Aus den Geschehnissen von Paris geht als einziger positiver Gedanke hervor, dass sich die Auswirkung dieses Massakers ganz erheblich von dem unterscheiden wird, was der Islamische Staat damit beabsichtigte. Diese Behauptung beruht genauso sehr auf historischen Erfahrungen wie auf Überzeugung. Die IS-Dschihadisten haben sich die Methoden und das extreme Ziel einer anderen Bewegung angeeignet: des Anarchismus. Dieser hatte vor einem Jahrhundert Europa und die Vereinigten Staaten in Angst und Schrecken versetzt. Die Gegenwart wiederholt die Vergangenheit nicht, aber sie ähnelt ihr, und das wird auch die Zukunft tun.
In den 20 Jahren vor dem ersten Weltkrieg wurden im Namen des Anarchismus sechs Staatschefs ermordet: der Präsident Frankreichs im Jahr 1894, der Ministerpräsident Spaniens 1897, die Kaiserin von Österreich 1898, der italienische König 1900, der US-Präsident 1901 und ein weiterer spanischer Ministerpräsident 1912. Die anarchistischen Theoretiker predigten Hass gegen die herrschende Klasse und die Bourgeoisie und stellten eine wunderbare Zukunft in Aussicht. Ihr Mittel der Wahl war die »Propaganda der Tat«: den Gegner angreifen, um die herrschende Ordnung zum Einsturz zu bringen.
Der IS spricht denselben Typ von Menschen an, die sich damals den Anarchismus auf die Fahne schrieben – die Einsamen, Wütenden und Ausgegrenzten, die sich danach sehnten, an etwas zu glauben. Ihr Ziel war, den Staat zu beseitigen und ein neues Zeitalter einzuläuten.
Die Anarchisten hatten nur ein diffuses Wirtschaftsverständnis, aber sie wussten, wen sie hassten. Die meisten dschihadistischen Terroristen haben ähnlich verschwommene Religionskenntnisse, aber auch sie sind sich der vielen Ziele sicher, die sie ihrer Meinung nach zu Recht angreifen. Die Anarchisten kämpften gegen die mächtigen Industriestaaten, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, und der IS will im Nahen und Mittleren Osten die Grenzen neu ziehen, die von eben diesen Mächten geschaffen wurden.
Die Anarchisten spalteten die Gesellschaft in diejenigen, die ihre Vision teilten, und alle anderen, die sie zu ihren Feinden erklärten. Der IS will nicht nur gegen die sie angreifenden Westmächte zurückschlagen, sondern in erster Linie alle islamischen Gläubigen davon überzeugen, dass Muslime nicht in der »Grauzone« von säkularen Gesellschaften und westlichen Einflüssen leben können.
Die Anarchisten zogen einige Randständige an und schreckten die große Mehrheit ab. Genau das tut auch der IS. Seinem Horror schließt sich eine Schar neuer Kämpfer an, während die großen Strömungen der islamischen Welt sich vom IS abwenden und andere Wege suchen. Während die Anarchisten den Staat abschaffen wollten, will der IS mit seinem Kalifat eine neue Version eines Staates errichten. Das von ihm kontrollierte Territorium ist bekannt, wie auch viele seiner Anführer.
Der Anschlag auf die Menschen von Paris war die Aktion eines selbst unter Beschuss stehenden Staates, der bereits Schlachten und Führer verliert. Der Krieg gegen den IS ist für François Hollande gerade zu einer sehr persönlichen Angelegenheit geworden; die Einsätze sind gestiegen und Frankreich hat eine eindeutige Zielscheibe für seinen Zorn. Das Atomabkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und dem Iran sieht jetzt noch mehr nach einem praktischen Deal aus. Im Krieg ist auch ein unwahrscheinlicher Verbündeter immerhin ein Verbündeter.
Der IS wollte ganz normale Bürger töten, denn für ihn war jede in Paris angegriffene Person ein Symbol für die französische Lebensweise, Politik und das säkulare Recht auf eigene Entscheidungen. Das Attentat der Dschihadisten musste sich gegen die Bürger als Vertreter des Westens, der Demokratie bzw. Frankreichs richten, weil es dank der Anarchisten heute sehr viel schwerer ist, ein Staats- oder Regierungsoberhaupt durch den ihn umgebenden Schutzwall hindurch anzugreifen.
Seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar verstehen in Paris alle, dass jeder Einzelne zur Zielscheibe werden kann. Das führt zu einer resignierten Entschlossenheit, die der in London während der IRA-Bombenattacken ähnelt. Genauso wie die Briten sich an die in dieser Zeit überall installierten Überwachungskameras gewöhnten, sind für Paris die jetzt allgegenwärtigen bewaffneten Sicherheitskräfte ein üblicher Anblick. Schon den ganzen Sommer über begegnete man in Frankreich ständig Militärpatrouillen, die aus jeweils drei behelmten Soldaten im Kampfanzug und mit Maschinengewehr bestanden, die von den großen Bahnhöfen bis hin zum Schlosspark von Versailles alles kontrollierten. Ich saß an dem Morgen im Schnellzug von Paris nach Amsterdam, als ein Dschihadist im entgegenkommenden Zug eine AK-47 auspackte, aber von anderen Fahrgästen überwältigt werden konnte. In der modernen Lotterie des Lebens ist das der makabre Zufall.
Vor einem Jahrhundert sorgten die Anarchisten dafür, dass die sie bekämpfenden staatlichen Instrumente – Polizei, Geheim- und Sicherheitsdienste – im großen Stil aufgerüstet wurden. Nach Al Qaidas Anschlag auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 passierte dasselbe und in allen Bereichen der Sicherheit wurden die Ausgaben gewaltig erhöht. Die viel größere und reichere westliche Gemeinschaft der Nachrichtendienste wird nun noch weiter gestärkt und großzügig mit Finanzen ausgestattet.
Der IS erweist den von libertären Kritikern wie Assange und Snowden angeprangerten westlichen Regierungen gerade einen großen Dienst. Die Dschihadisten selbst haben sich aus dem digitalen Netz zurückgezogen und nutzen ihre Handys und Computer nicht mehr, um im Schatten operieren zu können. Bei dem Argument über das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter wird Paris eine weitere Verschiebung in Richtung des Staatsapparates und erhöhter Sicherheitsmaßnahmen mit sich bringen.
Der IS hat uns hier auf blutigste und extremste Art und Weise vor die Wahl gestellt. Und wenn man sich zwischen willkürlichem Gemetzel und stärkerer Regierung entscheiden muss, fällt die Wahl nicht schwer. Die große Mehrheit der Menschen in aller Welt wird sich gegen den IS stellen, genauso wie die Menschen von damals mehrheitlich vor dem Terror der Anarchisten zurückschreckten.
3 Leserbriefe
Vor dem 11. September 2001 war die für die Pax Americana von 1945 unverzichtbare Weltmacht bereits leicht angeschlagen. Der New Economy Hype war vorüber. Nachdem sich das Vertrauen in die Politik längst aufgelöst hatte, verloren nun überdies die Manager (mit einem älteren Ausdruck gesagt: die "Bourgeoisie") und die Intellektuellen (die "Citoyens") an Vertrauen.
Keine Missverständnisse bitte: Wir Bürger funktionieren noch im Rahmen der vorgegebenen Struktur unserer bürgerlichen Demokratie. Aber wie ist es um unser Vertrauen in unsere Führung bestellt? Zu viele Fehler wurden gemacht. Zu brüchig ist das 1945 etablierte System der VN geworden. OK, wir "atmen" nicht "auf", wie viele deutsche Intellektuelle "aufatmeten" in Erwartung der großen "Reinigung", die der Welt 1914 bevorstand. Aber sind wir noch in der Lage unsere Werte zu verteidigen? Ich frage nicht, ob wir unsere Werte (möglichst hochfahrend) beschwören wollen - denn das tun wir gewiss -, sondern ob wir sie (im Alltag) zu verteidigen bereit wären.
Es erscheint mir offensichtlich, dass uns ein gewaltiger Umbruch bevorsteht. Mir wäre allerdings wohler wenn ich
1. Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit unseres Systems haben dürfte.
2. unsere Führung (in EU, VN) bereit zur engen Abstimmung und Zusammenarbeit erkennen dürfte.
