Exekutive auszubauen.
Ecuador steht seit einigen Jahren im Fokus organisierter Banden – unter anderem aufgrund der Veränderung von Drogenrouten – und hat sich zu einem der gewalttätigsten Länder der Region entwickelt. Mit dem im Januar 2024 per Dekret ausgerufenen „internen bewaffneten Konflikt“ sollte dem Staat die effektive Bekämpfung des organisierten Verbrechens erleichtert werden. Nach anfänglichen Erfolgen haben sich die sicherheitspolitischen Maßnahmen jedoch als begrenzt effektiv herausgestellt. Mit 2 361 gewaltsamen Morden gilt das erste Trimester 2025 als das gewaltsamste der jüngeren Geschichte des Landes. Die Einstufung als „interner bewaffneter Konflikt“ ermöglicht einen fortgesetzten Ausnahmezustand, befördert die Militarisierung der Sicherheitspolitik und das Aussetzen demokratischer Grundrechte wie der Versammlungsfreiheit. Trotz der Kritik des Verfassungsgerichts wird dieser Zustand immer wieder verlängert, wodurch die Möglichkeit zivilen Protests eingeschränkt und die Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen erleichtert wird.
So kann der Präsident sein politisches Programm mit erstaunlicher Geschwindigkeit umsetzen. In den ersten 100 Tagen seiner zweiten Amtszeit ergriff er drastische Maßnahmen zur Verkleinerung des Staates. So wurden mehrere Ministerien abgeschafft bzw. zusammengelegt, und insgesamt wurden 5 000 Staatsbedienstete entlassen. Die neue Mehrheit in der Nationalversammlung erlaubte es auch, fünf „dringende Wirtschaftsgesetze“ mit wohlklingenden Namen (etwa „nationale Solidarität“, „soziale Transparenz“ oder „öffentliche Integrität“) zu verabschieden, die sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt problematisch sind. Der verkürzte Gesetzgebungsprozess, der Beratungen und Expertenkonsultationen in der Nationalversammlung einschränkt und eigentlich als Ausnahme gedacht ist, wird unter Berufung auf den „Ausnahmezustand“ systematisch genutzt, um im Eiltempo Reformen durchzudrücken. Diese Gesetzentwürfe behandeln eine Vielzahl von Themen, die in keinem klaren Zusammenhang zueinander stehen, und beeinträchtigen die Verfassungs-, Menschen-, Arbeits- und Gewerkschaftsrechte.
So wird beispielsweise der Begriff „militärische Ziele“ sehr weit gefasst, Abhörmaßnahmen und Hausdurchsuchungen werden ohne richterliche Anordnung ermöglicht und gleichzeitig eine vorzeitige Begnadigung für Militärangehörige bei Vergehen zugelassen. Die Unklarheit in den Definitionen bietet ein Einfallstor, um diese rechtlichen Rahmenbedingungen zu nutzen, um politische Gegner sowie regierungskritische Organisationen zu verfolgen und ihre Handlungsfähigkeit einzuschränken. Wer sich gegen die Gesetze stellt, wird als Gegner der effektiven Kriminalitätsbekämpfung dargestellt und muss mit politischer Anfeindung oder mit der Schließung seiner Organisation rechnen.
Die Gewerkschaften sind besonders besorgt, dass die neuen Vorschriften zu einer weiteren Prekarisierung der Rechte von Arbeitnehmenden und einer systematischen Schwächung gewerkschaftlicher Organisationen führen könnten. Unter dem Vorwand der Modernisierung und der Steigerung der Verwaltungseffizienz wurden administrative Kontrollvorschriften vorangetrieben, die staatliche Eingriffe in das interne Leben der Gewerkschaften ermöglichen. Zudem gibt es eine Kontrolle über die Mitgliedschaften und die Finanzen der Gewerkschaften. Dadurch sind die Organisationen Überwachung und dem Risiko von Repressalien ausgesetzt. Die Maßnahmen verschärfen eine Situation, die bereits vom ILO-Sachverständigenausschuss beobachtet und drei Jahre in Folge kritisiert wurden. Aus diesen Gründen haben soziale Organisationen und Gewerkschaften mindestens 40 Verfassungsklagen gegen diese fünf Gesetze eingereicht. Am 27. September erklärte das Verfassungsgericht zwei der Gesetze, das Gesetz der Solidarität und das der öffentlichen Integrität, für nicht verfassungskonform.
Es wäre also grünes Licht für ein ruhigeres Durchregieren des neoliberalen Reformprojekts und der autoritären Sicherheitspolitik.
Davon lässt sich die Regierung jedoch nicht beeindrucken. Entschlossen treibt sie ihr politisches Projekt voran, auch wenn sie dafür ganz in der Manier anderer Regierungen der neuen Rechten die Grenzen der demokratischen Verfassung immer weiter dehnen muss oder willentlich missachtet. Das Verfassungsgericht selbst hat sie dabei zum Feind erklärt. Dieses untergrabe – genau wie die unter Expräsident Correa reformierte Verfassung – die Effizienz des Regierungshandelns. Einfach weil es Reformgesetze zurückruft, die mit grundlegenden Rechtsnormen unvereinbar sind. Zuletzt versuchte Präsident Noboa trotzig, eine Volksbefragung über die Einrichtung einer verfassungsgebenden Versammlung anzusetzen. Die Wahlbehörde entschied jedoch, den verfassungsrechtlichen Weg einzuhalten und das Dekret an das Gericht weiterzuleiten. Dieses ließ die Volksbefragung zu, die nun am 16. November stattfinden soll. Knapp 14 Millionen Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer sollen unter anderem darüber abstimmen, ob sie die als fortschrittlich geltende Verfassung von 2008, die unter anderem Rechte für die Natur und ein Recht auf Nahrung vorsieht, überarbeiten möchten. Diese Verfassungsreform ist für die Regierung von entscheidender Bedeutung. Eine Aufweichung der garantierten Grundrechte würde es ihr ermöglichen, rechtliche Hindernisse für die Ausweitung des Rohstoffabbaus zu beseitigen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und ein Schutzschild für repressive Politik zu schaffen. Es wäre also grünes Licht für ein ruhigeres Durchregieren des neoliberalen Reformprojekts und der autoritären Sicherheitspolitik.
Ecuador befindet sich an einem Scheideweg: Setzt sich das politische Projekt Noboas mit seiner Agenda der wirtschaftlichen Liberalisierung, der Machtkonzentration und einer Sicherheitspolitik der harten Hand durch? Oder schaffen es die sozialen Bewegungen und die Zivilgesellschaft, das vorhandene Unbehagen gegenüber den Reformen zu kanalisieren und bei der consulta popular lautstark die demokratischen Errungenschaften des plurinationalen Staates zu verteidigen? Der Volksentscheid ist eine wichtige Wegmarke für das bewegte Land.