Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der zu provozieren liebt, äußerte kürzlich in der Bild-Zeitung die Meinung, die Deutschen sollten länger arbeiten. Für eine Partei, die ihre gesamte Geschichte über das Gegenteil gefordert hat, nämlich Arbeitszeitverkürzung ohne Einkommensverluste, war das eine aparte Forderung, die Gabriel mit dem Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte und mit krisenbedingten Einkommensverlusten begründete. Der Vorschlag, der rasch in der Versenkung verschwand, war nicht nur sozialpolitisch unklug, sondern auch umweltpolitisch fantasielos – was ein einstiger Umweltminister eigentlich vermeiden sollte.

Schon länger ist empirisch plausibel, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit, etwa in Gestalt einer regulären Vier-Tage-Arbeitswoche, eine erhebliche Verringerung des ökologischen Fußabdrucks mit sich bringt. Diese arbeitspolitische Maßnahme, die sich unter der Hand in vielen reichen Ländern schon als gängige Praxis eingeschlichen hat, stellt einen weit größeren Hebel der Transformation zur Nachhaltigkeit, einen weit größeren Beitrag zum Klimaschutz dar als viele kleinteilige Verhaltensänderungen beim Konsum und im Alltagsleben (ohne dass man auf diese verzichten sollte.) Das liegt vor allem daran, dass eine flächendeckende Verkürzung der Wochen- und Monats-Arbeitszeit deutlich zur überfälligen Verkehrswende beitrüge, indem sie die Pendler-Mobilität der Fahrten zum und vom Arbeitsplatz einschränkt. Voraussetzung ist freilich, dass solche Kilometer-Einsparungen nicht für die Verlängerung anderer, freizeitbezogener Wege im Individualverkehr genutzt werden. Wer sich das Verkehrsaufkommen an Sonn- und Feiertagen vor Augen führt, mag daran Zweifel hegen.

Eine Verkürzung der Arbeitszeit bringt eine erhebliche Verringerung des ökologischen Fußabdrucks mit sich.

„Freie Zeit“ ist für viele heute mit starken Zwängen und hohen Aufwendungen verbunden. Das führt zurück in die sozialpolitische Debatte der 1970er Jahre, in deren Verlauf das gewerkschaftliche Postulat kürzerer Arbeitszeiten verbunden wurde mit dem Vorschlag der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Sozialistische Theoretiker wie André Gorz stießen erst über dieses Junktim zu den Möglichkeiten vor, bereits mitten in einer kapitalistischen Wirtschaft die Utopie des Reichs der Freiheit zu verwirklichen, in der es möglich  wird, nach einer berühmten Marx’schen Formel, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je ein Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu werden“.

Sozialromantik? Gorz ersann die Multiaktivitätsgesellschaft jenseits der Lohnarbeit: „… sie muss die gesellschaftliche Zeit und den gesellschaftlichen Raum in einer Weise gestalten, dass abwechselnd oder gleichzeitig betriebene Tätigkeiten und entsprechende Zugehörigkeiten jeder und jedem als normal, von allen erwünscht und erwartet erscheinen. Dass also jeder einem kooperativen Selbstversorgungsunternehmen, einem Selbsthilfenetzwerk, einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe, einem Orchester oder Chor, einer Theater-, Tanz- und/oder Malereiwerkstatt, einem Sportverein, einer Yoga- oder Judo-Schule etc. angehört.“ Ist das schon „bedingungslos“? Ja, unter der Prämisse, dass weder bei der Arbeit noch in der Freizeit Wettbewerb und Auslese im Zentrum stehen, sondern „Vortrefflichkeit als das gemeinsame Ziel aller“, ein antikes Motiv, das auch Hannah Arendts politisches Denken geprägt hat, etwa in ihrem Spätwerk „Vita activa“.

Die Idee eines Grundeinkommens wird lagerübergreifend diskutiert.

