Als die ersten Nachrichten erschienen, dass bewaffnete Wagner-Truppen auf Moskau marschierten, hätten wohl nur wenige damit gerechnet, dass ausgerechnet Belarus eine zentrale Rolle in diesem Konflikt einnehmen würde. In einer unerwarteten Wendung wurde jedoch bekannt, dass die Auseinandersetzung offenbar dank der Vermittlungsversuche von Alexander Lukaschenko entschärft werden konnte. Umgehend begannen viele Kommentatoren zu hinterfragen, ob es wirklich möglich sei, dass dieser eine aktive Rolle in der wahrscheinlich schwersten innerrussischen Krise der vergangenen 30 Jahre gespielt hat. Sie argumentierten, der belarussische Staatsführer sei selbst viel zu abhängig vom Kreml, als dass er irgendeine Art von Einfluss auf den Ausgang eines solch weitreichenden Ereignisses hätte nehmen können.

Diese „Erklärungen“ spiegeln eine sowohl im Westen als auch in der belarussischen Opposition (und in gewissen russischen Kreisen) weit verbreitete Sicht wider. Es wird davon ausgegangen, dass Belarus von Moskau abhängig sei: Ein Staat, der seine Souveränität lediglich formell aufrechterhält, faktisch aber nur noch Politik umsetzt, die im Interesse des Kremls ist. Doch je mehr Informationen über die belarussischen Vermittlungen im Zuge des versuchten Coups in Russland bekannt werden, desto offensichtlicher werden die Diskrepanzen zwischen einer solchen Sichtweise und der Realität. Ebenso wird deutlich, warum gewisse Kommentatoren weiterhin an der oberflächlichen Diagnose einer angeblich immer weiter schwindenden belarussischen Souveränität festhalten. Dies hat seine Gründe, aber auch potenzielle Auswirkungen, nicht zuletzt für die zukünftige Sicherheitslage in Europa.

Berichterstatter, die Lukaschenkos Rolle als Vermittler in der Russlandkrise bestreiten, bieten mehrere Varianten dessen an, was ihrer Meinung nach tatsächlich passiert ist. Eine These, auf die sich alle zu einigen scheinen, ist, dass der Kreml Lukaschenko in seinem Drehbuch eingebaut und benutzt habe: Ihm wurde von den Regisseuren in Moskau die Rolle des Friedensstifters geradezu aufgezwungen. Diese Theorien können jedoch eine einfache Frage nicht beantworten. Welcher schwer vorstellbare Kniff könnte die Machthaber in Moskau dazu veranlasst haben, in dieser innerrussischen Angelegenheit Lukaschenko zum großen Helden und Retter zu machen – praktisch aus heiterem Himmel und zu einem Zeitpunkt, an dem sich die russische Führung selbst in einer sehr misslichen Lage befand? Wenn man sich in Moskau tatsächlich ein „Drehbuch“ ausgedacht hätte, dann wäre eine Version ohne Lukaschenko-Auftritt für das Image des Kremls sicherlich günstiger und weniger schädigend gewesen als mit ihm. Allein die Tatsache, dass die russischen Medien nach Ende der Rebellion prompt begannen, die Bedeutung des „Lukaschenko-Faktors“ herunterzuspielen, zeugt davon, dass man mit dem Verlauf der vergangenen Stunden und Tage alles andere als zufrieden war.

Dies wird auch dadurch untermauert, dass sich die Bedingungen des Deals zwischen dem Kreml und den Aufständischen nach Putins Treffen mit Vertretern der Wagner-Gruppe am 29. Juni grundlegend zu ändern begannen. In anderen Worten: Die ursprünglichen Bedingungen waren wohl schlecht durchdacht. Kein Wunder, denn diese erste Abmachung ist unter extremen Umständen zustande gekommen – und dank Lukaschenkos sofortiger Vermittlungsarbeit mit dem Ziel, ein großes Blutvergießen und die Destabilisierung Russlands zu verhindern.

Wenn man sich diese Entwicklungen nüchtern-analytisch ansieht, scheint es eindeutig, dass Lukaschenko lediglich deshalb die Rolle als Mediator zwischen Putin und Prigoschin gespielt hat, weil er selbst dies so wollte und proaktiv einschritt. Dass er einen Willen dazu hatte und auch die Befähigung, liegt in zwei Faktoren begründet. Erstens hat Lukaschenko ein Interesse daran, eine weitere Eskalation des innerrussischen Konflikts zu verhindern. Schließlich würde dies zwangsläufig zu schwerwiegenden sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Problemen für ihn selbst führen. Zweitens kennt er, der seit 29 Jahren an der Spitze von Belarus steht, die politische Landschaft in seinem Land und im Nachbarstaat vermutlich besser als jeder andere. Am 24. Juni konnte er schnell aktiv werden und seine Kenntnisse sowie Kontakte nutzen, um seine eigenen politischen Ziele zu verfolgen und als Mediator aufzutreten.

Eine gestärkte Souveränität des Landes wäre auch im Interesse des Westens.

Aktiv zu werden, um eigene Ziele zu erreichen – das ist ein klares Anzeichen für ein, im wahrsten Sinne des Wortes, „souveränes“ Auftreten, insbesondere in einer derartigen Krisensituation. Somit untergräbt die Geschichte des Wagner-Aufstands zweifellos die Grundlagen des gängigen Narrativs, wonach Lukaschenko stetig an Unabhängigkeit und Belarus seine staatliche Souveränität verliere. Dennoch weigern sich zahlreiche Berichterstatter weiterhin, diese offensichtlichen Fakten zu akzeptieren, und beharren stattdessen auf Verschwörungstheorien. Dies zeigt möglicherweise das Hauptproblem in der gesamten Debatte über die belarussische Souveränität.

Denn viele Menschen im Westen und in der belarussischen Opposition sehen diese Debatte nicht als Versuch, die tatsächliche Lage in Belarus zu ermitteln und zu verstehen, sondern als Teil des politischen Kampfes gegen Lukaschenko. Nach 2020 (und insbesondere nach der „Flüchtlingskrise“ an der Grenze zu Polen 2021) wurde das Argument, der Westen müsse seine Beziehungen und die Zusammenarbeit mit Minsk reduzieren und weitreichende Sanktionen gegen Belarus verhängen, zumindest zum Teil mit der These des Souveränitätsverlusts des Landes begründet. Wenn Minsk nicht unabhängig von Moskau handeln kann – so die Verfechter dieser Sichtweise –, warum sollte man dann überhaupt noch mit Lukaschenko reden? Oder auch: Wenn Belarus sowieso immer stärker in die Russische Föderation integriert wird, warum sollte man sich dann im Westen Sorgen machen, dass man mit den eigenen Sanktionen Lukaschenko und Belarus in die offenen Arme des Kremls treibt?

Wenn man die Debatte so angeht, dann ist die Deutung von Lukaschenkos Rolle bei der Lösung der Krise sowie eine allgemeinere Interpretation der belarussischen Außenpolitik keine analytische Arbeit mehr. Dabei sollten wir uns doch mit den kleinen Nuancen, mit den Grautönen in der belarussischen Staatspolitik beschäftigen – basierend auf Fakten und Analysen, statt auf politischen Slogans. Eine solche Analyse bedeutete, dass wir zwei Dinge anerkennen: dass der Staat Belarus seine Souveränität gewahrt hat und dass Lukaschenko Einfluss und Vermittlungsmacht hat. Eine solche Erkenntnis würde die internationale Debatte zu Belarus verändern. Man könnte seine Argumentationen nicht mehr auf Klischees à la „Belarus ist sowieso nur Russlands Vasallenstaat“ aufbauen. Man müsste sich fragen, wie der offenbar vorhandene Spielraum Belarus’ genutzt werden kann, um seine Eigenständigkeit und Souveränität weiter zu stärken.

Insgesamt wäre eine solche Stärkung nämlich eine gute Nachricht. Nicht nur für Belarus selbst, dessen Souveränität wohl tatsächlich seit der Staatsgründung nie bedrohter war als in den vergangenen Jahren. Nein, eine gestärkte Souveränität des Landes wäre auch im Interesse des Westens – und der regionalen Sicherheitslage. 2019 sagte der Ex-Kommandogeneral der US-Armee in Europa, Ben Hodges: „Es ist im Interesse aller, dass Belarus in der Lage ist, seinem Status als souveräner Staat gerecht zu werden.“ Für das Land selbst biete sich dadurch „die Chance, eine entscheidende Rolle für Sicherheit und Stabilität in Europa zu spielen“.

Natürlich haben sich die geopolitischen Realitäten in Europa seitdem verändert. Eine Rückkehr zum Status von 2019 ist nicht möglich. Aber: Vor uns liegt die gewaltige Aufgabe, die europäische Sicherheit unter neuen, extrem gefährlichen, geopolitischen Umständen zu gestalten und zu gewährleisten. Auch hier könnte ein souveränes Belarus eine wichtige Rolle spielen. Denn eine Deeskalation des Krieges in der Ukraine und eine Stabilisierung der Region liegen ganz klar im belarussisch-nationalen Interesse. Gerade deshalb sollten wir der Rolle Minsks bei der Beendigung des Wagner-Aufstands eingehende Aufmerksamkeit und Analyse schenken – und nicht aus reiner Gewohnheit versuchen, die Debatte über die Souveränität Belarus’ als Mittel im politischen Kampf gegen Lukaschenko zu nutzen.

Aus dem Englischen von Tim Steins