Das zehnjährige Jubiläum der EU-Osterweiterung ist von EU-Beamten und Entscheidungsträgern aus den Mitgliedstaaten als Riesenerfolg gefeiert worden. Beide Seiten verweisen auf die nahtlose Integration der meisten neuen Mitgliedstaaten in die europäischen Entscheidungsmechanismen und auf die ökonomische Konvergenz, die im pro-Kopf-BIP ihren Ausdruck finde.

Diese Feierstimmung steht im scharfen Kontrast zu den sozioökonomischen Entwicklungen, die die Mehrheit der Bevölkerungen täglich erlebt. Auch zehn Jahre nach dem Beitritt und 25 Jahre nach Einführung eines Kapitalismus in Osteuropa, der fast an die Dritte Welt erinnert, haben die Wirtschaften der östlichen Mitgliedstaaten noch immer niedrigere und bisweilen sehr viel niedrigere Beschäftigungsraten als ihre westlichen Gegenstücke. In Ost und West haben sich die Löhne sehr viel langsamer angeglichen als die Preise. In der Konsequenz besteht eine enorme Kluft zwischen dem realen Konsum der westlichen und der östlichen EU-Bürger.

 

Kluft zwischen Ost- und Westeuropa

Untersuchungen über Ungleichheit in den östlichen Mitgliedsstaaten mögen auf eine geringe soziale Ungleichheit in den östlichen Einzelstaaten hinweisen. Doch das ist kein Erfolg, sondern der insgesamt geringen Einkommenshöhe geschuldet, in der letztlich fast jeder arm ist. Die Kluft bei der Produktivität zwischen Ost und West hat eher zu- als abgenommen. In Zukunft dürfte sie sich weiter vertiefen, denn die Bildungssysteme im Osten sind unterfinanziert und wenig leistungsfähig. In der Konsequenz sehen die arbeitenden Generationen im Osten heute keine nachhaltige Zukunft mehr. Sie reagieren mit geringen Geburtenraten und zunehmender Migration nach Westeuropa.

Den osteuropäischen Mitgliedstaaten fehlt eine starke Mittelschicht, die materiell unabhängig genug ist, um der Versuchung klientelistischer Netzwerke und des Populismus widerstehen zu können. Auch fehlt ein Verständnis für die Notwendigkeit komplexer öffentlicher Debatten. Ohne starke Mittelschichten sind diese neuen Demokratien der Aushöhlung des öffentlichen Diskurses, dem Klientelismus, der Korruption, einer nicht enden wollenden Abfolge folgenloser Skandale, dem Vertrauensverlust in alle politischen Parteien, dem Populismus, dem Extremismus, dem Chaos und der Übernahme des Staates durch Oligarchen und Unternehmen zum Opfer gefallen.

Die östlichen Mitgliedstaaten haben einen Unterbietungswettbewerb in Sachen Steuern und Sozialstandards gestartet.

Auch der Westen Europas hat die negativen Konsequenzen der Osterweiterung gespürt. Die östlichen Mitgliedstaaten haben einen Unterbietungswettbewerb in Sachen Steuern und Sozialstandards gestartet. In der Folge wurden westliche Regierungen von Unternehmen unter Druck gesetzt, die mit einem Abwandern nach Osten drohten. Der von den neuen Mitgliedstaaten ausgelöste Steuerwettbewerb hat den Marktfundamentalisten eine bequeme Ausrede zur Verfügung gestellt, um sowohl Steuern als auch Sozialstandards zu kürzen – und zwar quer durch die EU. Der Wettbewerb mit östlichen Unternehmen hat bilaterale Lohnarrangements unterminiert (so etwa im berüchtigten Fall Laval). Der Transfer der Kohäsionspolitik in den Osten hat nicht die sozioökonomische Emanzipation der östlichen Nachbarn zur Folge gehabt. Stattdessen hat er die zivilisatorische Errungenschaft Westeuropas, nämlich das Wohlfahrtsmodell, in Frage gestellt.

 

Falsche Reaktion der Parteien

In den vergangenen Jahren hat auch die Arbeitsmigration zu diesem Effekt beigetragen. Die Tatsache, dass osteuropäische Arbeitsmigration Löhne, Arbeitsmöglichkeiten und bezahlbare Wohnungen für die ortsansässige Bevölkerung in vielen Gegenden Westeuropas unterminiert hat, wird nicht durch das Argument leichter verkraftbar, dass diese Migranten einen positiven Effekt auf die Gesamtwirtschaft haben. Die politischen Parteien des Mainstreams haben hierauf bislang nur reagiert, wenn die Wählerinnen und Wähler sie in Scharen in Richtung radikale Anti-Einwanderungsparteien verlassen haben. Hierfür wurden sie in vielen Fällen ungerechtfertigterweise als fremdenfeindlich beschrieben.

Doch auch dann noch haben die Mainstream-Parteien die falsche Antwort gegeben. Sie bemühten sich, europäische Regelungen zur Freizügigkeit der Arbeit zu begrenzen, anstatt die Ursachen hinter den ökonomischen Fehlleistungen Osteuropas in den Blick zu nehmen. Hierzu würde der Versuch zählen, den europäischen Acquis garantierter Lebensstandards nach Osteuropa auszuweiten. Dies würde den Push-Faktor der Arbeitsmigration reduzieren und es den Bürgerinnen und Bürgern in Osteuropa ermöglichen, ihre Ambitionen vor Ort zu erfüllen. Anders als bisweilen behauptet, wäre ein solcher Lebensstandard für die betroffenen Länder keineswegs ökonomisch unerreichbar.

Ost-Europa wurde in das verwandelt, was Mexiko für die USA ist: Eine Low-End- und Niedriglohn-Werkbank westlicher Firmen.

Diese beschriebenen Spannungen zwischen Ost- und West-Europa sind an wirtschaftliches Versagen im Süden gekoppelt und als solche das Resultat einer schlecht konstruierten Eurozone, eines deutschen Lohnwettbewerbs und des verschwenderischen Betragens südlicher Eliten. Zusammengenommen drohen diese sozioökonomischen Makroprozesse, die Ergebnisse von 50 Jahren europäischer Integration auseinander zu reißen. Diese Gefahr ist in einer einseitigen Integrationsphilosophie begründet, die zwar Kapital und Gütern Bewegungsfreiheit eingeräumt, es aber zugleich versäumt hat, sie durch die Konvergenz der Wirtschaftsmodelle zu ergänzen. Die Philosophie basierte auf einer marktfundamentalistischen Überzeugung der neoliberalen Konservativen und der Liberalen, die auch von den Sackgassen-Sozialdemokraten des Dritten Weges geteilt wurde. So wurde Ost-Europa in das verwandelt, was Mexiko für die USA ist: Eine Low-End- und Niedriglohn-Werkbank westlicher Firmen, die zugleich als re-Exportbasis dient.

Das Fehlen eines harten Acquis in der Sozialgesetzgebung hat die Eliten an der östlichen Flanke in die Lage versetzt, ein marktfundamentalistisches postkommunistisches Sozialmodell zu entwickeln, das den Wünschen der eigenen Bürgerinnen und Bürger entgegensteht. Diese stehen den nordwest-europäischen kulturellen Werten des gesellschaftlichen Konsenses eigentlich näher als dem angelsächsischen Modell. Es ist auch dem Projekt all jener Nord- und Westeuropäer abträglich, die darauf setzen, ein wirklich soziales Europa nach dem Vorbild der nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten zu entwickeln und die Werte der Gleichheit, Gerechtigkeit, der Mobilität und eines sinnvollen Lebens auf den Rest der Welt zu projizieren.