Eine Frage zum Einstieg: Jemand schreit Sie auf der Straße an und brüllt: „Tu Buße!“ Was würden Sie vermuten, wen Sie vor sich haben – a) einen frommen Prediger oder b) einen linken Aktivisten?
Die Antwort darauf ist ortsabhängig. In Los Angeles versammelte sich im vergangenen Oktober eine Menschenmenge vor dem Sitz von Netflix und protestierte gegen Dave Chappelles Comedy-Special „The Closer“, weil der Comedian darin ausgiebige Kritik an Transgender-Aktivisten übt. Der Gegenprotest ließ nicht lange auf sich warten: Ein einsamer Chappelle-Anhänger hielt ein Pappschild mit der Aufschrift „We like Dave“ in die Höhe. Das kam nicht gut an: Erst entwand ihm jemand das Schild und riss es in Stücke, dann wurde er angebrüllt. Bemerkenswert war dabei die Wortwahl: „Repent!“ – „Buße tun“ solle der Dave-Chappelle-Fan.
Ähnliche Emotionen kochten im vergangenen Monat in London hoch, als Studierende gegen einen Beschluss des dortigen University College protestierten. Die Hochschule hatte entschieden, eine gemeinnützige LGBTQ-Organisation nicht länger dafür zu bezahlen, dass sie kontrolliert, ob die Einrichtung sich an die Antidiskriminierungsvorschriften hält. Das mag sich nach einem nüchternen technischen Vorgang anhören, aber die Studierenden werteten ihn als Beleg dafür, dass die Institution sich nicht ausreichend für die LGBTQ-Rechte einsetze. Das Transparent, das sie in die Höhe hielten, trug die Aufschrift „Steigt bei Stonewall wieder ein oder fahrt zur Hölle“.
Das Höllenfeuer-und-Schwefel-Vokabular mag zunächst befremdlich klingen in einer Zeit, in der die Gesellschaft immer unreligiöser wird: In der US-Bevölkerung sank 2020 der Anteil der Kirchenmitglieder erstmals unter 50 Prozent, 1999 betrug der Anteil immerhin noch 70 Prozent. In meiner Heimat Großbritannien wurde in der Erhebung British Social Attitudes der Niedergang der organisierten Religion als „eine der wichtigsten Entwicklungen der Nachkriegszeit“ gewertet. Vor diesem Hintergrund wäre doch vielleicht zu erwarten, dass religiöse Vorstellungen wie Buße, Höllenpein, Ketzerei oder Abfall vom Glauben in den Hintergrund treten. Das ist aber nicht der Fall. Für manche Aktivistinnen und Aktivisten hat die Politik von der Religion die Rolle der Sinnstifterin übernommen, die unserem Leben Bedeutung gibt und den Anschluss an eine Gemeinschaft ermöglicht.
In den USA sind die Nichtreligiösen jünger und liberaler eingestellt als der Bevölkerungsdurchschnitt. Darum ist diese Gruppe wohl nicht zufällig besonders stark vertreten, wenn es um öffentlichkeitwirksame Social Justice-Auseinandersetzungen geht. Das gilt besonders für Konflikte im Hochschulumfeld. Die Nichtreligiösen haben eine Religion durch eine andere ersetzt. In ihrem Buch The Coddling of the American Mind (zu Deutsch in etwa „Amerikas geistige Verhätschelung“) beschreiben Jonathan Haidt und Greg Lukianoff Proteste auf dem Campus als Ausbrüche einer „kollektiven Erregung“. Dieser Begriff wurde von dem Soziologen Émile Durkheim geprägt und bezeichnet Emotionen, die nur in einer Ansammlung von Menschen erlebbar sind. Durch Singen, Schunkeln und Skandieren baut sich eine Art elektrischer Spannung auf, die die Gruppe durchströmt – was im Ergebnis dazu führen kann, dass einem Menschen „Tu Buße“ entgegengebrüllt wird, nur weil er ein witziges Transparent hochhält.
Für manche Aktivistinnen und Aktivisten hat die Politik die Rolle der Sinnstifterin von der Religion übernommen.
