Spanien hat gewählt: Wie ist das Ergebnis zu bewerten?

Wie erwartet führten die Wahlen zu einer Verteilung der Parlamentssitze, die die Bildung einer Re­gierung äußerst kompliziert macht. Dabei geht es zunächst – also nach dem 13. Januar, an dem das neue Parlament erstmals zusammentritt – um die Wahl des künftigen Regierungschefs, der nicht unbedingt eine Koalitionsregierung zusammenstellen muss, sondern auch versuchen kann, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren. Es zeichnet sich aber weder eine rechte noch eine linke Parlamentsmehrheit ab. Rein theoretisch könnte eine rechte Mehrheit zustande kom­men, wenn die noch regierende konservative Volkspartei (PP, 123 Sitze) von der neuen liberalen Partei Ciudadanos (40 Sitze), der konservativen katalanischen Regionalpartei (8 Sitze) und der bas­­kischen Nationalpartei (6 Sitze) unterstützt wird. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass die Katalanen mit der PP zusammengehen, die PP ist ja die Partei, die die Unabhängigkeit Kata­lo­niens am schärfsten bekämpft. Ein linkes Bündnis der Sozialisten (PSOE, 90 Sitze) mit Podemos (69 Sit­ze), der linken katalanischen Regionalpartei (ERC, 9 Sitze), der baskischen Linkspartei Bildu (2 Sitze) und der Vereinigten Linken (2 Sitze) würde nur mit der Unterstützung der konservativen Basken eine knappe Mehrheit erringen.

Wenn sich allerdings die Ciudadanos bei der Wahl des Regierungschefs der Stimme enthalten oder gar einen PSOE-Kandidaten wählen, könnte eine Linksregierung auch ohne die regionalen Parteien zustande kommen. Obwohl die Ciudadanos weniger Wählerstimmen auf sich ziehen konnten, als vor den Wahlen vermutet worden war, finden sie sich nun in der Rolle des Kö­nigs­machers wie­der. Sie haben sich als programmatisch so flexibel profiliert, dass sie sich in beide Richtungen, nach rechts wie nach links, bewegen können.

Rein arithmetisch wäre auch eine große Koalition aus PP und PSOE denkbar. PP-Chef Mariano Rajoy hat sie bereits angeboten, unter der Voraussetzung allerdings, dass sich die Sozialisten von ihrem Vorsitzenden Pedro Sánchez trennen – also kein ernstes An­ge­bot. Eine große Koa­lition widerspräche der politischen Kultur und Identität beider großen Par­teien, die in ihrer Aus­einandersetzung letztlich die Fronten des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur reproduzieren, ohne dass Bürgerkrieg und Diktatur je politisch thematisiert und „auf­gearbeitet“ worden wären.

Der Ausweg: Wenn zwei Monate nach der Eröffnung des Parlaments keine Regierung zustande kommt, müssen Neuwahlen ausgeschrieben werden. Es ist aber fraglich, ob Neuwahlen ein wesentlich anderes Ergebnis bringen würden als die Wahlen vom 20. Dezember.

Die neuen Parteien, die linke Podemos und die liberale Ciudadanos, konnten sich neben den etablieren Parteien halten. Wie wird dies die spanische Politik verändern?

Im alten Zweiparteiensystem konnten die Wähler ihre Unzufriedenheit mit der Politik artikulie­ren, indem sie die jeweilige Oppositionspartei wählten. Auf diese Weise kam es seit dem Beginn der Demokratisierung viermal zu einem regulären Regierungswechsel. Heute ist dies nicht mehr möglich, die binäre Logik des Zwei­par­teiensystems ist außer Kraft gesetzt. Die beiden ehemals großen Parteien zusammen erzielten in den Wahlen gerade einmal 50 Prozent der abgege­be­nen Stim­men. Ab heute treten gleich­­zei­tig zwei alte und zwei neue sowie zwei rechte und zwei linke Parteien gegeneinander an. Die Wähler haben mehr Optionen, sie wissen aber nicht, wel­cher Regierung sie mit ihrer Stimme ins Amt verhelfen.

Dank der neuen Parteien ist bei den Wählern das Interesse an Politik gewachsen. Umfragen zu­fol­ge waren vor wenigen Jahren die Nicht-Wähler die stärkste politische Kraft. Die Unzufrieden­heit mit beiden damals großen Parteien führte zum Rückzug aus der Politik. Dieser Trend ist of­fensichtlich gebrochen. Ein Indiz dafür: Eines der letzten Fernsehduelle der Spitzenpolitiker wurde von neun Millionen Zuschauern gesehen. Der Klassiker des spanischen Fußballs, das Spiel Real Madrid gegen FC Barcelona, bringt es allenfalls auf vier bis fünf Millionen.

