Nicht Algorithmen oder Chips, sondern elektrischer Strom wird über die nächste Phase des globalen KI-Wettrennens entscheiden – und dies verschafft China einen entscheidenden Vorteil. Während westliche Technologieriesen geschlossene, kapitalintensive und enorme Rechenleistung erfordernde Modelle in den Vordergrund stellen, setzt China auf Open-Source-KI und baut seine Kapazitäten im Bereich erneuerbarer Energien und Kernenergie massiv aus. Damit ist das Land in der Lage, leistungsstarke KI-Technologien in großem Maßstab einzusetzen, ohne dabei sein Budget zu sprengen.
Diese Unterschiede sind Ausdruck einer grundsätzlicheren Kluft. Während die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten KI als proprietäre Technologie betrachten, sieht China darin eine öffentliche Infrastruktur und baut ein offenes KI-Ökosystem auf, in dem sich dieselbe Philosophie widerspiegelt, die auch in der Fertigung zum Tragen kommt: breite Akzeptanz, schnelle Iteration und unablässige Kostensenkung. Bei den chinesischen Open-Source-Modellen wie DeepSeek, Qwen und Kimi handelt es sich nicht nur um wissenschaftliche Errungenschaften, sondern um strategische Instrumente, die auf Beteiligung ausgelegt sind und die die wirtschaftliche Seite der KI verändern.
Die neueste Version von DeepSeek soll angeblich mit den Fähigkeiten der von US-Unternehmen entwickelten Spitzensysteme mithalten können, und das zu einem Bruchteil der Rechenkosten. Die API-Preise von Qwen und Kimi sind um ein Vielfaches gesunken. Rein wirtschaftlich betrachtet brechen die Grenzkosten des „Denkens“ ein. Die Inferenzkosten einiger chinesischer Modelle betragen ein Zehntel oder weniger der Kosten, die bei GPT-4 von OpenAI anfallen.
Doch je billiger KI wird, desto mehr wird weltweit davon konsumiert, wobei jedes eingesparte Token 1 000 weitere generiert. Die gleiche Dynamik, die einst das Kohlezeitalter befeuerte, ist nun die treibende Kraft des digitalen Zeitalters. In China geschieht dies ganz bewusst: Niedrige Inferenzkosten in Verbindung mit den offenen Gewichten chinesischer Modelle sollen Universitäten, Start-ups und lokale Behörden zu Experimenten anregen. All diese Aktivitäten erfordern jedoch Energie: Die Internationale Energieagentur erwartet, dass sich der weltweite Stromverbrauch von Rechenzentren bis 2030 (gegenüber dem Niveau von 2024) verdoppeln wird und zwar vor allem aufgrund der KI-Workloads. Allein das Training von GPT-4 hat wahrscheinlich Millionen Kilowattstunden verbraucht – genug, um San Francisco drei Tage lang mit Strom zu versorgen.
Was einst als Wettstreit der Algorithmen galt, entwickelt sich zusehends zu einem Wettbewerb der Kilowatt, und China ist auf dem besten Weg, als Sieger daraus hervorzugehen.
Was einst als Wettstreit der Algorithmen galt, entwickelt sich zusehends zu einem Wettbewerb der Kilowatt, und China ist auf dem besten Weg, als Sieger daraus hervorzugehen. Im Jahr 2024 hat das Land 356 Gigawatt an Kapazitäten im Bereich erneuerbarer Energien geschaffen – mehr als die USA, die Europäische Union und Indien zusammen – wobei 91 Prozent der gesamten neuen Energieerzeugung aus Solar-, Wind- und Wasserkraft stammen. Die Batteriespeicherkapazität hat sich gegenüber 2021 verdreifacht, und ein Ultra-Hochspannungsnetz transportiert nun saubere Energie über tausende Kilometer, von Wüsten zu Datenzentren.
China investiert zudem massiv in Kernenergie. Laut der Information Technology and Innovation Foundation liegen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Bereich Kernenergie etwa fünfmal höher als in den USA. Mit Reaktoren der vierten Generation und kleinen modularen Designs, die sich in der Pilotphase befinden und bald zum Einsatz kommen werden, sorgt die Kernenergie im Hintergrund für die Grundlastversorgung, die intermittierende erneuerbare Energien nicht leisten können.