Für isolierte Menschen ist das Konsumieren und Teilen von politischen Memes und Kommentaren eine Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden. Ein Übriges tun die sozialen Medien und Dating-Apps, indem sie uns dazu drängen, uns selbst Etiketten auf die Stirn zu kleben, damit Algorithmen und Werbetreibende uns sofort in die richtige Schublade stecken können. Gängige diskriminierungsfreie Sprachformeln haben oft etwas von einem Glaubensbekenntnis: Wer ansagt, mit welchem Pronomen er oder sie angesprochen werden will, oder in Form eines sogenannten Land Acknowledgment indigenes Land ausdrücklich als solches anerkennt, bekennt sich zu einer gemeinsamen Überzeugung und bestätigt, dass er oder sie sich denselben Werten verpflichtet fühlt, wie alle anderen Anwesenden. Doch wenn Politik wie eine Religion betrieben wird, gerät sie auch stärker unter den Einfluss von emotionalen Unbeständigkeiten und Stammesdenken (weil Meinungsdifferenzen zur Frage von Gut und Böse werden) und wird anfällig für moralisierende und frömmelnde Aufwallungen. „Ich denke immer wieder an das Marx-Zitat von der Religion als dem Opium fürs Volk“, erklärt Elizabeth Oldfield, Ex-Direktorin des christlichen Thinktanks Theos. „Heute liefert die Politik die Amphetamine fürs Volk.“
Kürzlich führte ich für den BBC-Dokumentarfilm The Church of Social Justice Interviews mit Oldfield und vielen anderen Kommentatorinnen, Aktivisten und führenden Geistlichen – manche Gesprächspartner waren übrigens alles in einem. In den Gesprächen gewann ich allerhand überraschende Erkenntnisse. So fragte ich Alex Clare-Young, einen nicht-binären Priester der Vereinigten Reformierten Kirche (United Reformed Church, URC), wovon Menschen der Generation Z, wenn sie Alex kennenlernen, mehr überrascht sind: vom Glauben oder der Genderzugehörigkeit von Alex. „Wahrscheinlich von der Tatsache, dass ich religiös bin“, lautete Clare-Youngs Antwort. „Ich kenne viele junge LGBTQ+-Menschen, die es schwerer finden, sich in einem LGBT-Umfeld als Christ zu outen, als sich in einem christlichen Kontext als LGBT-Mensch zu outen.“
Die Politik durchdringt heutzutage alle Aspekte unseres Lebens. In Ländern, in denen interethnische und interreligiöse Ehen inzwischen gang und gäbe sind, ist die Partnersuche über politische Trennlinien hinweg das neue Tabu. Der junge britische Schriftsteller Tomiwa Owolade berichtete, wie oft er in Dating-Profilen die unmissverständliche Einschränkung „Keine Konservativen“ liest. Victoria Turner, Herausgeberin einer Anthologie mit dem Titel Young, Woke and Christian, erzählte mir, sie könne ohne Weiteres eine Beziehung mit jemandem haben, der einer anderen oder gar keiner Glaubensgemeinschaft angehört. Aber eine Beziehung mit einem Konservativen? „Ausgeschlossen. Ein klares No-Go.“ Und warum? „Ob dein Gott genauso aussieht wie mein Gott, weiß ich nicht“, erklärte sie. „Aber was sich ändern muss, damit die Menschen nicht mehr leiden und es gerechter zugeht auf der Welt – das weiß ich.“
Zusammen mit der Rolle der Religion übernimmt die Politik auch deren Grundideen und fasst sie mitunter in neue Worte. Der Sprachwissenschaftler John McWhorter schreibt für The Atlantic und stellte kürzlich in einem Buch, das zum Verkaufsschlager wurde, Überlegungen über die von ihm als solche empfundenen Auswüchse der amerikanischen Racial Justice-Bewegung an. Der Arbeitstitel des Buches – The Elect („Die Auserwählten“) – spielte auf die calvinistische Vorstellung einer von Gott zum Heil auserwählten Gruppe an. (Das Buch erschien schließlich unter dem provokanteren Titel Woke Racism.) „Die Hyper-Woken – die auf Schritt und Schritt Leute vor die Tür setzen oder an den Pranger stellen – glauben, dass sie mehr Durchblick haben als die meisten anderen Menschen und das wahre Wesen der Dinge besser begreifen als der gewöhnliche Mensch“, so McWhorter. „Sie sehen sich als Auserwählte.“
Kollektive Erregung ist etwas sehr Mitreißendes.
