In Venezuela hat nach 17 Jahren sozialistischer Regierung das Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad Democratica (MUD) die Parlamentswahlen deutlich gewonnen. Wie erklärt sich dieser Wählerwandel?

Venezuela befindet sich in einer massiven Wirtschaftskrise, die sich durch die weltweit höchste Inflation, Rezession und Lebensmittelknappheit auszeichnet, und von der immer größere Teile der Bevölkerung betroffen sind. Darüber hinaus ist das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Führung der Regierungspartei PSUV, nach dem Tod des charismatischen Ex-Präsidenten Hugo Chavez im Jahr 2013, unter seinem Nachfolger Nicolas Maduro verloren gegangen. Im Regierungslager - dem so genannten Chavismus - ist eine Kluft zwischen Basis und Führung entstanden, die zu Chavez‘ Lebzeiten unvorstellbar war. Das Oppositionsbündnis MUD - bestehend aus konservativen, sozialdemokratischen und liberalen Kräften - hat in dieser Situation einen Erdrutschsieg errungen, der zwar erwartet worden war, dessen Ausmaß in dieser Form aber kaum vorstellbar war. Allerdings richtet sich das Ergebnis der Parlamentswahlen nicht grundlegend gegen das politische Projekt von Hugo Chavez, die so genannte „bolivarianische Revolution“, sondern vielmehr gegen die aktuelle Regierung von Präsident Maduro, die aus Sicht vieler Anhänger des Chavismus die unter Chavez erreichten Errungenschaften verspiele.

Präsident Maduro hat erklärt, das Ergebnis zu akzeptieren. Dies galt vor den Wahlen nicht als sicher, zumal in der Opposition Überlegungen bestehen, 2016 ein Referendum zu seiner Abberufung einzuleiten. Wie erklärt sich Maduros  Entscheidung?

Maduro hatte schon am Tag vor den Wahlen seine Aussage zurückgenommen, im Falle einer Niederlage auf die Straße zu gehen, um zu Protesten aufzurufen. Nachdem der Nationale Wahlrat (CNE) sich am Wahlsonntag bis nach Mitternacht Zeit gelassen hatte, ein vorläufiges Ergebnis zu verkünden, erfolgte unmittelbar darauf die Erklärung des Präsidenten. Darin räumte er zwar die Niederlage ein und bekannte sich zu den Spielregeln demokratischer Wahlen, übernahm jedoch nicht die Verantwortung für das desaströse Ergebnis seiner Partei, sondern machte vielmehr den so genannten „Wirtschaftskrieg“ dafür verantwortlich, der von Opposition und Privatwirtschaft mit Unterstützung der USA gegen seine Regierung geführt werde. Im Regierungslager war durchaus mit einem negativen Ergebnis gerechnet worden, aber auf eine Niederlage in dieser Dimension war vermutlich niemand im Chavismus vorbereitet. Das eindeutige Wahlergebnis ließ dem Präsidenten wenig Handlungsspielraum und hat das Regierungslager in eine Schockstarre versetzt.

Welche Initiativen sind vom neuen Parlament zu erwarten, nachdem es sich am 5. Januar 2016 konstituieren wird?

Zunächst bleibt abzuwarten, wie die neue Parlamentsmehrheit des MUD genau ausfallen wird. Nach dem vorläufigen Ergebnis entfallen von 167 Sitzen in der Nationalversammlung 99 auf das Oppositionsbündnis und 46 auf den Regierungsblock. Die Verteilung  der restlichen 22 Mandate steht noch aus. Dies ist zwar eine eindeutige Mehrheit für den MUD, aber (noch) keine qualifizierte Mehrheit von 3/5 der Nationalversammlung (101 Abgeordnete) oder gar eine 2/3-Mehrheit (111 Abgeordnete). Je nach Mehrheit ergeben sich unterschiedliche Spielräume für der Opposition.

Noch im Dezember könnte vom alten Parlament ein Ermächtigungsgesetz beschlossen werden, mit dem Maduro bis zu einem Jahr Gesetze ohne Parlamentsmehrheit erlassen kann. Um dies im neuen Parlament im Januar rückgängig zu machen, bräuchte die Opposition eine 3/5-Mehrheit. Damit könnte sie zudem Einfluss auf die Besetzung des Obersten Gerichtshofs nehmen, sowie Veto gegen die Ernennung neuer Minister einlegen. Mit einer 2/3-Mehrheit könnten sogar Verfassungsänderungen vorgenommen werden.