Diese Kombination aus offenen KI-Modellen, kostengünstigen erneuerbaren Energien und einer stabilen Versorgung mit Kernenergie bildet so etwas wie ein Schwungrad aus Energie und Rechenleistung: Mehr sauberer Strom ermöglicht mehr Rechenleistung, wodurch wiederum das Stromnetz optimiert wird. Bereits heute liefern maschinelle Lernsysteme Prognosen im Bereich Solarstromproduktion, verwalten die Energiespeicherung und gleichen die Last im riesigen chinesischen Stromnetz in Echtzeit aus. Das Resultat besteht in einer Neuordnung der Branche, da die herkömmlichen Trennlinien zwischen Energie, Halbleitern und Software verschwinden. Rechenzentren sind die neuen Kraftwerke und GPUs die neuen Turbinen. China elektrifiziert nicht nur seine Industrie, sondern auch seine Intelligenz.
Abgesehen von der Stärkung seines eigenen Netzes für saubere Energie exportiert China auch die Bausteine des neuen weltweiten Energiesystems. Die Exporte aus dem Bereich sauberer Technologien – darunter Solarmodule, Netzakkus und Elektrofahrzeuge – erreichten im August dieses Jahres den Rekordwert von 20 MilliardenUS-Dollar und übertrafen damit die Exporte von Unterhaltungselektronik aus dem vorangegangenen Jahrzehnt. Auch wenn der Westen Chips und Software exportiert, so ist es doch China, das den für deren Nutzung erforderlichen Strom herstellt.
Unterdessen führen die Energieprobleme des Westens – veraltete Stromnetze, langwierige Genehmigungsverfahren und hohe Preise – zu digitalen Engpässen. In den USA und anderen Ländern wird der Ausbau von Rechenzentren in zunehmendem Maße durch einen erschwerten Zugang zu zuverlässiger Stromversorgung eingeschränkt. In einigen Gebieten – wie beispielsweise Virginia und Dublin – gelten Moratorien für neue Rechenzentren.
Wer den billigsten Strom hat, verfügt auch über die kostengünstigste Intelligenz – und profitiert von wachsendem Wohlstand in beiden Bereichen.
Schon immer begünstigten industrielle Revolutionen jene Gesellschaften, die Energie am effizientesten in Produktivität umwandeln konnten. Im 19. Jahrhundert war Kohle der Schlüssel zu einem Weltreich. Im 20. Jahrhundert war Erdöl Trumpf. Und im 21. Jahrhundert wird es saubere Energie in Verbindung mit Rechenleistung sein. Wer den billigsten Strom hat, verfügt auch über die kostengünstigste Intelligenz – und profitiert von wachsendem Wohlstand in beiden Bereichen.
Dank einer systemischen Abstimmung von Investitionen und Anreizen, die in Demokratien nur schwerlich rasch repliziert werden könnte, richtet sich China derzeit in dieser begehrten Position ein. Doch China wird von seinem Erfolg nicht allein profitieren. Für Schwellenländer, die sich Hochleistungsrechner bislang nicht leisten konnten, bieten offene Modelle und sinkende Energiekosten die Möglichkeit, KI zugänglich und sogar unverzichtbar zu machen, ähnlich wie dies bei Strom oder Breitband der Fall war.
Überfluss garantiert jedoch keine Stabilität. Ohne ausreichende Investitionen in die Erzeugung und Speicherung sauberer Energie könnte der steigende Energiebedarf für KI die Stromnetze belasten und die Fortschritte bei der Dekarbonisierung gefährden. Wie im Industriezeitalter könnte Effizienz zu Überfluss führen, und Fortschritt womöglich mit wachsenden Ungleichgewichten einhergehen. Der Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Überfluss und Einschränkung wird darüber entscheiden, ob KI zu einem Instrument der Selbstermächtigung oder zu einem neuen Motor der Ungleichheit wird.
Vor zwei Jahrhunderten wandelte die Dampfmaschine Wärme in Bewegung um – und veränderte die Weltwirtschaft. Heute verwandelt KI Elektrizität in Erkenntnis, und wer beides beherrscht, wird die Regeln des Fortschritts wieder neu schreiben.
© Project Syndicate
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier




