Sechs Jahre sind vergangen, seit Donald Trump in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident an einem NATO-Gipfel teilnahm. In der Zwischenzeit hat die Welt sich erheblich gewandelt. Die Pandemie, ein offener Krieg in Europa und die Neuordnung der globalen Machtverhältnisse waren für das Koordinatensystem der alten internationalen Sicherheitsordnung ein Härtetest, den es nicht bestanden hat. Die Welt ist an einem gefährlichen Punkt angelangt. Der Kräfteunterschied zwischen den USA und China ist auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Das stellt die gewohnte Basis der internationalen Sicherheits- und Weltordnung in Frage. Mit den Institutionen und Normen dieser Weltordnung – Vereinte Nationen, Welthandel, neoliberales Paradigma, Völkerrecht, NATO und vielen mehr – ist es zum Teil gelungen, gewaltsame Konflikte zu verhindern, mit nicht verhinderbaren Konflikten einigermaßen effektiv umzugehen und im Großen und Ganzen die internationale Sicherheit zu stabilisieren.
Der Schwachpunkt dieser Ordnung war allerdings, dass sie auf der machtpolitischen Überlegenheit der USA und des Westens insgesamt basierte. Diese Überlegenheit schwindet inzwischen dahin. Vor zehn Jahren zog China mit seiner kaufkraftbereinigten Wirtschaftsleistung an den USA vorbei, und der Vorsprung ist seither noch erheblich größer geworden. Vor fünf Jahren war der Anteil der BRICS-Staaten an der Weltwirtschaft zum ersten Mal größer als der Anteil der G7-Staaten. Der Reichtum sprudelt weltweit, und mit dem Reichtum werden auch Einfluss, Allianzen und Verpflichtungen neu verteilt. Die Polarisierung der Welt nimmt zu; die Gegensätze zwischen den Großmächten verschärfen sich. Für mittelgroße und kleine Staaten verändert sich dadurch das Koordinatensystem. Sie müssen sich notgedrungen anpassen, das regionale Kräftegleichgewicht einkalkulieren und sich mitunter neue Verbündete suchen. Die einen setzen nicht länger auf den Westen, sondern auf einen Interessenausgleich zugunsten des Globalen Südens; andere nähern sich an China an, und wieder andere bemühen sich um Sicherheitsgarantien des Westens. Insgesamt werden die Handlungsspielräume enger und Regionalkonflikte wahrscheinlicher.
Es war ein langsamer Prozess, durch den zunächst die Werte und später die Institutionen geschwächt wurden, die bis dahin als Fundament der Weltordnung gedient hatten.
Einige Entwicklungen, die zum Wandel der heutigen Welt beitrugen, begannen schon vor Donald Trumps erster Präsidentschaft. Amerikas Niedergang als Führungsmacht lässt sich bis in die Zeiten des Irakkriegs 2003 zurückverfolgen. Es war ein langsamer Prozess, durch den zunächst die Werte und später die Institutionen geschwächt wurden, die bis dahin als Fundament der Weltordnung gedient hatten. Die 2008 einsetzende Krise der Weltwirtschaft führte dazu, dass die Gegensätze zwischen dem Westen und dem Globalen Süden sich verschärften und viele arme Länder noch ärmer wurden. Dadurch wurde die Demokratie weltweit geschwächt und durch eine Welle des Autoritarismus zurückgedrängt. Armut und Ungleichheit schufen zusammen mit den neuen Technologien einen günstigen Nährboden für Populismus, was die internationalen Sicherheitsprobleme verstärkt. Hinzu kam eine regelrechte Welle nationalistischer Ideologien, die in ganz unterschiedlichen Ländern an Einfluss und Popularität gewannen.
Zwischen den NATO-Gipfeln, an denen Trump teilnahm, hat sich also wirklich viel verändert. Die US-Regierung reagiert auf diese Veränderungen mit einer grundsätzlichen strategischen Neuausrichtung. Statt sich aktiv einzumischen, die Verbündeten zu stärken und die eigenen Werte in der ganzen Welt zu verbreiten, wie es für die amerikanische Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte charakteristisch war, stehen die Zeichen jetzt wieder auf einer Kombination aus Realismus, Pragmatismus und Vorsicht, was oft als Neo-Isolationismus bezeichnet wird. Diese Veränderungsprozesse sind nicht freiwillig, sondern erzwungen. Einfluss und Stärke der USA sind so stark geschwunden, dass die bisherige Politik zu riskant wurde. Das ist die entscheidende Überlegung, von der Trump sich außenpolitisch leiten lässt. Trump steht vor der Aufgabe, die USA von überflüssigen Pflichten und Kosten zu entlasten und sich auf das Hauptproblem zu fokussieren – und dieses Hauptproblem ist China. Die USA brauchen Verbündete, die im Unterschied zu bloßen Kunden bereit sind, einen Teil der Risiken und Ausgaben zu schultern. Europa vom Kunden zum Bündnispartner machen, mit Russland punktuelle Deals schließen und seine Bindung an China schwächen – so sieht in groben Zügen das Rezept aus, das Amerika unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen zu neuer Größe verhelfen soll.
In der Kette der heutigen Großmächte ist die EU sichtlich das schwache Glied.
Europa gerät dadurch in eine schwierige Lage. In der Kette der heutigen Großmächte ist die EU sichtlich das schwache Glied. Außen- und Sicherheitspolitik war noch nie ihre Stärke – doch in einer Zeit, in der die Welt sich wieder auf das Realismusparadigma besinnt, zeigt die Schwäche sich besonders deutlich. Der eigentliche Akteur ist nicht die EU, sondern eine Handvoll gewichtiger europäischer Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Polen, zu denen sich gelegentlich noch Großbritannien gesellt. Wegen des Russland-Ukraine-Kriegs und der damit verbundenen Bedrohung gibt es zwischen ihnen momentan mehr Verbindendes, doch für eine wirksame Interessenwahrnehmung reichen gemeinsame Ängste und Sorgen nicht aus. Europa hat noch ein zweites Problem: das im Vergleich zu den Hauptkonkurrenten China und USA schwache Wirtschaftswachstum. Es schwächt nicht nur den globalen Einfluss der EU, sondern führt auch dazu, dass sie auf neue Bedrohungen nicht so schnell reagieren kann. Wenn die US-Regierung Europa keine wirksamen Sicherheitsgarantien mehr gewährt, weil sie sich unnötiger Ausgaben und Verpflichtungen entledigen will, stehen Berlin und Paris selbst dann vor einem schweren Dilemma, wenn der Krieg zwischen Russland und der Ukraine einen für Europa günstigen Verlauf nimmt.
Angesichts solcher geopolitischer Erwägungen und Ängste stellen sich sowohl die USA als auch ihre europäischen Verbündeten auf einen ziemlich komplizierten und kontroversen NATO-Gipfel in Den Haag ein. Wird man sich in entscheidenden Fragen wie der Aufstockung der Verteidigungsausgaben oder der Haltung im Russland-Ukraine-Krieg einigen können? Droht die NATO auseinanderzufallen? Und wenn nicht – welchen Platz soll sie in der internationalen Sicherheitsarchitektur einnehmen? Joe Bidens Regierung setzte hinsichtlich der Rivalität mit China auf Bündnisse und Werte, sodass der NATO für die USA eine besondere Rolle zukam. Präsident Trump dagegen formuliert eine ganz andere Fragestellung. Für ihn stellte sich die NATO in ihrer bisherigen Form eher als eine gemeinschaftliche Lustbarkeit dar, für die Washington die Zeche zahlt. Aufgrund seiner grundsätzlichen Vision der US-Außenpolitik geht es Trump vor allem darum, aus Europa wieder einen echten Verbündeten zu machen. Die Schlüsselfrage des Gipfels – die Steigerung der Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten auf fünf Prozent des BIP – ergibt sich aus Washingtons neuem Ansatz.
Das wird aus den genannten Gründen nicht leicht zu bewerkstelligen sein. 2024 erfüllten nur 23 NATO-Mitgliedstaaten die bisherige „Vorgabe“ von zwei Prozent des BIP. Für viele Länder wird es schwer werden, die Rüstungsausgaben zügig auf fünf Prozent zu steigern; einige Staaten halten die Aufstockung nicht für so dringend notwendig wie die Länder, die direkt an Russland grenzen. Die Suche nach einem Kompromiss könnte schwierig werden und eine Diskussion über verschiedene Deadlines oder über die Zusammensetzung der Ausgaben auslösen (viele schlagen eine Formel vor, nach der die eigentlichen Rüstungsausgaben auf 3,5 Prozent aufgestockt und weitere 1,5 Prozent mehr für den Ausbau von Infrastrukturen ausgegeben werden, die auch für Verteidigungszwecke genutzt werden können). Selbst wenn auf Druck Washingtons eine Einigung gelingen sollte, dürfte es in Zukunft Probleme bei der Verwirklichung des Vereinbarten geben.
Realistisch betrachtet, war die Ukraine seit jeher weit entfernt von einer Beitrittsperspektive.
Ein traditioneller Tagesordnungspunkt hat an Aktualität verloren: die Frage der NATO-Mitgliedschaft. Realistisch betrachtet, war die Ukraine seit jeher weit entfernt von einer Beitrittsperspektive. Von der Rhetorik der offenen NATO-Türen, die de facto fest verschlossen blieben, hat sich kaum jemand täuschen lassen. 2025 zeigt sich, dass Ungarn nicht das einzige Problem ist, denn es gibt ein prinzipielles Problem: Weder die Europäer noch die USA sind bereit, die mit einer Aufnahme der Ukraine in die NATO verbundenen Risiken zu tragen. Trump hat neben diesem Grund weitere Gründe, die mit seinem eigenen Dialog mit Moskau zusammenhängen. Spannend ist einzig die Frage, ob im Abschlussdokument des Gipfels die Ukraine überhaupt erwähnt wird und auf welche Formulierungen zum Russland-Ukraine-Krieg die Bündnispartner sich verständigen können.
Das Bündnis ist vor dem Gipfel mit ernsthaften Herausforderungen konfrontiert, die nicht nur mit unterschiedlichen Prioritätensetzungen zu tun haben, sondern auch mit objektiven Veränderungen in der Welt. Auseinanderfallen wird das Bündnis wohl kaum. Die Mitgliedstaaten haben nach wie vor ein vitales Interesse am Fortbestand der NATO. Niemand will dieses wirksame Instrument der kollektiven Sicherheit verlieren. Wie bisher weiterfunktionieren kann die NATO allerdings auch nicht. Das veränderte Kräftegleichgewicht, erhöhte Risiken durch den russischen Revisionismus, neue Prioritätensetzung der USA – angesichts dieser Faktoren gilt es grundsätzlichere und strategisch relevantere Fragen zu entscheiden als die Frage nach der Höhe der Verteidigungsausgaben.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld