Angesichts der finanziellen und militärischen Unterstützung, die der Westen der Ukraine gewährt, könnte nichts realitätsferner sein, als westlichen Politikern Appeasement vorzuwerfen. Die Unterstützung der Ukraine ist das Gegenteil des Münchner Abkommens von 1938, als Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei Deutschland auslieferten, ohne dass die tschechoslowakische Regierung überhaupt anwesend war. Die militärische Unterstützung für die Ukraine ist nicht aufgrund von Appeasement-Überlegungen, sondern wegen der nuklearen Fähigkeiten Russlands begrenzt. Selbst Trump scheint inzwischen bereit zu sein, der Ukraine mit Militärhilfe zur Seite zu stehen, solange dies gleichzeitig ein gutes Geschäft ist. Die US-Solidarität soll von den Europäern bezahlt werden.
Es ist richtig, Putin entschlossen entgegenzutreten. Denn ohne entschlossenen Widerstand gegen den russischen Angriff, ist jede Hoffnung auf ein Friedensabkommen, das nicht einer Kapitulation gleichkommt, illusorisch. Während viel von Appeasement gesprochen wird, wo es keins gibt, ist kaum ein Wort von Appeasement zu hören, wo es tatsächlich stattfindet. Donald Trump erpresst und schikaniert Länder auf der ganzen Welt, darunter auch traditionelle Verbündete. Er ist bereit, Putin entgegenzukommen, bekundet seine Sympathie für alle möglichen Diktatoren, bedroht die Souveränität Grönlands, Kanadas und Panamas, verstößt gegen die amerikanische Verfassung, missachtet internationale Gesetze und Regeln und missbraucht die Staatsmacht, um seine innenpolitischen Gegner zu verfolgen.
Aber anstatt seine Erpressungsversuche zurückzuweisen, überschlagen sich Regierungen, Medien und Milliardäre, um Trump zu beschwichtigen. Dass nahezu alle nachgeben, ermutigt ihn, immer neue Forderungen auszusprechen. Mark Rutte, NATO-Generalsekretär, nennt Trump nicht nur „Daddy“, sondern lacht auch fröhlich, als Trump sagt, er wolle Grönland. Und dankt ihm dafür, dass er die NATO-Mitgliedstaaten erpresst hat, ihre Militärausgaben auf fünf Prozent des BIP zu erhöhen. Präsidenten und Premierminister proben vor ihren Treffen im Weißen Haus, wie sie Trump am besten gefallen oder zumindest vermeiden können, wie Selenskyj oder Ramaphosa misshandelt zu werden.
Fast alle Länder versuchen, Trump zu beschwichtigen, damit er jemand anderen demütigt und bestraft.
Der deutsche Bundeskanzler fleht: „Bitte bleiben Sie bei uns.“ Keir Starmer kniet nieder, um die Papiere aufzuheben, die der Herrscher vor laufenden Fernsehkameras fallen ließ. Fast alle Länder – außer China – versuchen, Trump zu beschwichtigen, damit er jemand anderen demütigt und bestraft. Die freie Welt schweigt, wenn Trump Brasilien mit 50-prozentigen Zöllen droht, sollte es die Klage gegen Bolsonaro nicht fallen lassen – obwohl dieser nach seiner Wahlniederlage einen Staatsstreich geplant oder zumindest in Betracht gezogen hatte. Und die europäischen Staats- und Regierungschefs haben gute Gründe für ihre Appeasementpolitik. Sie sind überzeugt, dass sie Putin nur Einhalt gebieten können, wenn sie gleichzeitig Trump auf ihrer Seite wissen.
Zölle und Druck auf Verbündete, ihre Militärausgaben zu erhöhen, sind zwei Wege, mit denen Trump versucht, andere für die Größe Amerikas bezahlen zu lassen. Im geopolitischen Wettstreit will Trump sowohl Freunden als auch Feinden gleichermaßen höhere Kosten auferlegen, um die amerikanische Führungsrolle zu erhalten. In ihrem Eifer, Trump zu gefallen, scheinen die europäischen Staatschefs eines jedoch zu ignorieren. Durch ihre Unterwürfigkeit verlieren sie den Respekt der Welt und, was noch wichtiger ist, den ihrer eigenen Bevölkerung. Ihre offensichtliche Schwäche wird den Wunsch der europäischen Wähler nach autoritären Führern nähren, die versprechen, als kleine Trumps zu agieren, statt Trump zu beschwichtigen.
Die Verzweiflung der europäischen Regierungschefs ist verständlich. „They don’t have the cards.“ Sie haben auf die transatlantische Partnerschaft vertraut, in der ihr Militär Teil der von den USA kontrollierten NATO ist. Jetzt sind sie unfähig, eigenständig zu handeln. Die USA haben ein Militärbündnis geschaffen, in dem nur sie allein das Sagen haben. Es war kein Altruismus seitens der USA, mehr Geld für Verteidigung auszugeben als andere NATO-Mitgliedstaaten. Es war der Preis für ein Sicherheitsarrangement, das die Verbreitung von Atomwaffen ausschließt und die Pax Americana festigt. Angesichts der doppelten Abhängigkeit – wirtschaftlich durch Verkäufe an die USA und sicherheitspolitisch vom US-amerikanischen militärischen Schutz gegenüber Russland – befürchten die Europäer, dass Trump ihnen den militärischen Schutz entzieht, wenn sie auf seine Zölle mit Handelsmaßnahmen reagieren. Kurzfristig hat Trump also alle Trümpfe in der Hand.
Der alte Kontinent steht vor einer Entscheidung: Entweder setzt er auf weiteres Appeasement oder er entwickelt eine Strategie, um als unabhängiger globaler Akteur auftreten zu können.
Der alte Kontinent steht vor einer Entscheidung: Entweder setzt er auf weiteres Appeasement und nimmt den damit verbundenen Verlust an Souveränität in Kauf, oder er entwickelt eine Strategie, um als unabhängiger globaler Akteur auftreten zu können. Letzteres erfordert entschlossene Führung und die Bereitschaft, nationale Interessen zugunsten der europäischen Souveränität zu opfern. Und es birgt das Risiko, Trump zu verärgern. Ersteres wird dagegen automatisch eintreten, wenn Europa in Zukunft so handelt wie in der Vergangenheit. Der Aufbau eines unabhängigen, vereinten Europas ist ambitionierter als ein Bündnis, das von einer Supermacht dominiert wird. Kein europäisches Land ist mächtig genug, um die Vormachtstellung in Europa einzunehmen. Selbst Deutschland und Frankreich zusammen sind nicht stark genug, um für alle Mitgliedstaaten die Richtung vorzugeben. Daher müssen auch die Starken bereit sein, ihre nationale Souveränität qualifizierten europäischen Mehrheitsentscheidungen unterzuordnen. Entscheidungsbefugnisse und mehr Haushaltsmittel müssen auf die EU-Ebene übertragen werden. Die entscheidende Frage für Europa ist daher, ob Länder wie Frankreich oder Deutschland bereit sind, voranzugehen und einer echten Machtteilung innerhalb einer Gemeinschaft kleiner und mittlerer Staaten zuzustimmen.
Die Politik des Bundeskanzlers gibt da wenig Anlass zur Hoffnung. Er lehnt gemeinsame europäische Anleihen ab und führt nationale Grenzkontrollen ein. Und er fordert, Europa solle das Sorgfaltsgesetz abschaffen – obwohl dies nach jahrelangen Konsultationen verabschiedet wurde –, weil es Deutschland nicht mehr gefällt. In einer Zeit, in der Europa Einheit braucht, blockiert Merz EU-Maßnahmen, die das israelische Vorgehen in Gaza stoppen sollen. Wie will er die europäische Unterstützung der Ukraine aufrechterhalten und führen, wenn er auf dem deutschen Sonderweg in Gaza beharrt? Anstatt eine Vision für die militärische Stärke Europas zu entwerfen, kündigt er in Litauen an, dass Deutschland die stärkste konventionelle Armee des Kontinents aufbauen will. Ist ihm nicht bewusst, dass dies bei Deutschlands Nachbarn unangenehme Erinnerungen wecken könnte?
Zudem ist es zu kurz gedacht, europäische Stärke allein durch Aufrüstung erreichen zu wollen. Sicherlich sind eine koordinierte europäische Rüstungsindustrie und eine nüchterne Analyse des Waffenbedarfs sinnvoll – anstatt zu bestellen, was der militärisch-industrielle Komplex verkaufen will. Aber Europa muss auch den Mut zu einem diplomatischen Multilateralismus aufbringen – einem Multilateralismus, der neue globale Allianzen schmiedet und diejenigen isoliert, die den Rest der Welt ihrem Willen unterwerfen wollen. Anstatt Trump zu beschwichtigen, muss Europa schnell Handelsabkommen wie das mit den Mercosur-Staaten abschließen, die Binnennachfrage stärken, um die Exportabhängigkeit zu verringern und seine Universitäten der Welt öffnen. Zudem könnte Europa mit dem Globalen Süden als Partner daran arbeiten, internationale Regeln und Gesetze fairer zu gestalten.
Während autoritäre Machthaber Nationalismus mobilisieren, ist dies für Europa keine Option. Es gibt keinen europäischen Nationalismus. Die Mobilisierung nationalistischer Gefühle würde Europa spalten, statt es zu einen. Europa ist das am weitesten entwickelte Modell eines handlungsfähigen Multilateralismus. Dies ist die Vision, der es gerecht werden muss, und das Modell, das es der Welt bieten kann. Europa muss ein Ort sein, wo gemeinsame Regeln des staatlichen Miteinanders entwickelt und eingehalten werden. Europa wird entweder die Alternative zur (Gewalt-)Herrschaft der Starken – die bereit ist, sich gegen Autokraten und Möchtegern-Autokraten auf beiden Seiten des Atlantiks zu behaupten – oder es wird scheitern. Eine Alternative zum Appeasement zu entwickeln, hängt von visionären europäischen Politikern und letztlich von der europäischen Bevölkerung ab. Denn diese muss davon überzeugt sein, dass Europa nicht nur seine Verteidigungsausgaben erhöhen, sondern eine multiethnische, faire, integrative, demokratische und supranationale Gemeinschaft von Gleichen sein will und sein kann.