Im Jahr 2008 sprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset von der „besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels“ und erklärte, diese sei Teil der deutschen Staatsraison. Damit prägte sie eine Leitlinie deutscher Außenpolitik, die gleichwohl in ihrer operativen Bedeutung bis heute unscharf geblieben ist. Zudem hat sich die Interpretation, welche konkrete Verantwortung sich aus der deutschen Geschichte ergibt, seither immer stärker auf eine weitreichende Unterstützung der nationalen Sicherheit Israels beziehungsweise einer diesbezüglichen Kooperation mit israelischen Regierungen verengt.
Dies ist angesichts der Politik der derzeitigen israelischen Regierung besonders problematisch. Denn diese kann schon seit geraumer Zeit nicht mehr als eine Wertepartnerin gesehen werden: Sie baut im eigenen Land demokratische Kontrollmechanismen ab, stellt sich explizit gegen eine Zwei-Staaten-Regelung und treibt das Siedlungs- und Annexionsprojekt im Westjordanland voran. Ihre militärische Reaktion auf die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat im Gazastreifen zu einer sehr hohen Zahl ziviler Opfer, zur großflächigen Zerstörung von Wohnraum, von Infrastruktur und von Kultureinrichtungen und zur Vernichtung der Lebensgrundlagen geführt. Hinzu kommt eine absichtlich herbeigeführte Hungersnot in Teilen des Küstengebiets. Eine Vertreibung der Bevölkerung, die euphemistisch als „freiwillige Auswanderung“ bezeichnet wird, hat Premier Benjamin Netanjahu zwischenzeitlich als einzige gangbare Option dargestellt.
Mit der Zuspitzung der Situation in Nahost ist überdeutlich geworden, dass die Staatsraison-Doktrin in ihrer heutigen Auslegung weder Deutschlands historischer Verantwortung noch seinen strategischen Interessen – insbesondere der Aufrechterhaltung einer rechtsbasierten Weltordnung und einer starken EU – oder seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird. Es ist daher höchste Zeit für eine Kurskorrektur. Zwei Punkte sollten dabei zentral sein.
Erstens darf es im demokratischen und völkerrechtsfreundlichen System der Bundesrepublik keine außenpolitischen Prinzipien geben, die über dem Grundgesetz stehen oder gegen völkerrechtliche Grundsätze verstoßen. Deutsche Politik ist an die Verfassung und an das Völkerrecht gebunden, dessen allgemeine Regeln laut Artikel 25 des Grundgesetzes Bestandteil des Bundesrechts sind und den Gesetzen vorgehen. Darüber hinaus hat sich Deutschland weiteren Regelwerken unterworfen – etwa denen der EU, der Völkermordkonvention von 1948 (die infolge der Schoah entstanden ist) oder dem Vertrag über den Waffenhandel von 2013. Diese dürfen auch aus Solidarität mit engen Partnern wie Israel nicht unterlaufen werden, wenn eine rechtsbasierte Weltordnung Bestand haben und die internationale Reputation Deutschlands nicht schweren Schaden nehmen soll.
Die Bundesregierung sollte daher bekräftigen, dass das Völkerrecht die Grundlage deutscher Politik ist – auch gegenüber Israel –, und sich konsistent für eine universelle internationale Strafgerichtsbarkeit einsetzen. Aussagen wie die, man wolle dem israelischen Premierminister trotz des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs eine Reise nach Deutschland ermöglichen, widersprechen einer solchen Haltung. Im Einklang mit ihr stünde hingegen, mit aller Kraft dazu beizutragen, einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern, Aufstachelung und Hetze zu unterbinden sowie die humanitäre Lage dort zu verbessern – und damit die rechtsverbindlichen Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs vom Januar, März und Mai 2024 umzusetzen –, anstatt entsprechende Warnungen und Berichte, etwa von UN-Kommissionen, abzutun.
Deutschland hat eine besondere Verantwortung, sich für Menschenrechte, Völkerrecht und Völkerstrafrecht einzusetzen.
Ebenso folgerichtig wäre es, sofort ein umfassendes Ausfuhrverbot für alle Waffen und Dual-Use-Güter, die völkerrechtswidrig eingesetzt werden könnten, gegenüber Israel zu verhängen. Dies würde auch den rechtlichen Verpflichtungen aus dem Waffenhandelsvertrag entsprechen, dessen Vertragsstaat Deutschland ist. Es wäre außerdem eine der Maßnahmen, die im Einklang mit dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Rechtswidrigkeit der israelischen Besatzung vom Juli 2024 stünden. Denn Drittstaaten sind dazu verpflichtet, alles zu tun, um die Besatzung schnellstmöglich zu beenden, und alles zu unterlassen, was ihrer Verfestigung dienen könnte. Auch hier hat Deutschland großen Nachholbedarf, was eine konsistente Haltung angeht.
Zweitens sollte Deutschland seine historische Verantwortung umfassend verstehen. Die Verengung auf Israels nationale Sicherheit trägt den Lehren aus dem deutschen Menschheitsverbrechen der Schoa und den deutschen Angriffskriegen des 20. Jahrhunderts nicht ausreichend Rechnung. Aufgrund seiner Geschichte hat Deutschland eine partikulare Verpflichtung zum Schutz jüdischen Lebens und zum aktiven Eintreten gegen Antisemitismus – die aus der Schoah erwachsende Verantwortung gilt dabei in erster Linie gegenüber Jüdinnen und Juden weltweit, nicht gegenüber einer Regierung Israels. Das „nie wieder“ muss gleichzeitig als universelles Prinzip verstanden werden. Deutschland hat deshalb eine besondere Verantwortung – und ein herausgehobenes Interesse daran –, sich für Menschenrechte, Völkerrecht und Völkerstrafrecht einzusetzen. Auch die aus der einzigartigen Versöhnung hervorgegangene Partnerschaft Deutschlands mit Israel muss in universellen Werten und internationalen Normen verankert sein.
Zudem begründen die historische Verkettung von Schoah und Nakba, die europäische Rolle bei der Entstehung des israelisch-palästinensischen Konflikts und die deutsche Unterstützung für den Staat Israel eine deutsche (und europäische) Mitverantwortung für das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser. Das bedeutet ausdrücklich nicht, die beiden Katastrophen Schoah und Nakba gleichzusetzen oder das Leid einer Seite durch das der anderen zu relativieren. Diese sekundäre Verantwortung begründet vielmehr eine herausgehobene deutsche und europäische Verpflichtung dafür, sich aktiv für eine Konfliktregelung im Nahen Osten einzusetzen, die (auch) das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung verwirklicht und palästinensischen Flüchtlingen ein Leben in Würde ermöglicht.
Mantraartig das Ziel einer Zwei-Staaten-Regelung zu postulieren, ohne es mit konkreten Maßnahmen – etwa der Anerkennung eines palästinensischen Staates – zu unterfüttern, greift dabei zu kurz. Eine entsprechende Konfliktregelung kann zudem kaum in enger Partnerschaft mit einer israelischen Regierung gelingen, die einen exklusiven Anspruch des jüdischen Volkes auf das gesamte Territorium zwischen Mittelmeer und Jordanfluss erhebt. Nötig ist eine Nahostpolitik, die „Jenseits der Staatsraison“ der historischen Verantwortung, den strategischen Interessen und den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands gerecht wird.