3. mich an einer vernunftgeleiteten Debatte um Lösungen anstehender Aufgaben beteiligen dürfte.
Ich entscheide mich ungern für eine stärkere Regierung, wenn diese ihre Stärke nur vortäuscht. Es ist doch offensichtlich, dass Frankreich hier nur eine Schwindelchance ergreift, endlich aus dem Schatten des "großen Bruders" (=Deutschlands) hervorzutreten und sich (der Brexit ist hier schon eingepreist) für die Amerikaner möglichst hübsch zu machen: als deren verlässlichster Verbündeter in Europa. Worum es dann gehen wird? Ist das wichtig, solange Frankreich das (Phantom)Gefühl haben darf, dass es Europa endlich wieder "führt"? Eine europäische Formation, die Bomben auf Syrien wirft oder den Ausnahmezustand zuhause ausruft oder oder. Hauptsache der Glorienschein der Nation flackert wieder hell.
Momentan fühle ich mich ein bisschen wie ein Österreicher, der sich im August 1914 auf die gefühlte militärische Stärke seines erprobten Verbündeten verließ und sich nach dessen Ausfallschritt ziemlich verlassen fühlen durfte.
OK, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Aber mir gefällt der Ansatz von Frau Dobell, uns Heutige in die Zeitgenossenschaft unserer Ahnen in einer Welt hundert Jahre vor heute einzufühlen. Wir sind ähnlich weit gekommen. Wir nutzen uns ab in einem Stellungskrieg (hier: in Afghanistan, im Irak). Demnächst machen wir eine neue Front (in Syrien) auf, wie die Österreicher 1915 am Isonzo und im Hochgebirge.
Einer fehlt: Wo ist unser Woodrow Wilson, der eine klare Vorstellung von der Friedensordnung nach dem Ende der alten Welt hat, die 1815 in Wien ausgehandelt worden war? Denn dass das Haus am East River (sprich: die Vereinten "Nationen" mit den Grenzen und der Machtteilung von 1945) mit der Weltordnung des 21. Jahrhunderts nicht mehr allzu viel zu tun hat, sollte uns allen inzwischen aufgefallen sein.
Sie schreiben als Quintessenz Ihrer Analyse: "Und wenn man sich zwischen willkürlichem Gemetzel und stärkerer Regierung entscheiden muss, fällt die Wahl nicht schwer."
Diese Ihre Schlussfolgerung ist kritikwürdig, suggerieren Sie doch mit "Stärke" größere Sicherheit als ohne diese!?
Wir sollten uns darüber verständigen, was wir unter einer "starken" Regierung verstehen (sollen).
Ich verstehe darunter ein strikt auf dem Boden des Grundgesetzes operierende Volksvertretung, deren Volksvertreter den Art. 21 GG ernst nehmen, der sie dazu verpflichtet, "bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken".
Im hier besprochenen Falle des Terrorismus resultieren daraus für Regierung und Abgeordnete mindestens drei volkspädagogische Kraftakte, und zwar
1. die Bekämpfung der Ursachen des modernen Terrorismus, die von Ihnen übergangen worden sind
2. die Bekämpfung jener politisch-ökonomischen Interessenten, für die eine "Stärkung" der Exekutive ein persönliches Geschäft ist
3. die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger über die Qualität der terroristischen Bedrohung, über ihre wirkliche Bedeutung.
Ich möchte einige Denkanstöße nur zum dritten Aspekt des volkspädagogischen Auftrags der politischen Parteien machen, wenn ich die These zur Diskussion stelle, dass ein terroristischer Akt – wissenschaftlich betrachtet - keine außergewöhnliche Bedrohung des Einzelnen darstellt.
Zur Begründung meiner These möchte ich folgende Tatsachen ins Bewusstsein erheben, und zwar
1. jeder einzelne sollte sich bewusst machen, dass "das Leben riskant ist": in jeder Minute kann mich persönlich ein "Unglück" ereilen, denke ich nur an die 3.300 Verkehrstote, an die zigtausend Freizeit- und Haushaltstoten, an die Drogentoten im weitesten Sinne des Drogenbegriffs und an die hunderttausenden von Verletzten, die die Zivilisation Jahr für Jahr alleine dem "deutschen Volk" abfordert;
2. Der Terrorismus ist nur eine Spielart dieser Zivilisation, für deren Genuss jeder User auch seinen Preis entrichten muss; dieser Preis unterscheidet sich beispielsweise in nichts von den Gefahren eines Flugzeugabsturzes, die jeder Fluggast bereit ist einzugehen, wenn er die Maschine gebucht hat.