McWhorter sieht noch weitere Parallelen: Begriffe wie „weißes Privileg“ und „männliches Privileg“ seien Abwandlungen der Ursünde – jenes Makels, mit dem die Menschen unabhängig von ihren persönlichen Umständen schon zur Welt kommen. Problematisch findet McWhorter, wie neuerdings das Wort „Ketzer“ zum Einsatz kommt. In seinem Buch identifiziert er unter anderem eine Art „Priesterkaste“ von einflussreichen Publizistinnen und Politikern, die seiner Meinung nach diktieren, was gesagt werden darf und was nicht.
Dieses Phänomen ist nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums zu beobachten. Auf Donald Trumps Wahlkampfkundgebungen wurde das Ausbuhen von Pressevertretern, die eigens in einem gut sichtbaren Bereich eingepfercht worden waren, zum festen Bestandteil des Rituals. An der Erstürmung des Kapitols beteiligten sich neben hartgesottenen Bürgerwehrmitgliedern und Waffennarren auch Dutzende ansonsten gesetzestreuer Bürger, die sich von der kollektiven Erregung mitreißen ließen. Es gibt aber noch mehr Parallelen zur Religion: Die reißerischen Mythen, die QAnon über Blut trinkende Eliten verbreitet, knüpfen an antisemitische Klischees aus dem Mittelalter an, und als QAnon-Jünger sich in Dallas versammelten, um 22 Jahre nach dessen tödlichem Flugzeugabsturz auf die Auferstehung von John F. Kennedy Jr. zu warten, fühlte man sich an das Treffen einer millenaristischen Sekte erinnert. Wie meine Kollegin Adrienne LaFrance berichtete, haben für die Anhänger dieser Verschwörungstheoretiker-Bewegung die Online-Posts des Anonymus „Q“ den Charakter von göttlichen Offenbarungen. „Ich spüre, dass Gott mich zu Q geführt hat“, bekannte ein QAnon-Anhänger gegenüber LaFrance.
Kollektive Erregung ist etwas sehr Mitreißendes. Darum arbeiten die etablierten Religionen inzwischen an Strategien für den Umgang mit Formen des Enthusiasmus, die ins Fanatische kippen. „Im religiösen Leben oder im jüdischen Leben kann es sein, dass deine Sitznachbarin in der Synagoge dich zum Wahnsinn treibt, extrem nervt und die Welt ganz anders sieht als du – und trotzdem musst du zur Beerdigung gehen, wenn ein Familienangehöriger von ihr stirbt“, sagt Rabbinerin Laura Janner-Klausner von der Bromley Reform Synagogue im Süden Londons. „Du musst ihr trotzdem etwas schenken, wenn sie gerade ein Kind zur Welt gebracht hat, und trotzdem zu ihrem Morgengebet gehen.“
Im realen Leben zwingen Kirchen, Moscheen, Synagogen und andere Gotteshäuser ein willkürliches Sammelsurium von Menschen zu einer Gemeinde zusammen, weil sie zufällig in der Nähe wohnen. Die Vermittlungsinstanz für den heutigen Sozialaktivismus ist in vielen Fällen das Internet, wo abweichende Meinungen mühelos ausgeblendet werden können. Wir haben die Religion mitsamt ihrem Konfliktstoff für sektiererische Spaltungen einmal durch die Polarisierungsmaschine geschickt. Kein Wunder, dass die politische Landschaft von heute manchmal wirkt wie eine Wüste, in der qualvoll gekeift und gezetert wird – als wären wir schon in der Hölle angekommen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
© The Atlantic