Die neue Parlamentsmehrheit wird sich ab Januar zunächst auf zwei Projekte konzentrieren: Ein Amnestiegesetz für Oppositionspolitiker, die sich derzeit in Haft befinden, und ein Gesetz zur Ankurbelung der nationalen Produktion zur Reduzierung der Importabhängigkeit. Das politisch entscheidenste Projekt des MUD dürfte allerdings die Einleitung eines Referendums zur Abberufung von Präsident Maduro werden, das nach Ablauf der Hälfte seiner Legislaturperiode (im April 2016) möglich wird. In diesem Sinne stellt die Parlamentsmehrheit für den MUD nur den ersten Schritt zur Regierungsübernahme dar.

Der Ölpreis bestimmt den finanziellen Spielraum der venezolanischen Politik. Darauf hat auch das neue Parlament keinen Einfluss. Was muss das Land tun, um die wirtschaftliche Misere zu überwinden?

Der MUD steht trotz des eindeutigen Siegs bei den Parlamentswahlen vor einer gewaltigen Herausforderung. Der Wahlsieg weckt hohe Erwartungen unter seinen Anhängern, die nicht leicht zu erfüllen sein werden. Vielmehr steht das Land vor einem harten wirtschaftlichen Anpassungsprozess, wenn ein Staatsbankrott 2016 abgewendet werden soll. Der MUD wird im Rahmen seiner Parlamentsmehrheit nun Mitverantwortung für dessen enorme politische Kosten übernehmen müssen. Eine Abwertung der absurd überbewerteten Landeswährung Bolivar und die Vereinheitlichung mehrerer unterschiedlicher Wechselkurse scheint unausweichlich, muss aber sozial abgefedert werden. Um die Abhängigkeit vom Öl (96 Prozent der Exporte) zu reduzieren, muss Venezuela langfristig seine Wirtschaft diversifizieren. Zunächst wird es dem neuen Parlament aber darum gehen durch eine Verbesserung der Produktionsbedingungen aus der Abwärtsspirale von Rezession, Inflation, Importabhängigkeit und Devisenmangel herauszukommen. Ohne einen nationalen Dialog zwischen Regierung und Opposition wird dies kaum zu schaffen sein. Die Dialogbereitschaft des Regierungslagers dürfte davon abhängen, wie der Chavismus auf das Wahlergebnis und die neuen Parlamentsverhältnisse reagieren wird.

Was bedeutet die Abwahl der Sozialisten für den Chavismus?

Die deutliche Niederlage bei den Parlamentswahlen bedeutet einen historischen Einschnitt für den Chavismus. Mit Ausnahme des Verfassungsreferendums 2007 ist es die erste Wahlniederlage seit der Regierungsübernahme durch Hugo Chavez 1999. Eine solch fundamentale Niederlage passt nicht ins Selbstverständnis der selbst ernannten „Revolutionsbewegung“. Sie löst Verstörung aus und dürfte die Architektonik der Machtverteilung nachhaltig verschieben. Innerhalb der chavistischen Basis wird Präsident Maduro für das Scheitern verantwortlich gemacht. Die Forderung nach seinem Rücktritt wird unter Regierungsanhängern bereits laut und die Stimmung für eine Erneuerung des chavistischen Führungspersonals wird Auftrieb bekommen.

Sollte das Vorhaben des MUD, ein Referendum zur Abberufung des Präsidenten einzuleiten, Aussicht auf Erfolg haben, könnte in der PSUV der interne Druck für eine Ablösung Maduros wachsen, bevor es zu einem Referendum kommt. Nach der venezolanischen Verfassung hätte dies Neuwahlen zur Folge, deren Zeitpunkt und Konditionen der Chavismus selbst in der Hand hätte, dann aber einen aussichtsreichen Nachfolger für Maduro präsentieren müsste. Auch der MUD müsste sich allerdings im Falle von Neuwahlen des Präsidenten erst auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Eine Freilassung von Leopoldo Lopez, dem oppositionsinternen Rivalen des Ex-Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles,  könnte dem Chavismus dann eventuell sogar nützen. Für Präsident Maduro wird 2016 das bisher schwierigste Jahr seiner Präsidentschaft, mit ungewissem Ausgang.  

 

 

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