3. Die Gefahr der persönlichen Betroffenheit von einem terroristischen Anschlag ist in Wirklichkeit statistisch nicht zu erfassen, existiert also nur im Kopf des Betrachters, nicht jedoch in der Wirklichkeit.
Daraus folgt: akzeptiert man, wie ich es tue, dass terroristische Aktionen persönlich irrelevant sind bzw. weit unter dem Wahrscheinlichkeitsgehalt eines schweren Verkehrsunfalls liegen, dann empfiehlt es sich, den Terrorismus als persönliche Bedrohung schlicht und ergreifend zu ignorieren.
Volksvertreter, die diesen Beitrag zur „politischen Willensbildung des Volkes“ leisteten, kämen – und das wissen sie allesamt - sofort unter massiven persönlichen und publizistischen Beschuss „jener politisch-ökonomischen Interessenten, für die eine "Stärkung" der Exekutive ein persönliches Geschäft ist“ (These1), politisch-ökonomische „Interessenten“ also, die genau deshalb auch an der wirklichen „Bekämpfung der Ursachen des modernen Terrorismus“ nicht interessiert sind (These 2).
Unsere parteilichen Volksvertreter schweigen also aus Angst vor den Feinden der Menschheit, genauer: aus Angst um ihre persönliche Karriere, wenn sie irgend einen – im Vergleich zum Staatsterrorismus - lächerlichen persönlichen Terroristen als „Gefahr“ für jeden Bürger oder gar für die Demokratie beschwören: er ist es nicht, sondern sie sind es!
Der Autor begeht allerdings einen Denkfehler: Er unterwirft sich dem, was er beobachtet und vergisst,
dass das, was er beobachtet seiner Wahrnehmung unterworfen ist.
So kommt es dazu, dass das richtig festgestellte "Vor-die-Wahl-gestellt-werden" zwischen "willkürlichem Gemetzel und stärkerer Regierung" als das vom IS postulierte Schwarz-Weiß-Denken/Entweder-Oder-Denken auch vom Autor übernommen wird. Schade. Beim Denken sollte man sich nicht zu einem Entweder-Oder verleiten lassen, wenn es um komplexe Strukturen geht. Das wäre eine fatale Bequemlichkeit.
In der Computerwelt unterscheidet man zwischen Hardware, Software, Content und eingebendem Mensch. Ähnlich kann man beim IS von ganz unterschiedlichen Bereichen ausgehen, die zusammenwirken, aber durchaus unabhängig voneinander bestehen können.
Terrorismus spricht Angst auf kollektiver Ebene, auf einer Meta-Ebene an. Die persönliche Gefährdung ist im Vergleich zu anderen Lebensrisiken gering.
Die Macht des Terrorismus liegt auf einer Betonung des Kollektiven, das in einer fraktalisierten Gesellschaft nur auf der Ebene der Massenmedien wirksam werden kann.
Ist der freiheitlich demokratische Staat nicht stark genug bis ins gesellschaftliche Alltagsleben durchdekliniert worden, ergibt sich eine Schwäche. Eine starke Regierung wäre demnach eine, die sich auf den Konsens einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft berufen kann und sicher ist, dass Demokratie im Alltag gelebt wird. Eine Regierung, die darauf zugunsten von Sicherheitsaspekten verzichtet, outet sich als schwach.
Leider spricht der Autor das System Metternichs nicht an, ebensowenig den Landhunger der Nationen um die Wende des 19. zum 20.Jahrhundert. Terroir als Grundlage für Terrorismus.
Kurz und gut: Es darf ruhig vielspurig und mehr gedacht werden. In diesem Sinne würde ich gern etwas von so gut mit der Materie vertrauten Autoren wie Herrn Dobelli lesen.
Meine Kritik soll meinen Lesegenuss an o.g. Artikel nicht schmälern - danke dafür.