Vor allem aber muss das Aufkommen neuer Parteien nicht wie fast überall in Europa mit Rechts­populismus, Rechtsextremismus, Ausländer- und Euro­pa­feind­lichkeit identifiziert werden. Dies verleiht den Wahlen in Spanien eine fast nostalgische Note.

Ich meine aber nicht, dass das Aufkommen der beiden neuen Parteien auch zu einer „neuen Politik“ führen muss. Die neuen Politiker repräsentieren zwar auch eine neue Generation. Dies gilt aber nur für ihr Verhältnis zur PP; die PSOE hat ihre Führung selbst drastisch verjüngt, so dass PSOE, Podemos und Ciudadanos letztlich dieselbe Altersgruppe repräsentieren. Und in pro­grammatischer Hinsicht hat sich Podemos nach einem radikalen Start der Sozialdemokratie an­genähert, während die Ciudadanos jede Festlegung vermieden. Der Wahlkampf war intensiv, in einem vorher nicht gekannten Ausmaß wurde er in den Medien geführt. Für Spanien äußerst wichtige Themen aber, wie die künftige Wirtschaftsentwicklung des Landes, wurden gar nicht angesprochen, auch nicht von Podemos.

Wie wird die sozialdemokratische PSOE mit dem schlechten Ergebnis umgehen?

Die PSOE hat das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielt, schlechter noch als das als „historisch“ bezeichnete Tief der Wahlen von 2011. Ihr Anteil an den Wählerstimmen ist nur geringfügig höher als der von Podemos (22,02 gegenüber 20,7 Prozent). Nur den Besonderheiten des spani­schen Wahlrechts ist es geschuldet, dass sie 21 Parlamentssitze mehr gewinnen konnte als ihre Konkurrentin auf der Linken. Gleichwohl ist die Reaktion auf das Wahlergebnis eher Erleichte­rung, da sie die stärkste Kraft der Linken geblieben ist. Pedro Sánchez ist Oppositionsführer, die Partei ist unter dem Ansturm der neuen Parteien nicht im Nichts verschwunden wie die grie­chische Pasok oder – um bei Spanien zu bleiben – die sozialliberale UPyD oder die christ­demo­kratische katalanische Unió. Sie wurde auch nicht so stark dezimiert wie die Vereinigte Lin­ke, bei der die Zahl der Parlamentssitze von elf auf zwei sank. Die PSOE hat einen Tsunami über­stan­den und kann jetzt darauf warten, dass Podemos in der politischen Alltagsroutine an Strahl­kraft verliert.

Inwiefern hat die Wahl Auswirkungen auf den Regionalismus?

Das hängt zum einen von der Regierungsbildung ab. Sollte eine Regierung antreten, die nicht von der PP geführt wird, gäbe es für Katalonien die Chance eines „dritten Weges“ zwischen Se­paratismus und dem Status quo – etwa eine Reform der Verfassung zugunsten der auto­no­men Regionen. Ein derartiges Angebot würde die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und vor allem deren radikale Kräfte schwächen.

Zum anderen werden die nationalen Parlamentswahlen auch Rückwirkungen auf die politische Konstellation in Katalonien haben. Die beiden wichtigsten Kräfte, die sich für die Unabhängigkeit einsetzen, die sozialdemokratische ERC und die konservative Convergencia (CDC) traten in Ka­talonien in den Regionalwahlen im September als Einheitsliste an. In den nationalen Wahlen agierten sie getrennt voneinander, wobei die eigentlich stärkere CDC (unter dem Namen De­mocràcia i Llibertat) ihr Ergebnis von 16 auf acht Sitze halbierte, während die eigentlich schwä­chere ERC die Zahl ihrer Parlamentssitze von drei auf neun verdreifachte. Offen ist, ob sich die kata­lanische Ein­heitsliste – insbesondere im Hinblick auf mögliche Neuwahlen im Frühjahr 2016 – unter den neu­en Bedingungen halten kann.

Drittens bleiben die regionalen Kräfte im nationalen Kongress als Minderheit präsent. Regionale Parteien gewannen insgesamt 26 von 350 Sitzen, davon 17 für Katalonien, acht für das Basken­land und einen für die Kanarischen Inseln. Hinzuzuzählen sind noch regionale Parteien, die unter der Marke Podemos antraten. Mit diesen Kräften ist die Regierungsbildung noch komplizierter, als sie es in dem neuen Vierparteiensystem ohnehin wäre.

Was bedeutet die Wahl für die Beziehungen Spaniens zur EU?

Wenig. Es gibt in Spanien keine europakritische oder anti-europäische Kraft. Die aufgezwungene Austeritätspolitik wird nicht „Europa“, das heißt den europäischen Institutionen angelastet, son­dern Deutschland und seiner Kanzlerin Angela Merkel. In den europäischen Institutionen sehen viele Spanier eher ein poten­tielles Gegengewicht zu Deutschland; verkörpert wird dieses Ge­gengewicht von Martin Schulz, der als „der an­dere Deutsche“ gepriesen wird.

 

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