Die Vier- oder Drei-Tage-Woche ist somit kein Ziel an sich, sie funktioniert nur mit der radikalen Entkopplung von (Lohn-)Arbeit und Einkommen, die in der Pandemie (die weder „vorbei“ ist noch die letzte Krise dieser Art bleiben wird) bereits durch diverse staatliche Transferleistungen und das „Bürgergeld“ vorgezeichnet ist. Kompakt zusammengefasst soll demnach jeder (Bürger eines verfassten Gemeinwesens) lebenslang ein existenzsicherndes Einkommen erhalten. Dieses steht ihm und ihr als individueller Rechtsanspruch zu, ist also weder an eine Arbeitspflicht gebunden, noch an eine Vorab-Prüfung der Bedürftigkeit nach Einkommen und Vermögen, Herkunft und Bildung, Beruf und Alter. Kurzum: auch ein neugeborenes Baby, die Studentin aus reichem Hause, die erfolgreiche Managerin und der achtzigjährige Millionär beziehen ein Grundeinkommen.

Diese Idee ist so atemberaubend radikal wie schlicht, und da sie kontraintuitiv wirkt, wird sie notorisch kontrovers und gleichwohl politisch lagerübergreifend diskutiert, insofern ihr ein Teil der Sozialisten und Konservativen, Liberalen und Libertären beigepflichtet haben, während der jeweils andere Teil derselben Gruppierungen sie energisch bekämpft. Dass, wer nicht arbeitet, dennoch essen dürfe, erscheint naiv, ist jedoch die radikalstmögliche Auslegung der normativen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit. Das deklarierte Recht auf Muße soll eine Antwort geben auf buchstäblich alle (sozialen) Fragen.

Ein „Recht auf Nichtstun“ ist prinzipiell genauso zu verteidigen wie ein „Recht auf Arbeit“.

Der Teufel liegt wie so oft im Detail. Doch im Blick auf diese normativen Grundlagen muss man erst einmal nicht nachweisen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen unter aktuellen Bedingungen eines bestimmten Landes unmittelbar realisierbar und dort auf einschlägig budgetäre Art finanzierbar ist. Gewiss steigert dieser Nachweis die Attraktivität der Idee, ebenso wie seriöse Experimente und Pilotprojekte, die in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität gestartet und ausgewertet worden sind. Doch ein (periodisches) „Recht auf Nichtstun“ ist prinzipiell genauso zu verteidigen wie ein „Recht auf Arbeit“, das moderne Arbeitsgesellschaften ja ebenso wenig jederzeit, überall und für alle garantieren konnten und können, ohne dass es deshalb normativ angefochten werden würde. Übereilt wäre nur, wenn man ein solches Recht auf Nichtstun in Verfassungen aufnehmen würde, bevor eine Verwirklichung auch nur entfernt möglich erscheint, was im Übrigen, genau wie das Recht auf Arbeit, in sozialen Kämpfen durchgefochten werden muss. Eine längere Transitionsphase im Übergang zur Alterskohorte der heute Geborenen ist dabei jedenfalls anzusetzen.

Gabriels Vorschlag demonstriert die Vorstellungsarmut einer in die Defensive geratenen Linken, die in der multiplen Krise der Gegenwart allein auf konventionelle Umverteilungsmaßnahmen setzt, und der es mit Blick auf die digitale Gesellschaft, in der mutmaßlich weitere Lohnarbeitstätigkeiten wegfallen werden, an konkreten Utopien mangelt. So wird der antidemokratischen Rechten, von der keinerlei Besserungsvorschläge zu erwarten sind, auch das Protestfeld überlassen. Bodo Hombach, ein anderer Sozialdemokrat der Schröder-Ära, der den Tanker SPD wohl schon ganz verlassen hat, lobte jüngst das Konzept zweier anwendungsorientierter Sozialwissenschaftler, Rolf G. Heinze und Jürgen Schupp, für die „das weltweit grassierende Virus als Beschleuniger für Entwicklungsprozesse wirken (kann), die ohnehin im Stillen schon abliefen und jetzt sichtbar wurden. Universelle Basissicherungen gekoppelt mit einer daseinsvorsorgenden Infrastruktur können … als Rahmung verstanden werden, um gesellschaftliche Transformationsprozesse anzuregen und auf diese Weise auch Perspektiven für ein derzeit noch utopisches Sozialstaatsmodell zu öffnen“.

Das Grundeinkommen erschien anfangs als Luxusidee der goldenen Wohlstandsjahre, nun in der Krise könnte das Konzept seine Wirkung entfalten. Die traditionelle Linke hat die Idee zu Unrecht ignoriert oder verdammt, die Debatte um das Grundeinkommen sollte nicht zuletzt unter ökologischen Gesichtspunkten neu eröffnet werden.