Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Narendra Modi und seine BJP haben bei den Wahlen in Indien einen gehörigen Dämpfer erhalten und die absolute Mehrheit verloren. Was ist der Grund für das relativ schlechte Abschneiden des Premiers und seiner Regierungspartei?

Ein paar Tage nach der Wahl ist jede Tiefenanalyse der Beweggründe der knapp 645 Millionen Inder, die ihre Stimme abgegeben haben, schwierig. Sicher ist: Das Ergebnis ist eine große Überraschung und für nahezu alle nationalen und internationalen Beobachter unerwartet. Bisher existieren diverse Lesarten, die vor allem die starke wirtschaftliche Ungleichheit, Probleme bei der sozialen Gerechtigkeit sowie die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung ins Zentrum ihrer Analyse nehmen. Das scheint durchaus überzeugend, wenn man sich die Verluste der Regierungskoalition in den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Rajasthan sowie Haryana ansieht, die als sogenanntes Hindi-Heartland lange Zeit fest in der Hand der BJP waren und von ländlichen Strukturen geprägt sind. Indien, das bis zu 71 neue Flughäfen bauen möchte, im vergangenen Jahr auf dem Mond gelandet ist und über eindrucksvolle IT-Hubs sowie eine dynamische Startup-Szene verfügt, ist in weiten Teilen des Landes, abseits der großen urbanen Zentren Delhis, Mumbais und Bengalurus, noch immer ein Entwicklungsland mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Person von rund 2 500 US-Dollar. Im internationalen Vergleich liegt dies zwischen Angola und der Republik Kongo. Indiens Wirtschaft dürfte im letzten Haushaltsjahr zwar um etwa acht Prozent gewachsen sein – eine der schnellsten Raten unter den großen Volkswirtschaften –, aber die Wähler haben mit ihrer elektoralen Entscheidung auf die Ungleichheiten sowie die steigende Arbeitslosigkeit vor Ort hingewiesen, die für viele Menschen immer noch gelebte Realität sind.

Im bevölkerungsreichsten Land der Welt bleiben die entwicklungspolitischen Herausforderungen groß.

Die 800 Millionen Menschen, die trotz der Erfolge der indischen Regierung bei der Armutsbekämpfung immer noch Nahrungsmittelrationen beziehen, wollten wohl mit ihrer Wahlentscheidung eben auch verdeutlichen, dass soziale Gerechtigkeit und ein faireres Indien eine höhere Priorität haben sollte. Die Opposition fokussierte ihren Wahlkampf vor allem auf diese nach wie vor große Bevölkerungsschicht und konnte so in manchen Teilen des Landes Überraschungserfolge erzielen. Wenngleich hier immer noch über klassische Handout-Politik und weniger über strukturelle, systemische Änderungen gesprochen wurde, war die strategische Ausrichtung wohl richtig, denn die politische Ökonomie Indiens erzeugt bis heute gesellschaftliche Bruchlinien entlang wirtschaftlicher Möglichkeiten, komplexer Identitätslogiken sowie gesellschaftlicher Machthierarchien, die Menschen multidimensional benachteiligen – oder bevorzugen. Die Regierung konnte hier in den letzten Jahren zwar Erfolge vermelden und viele Inder aus der Armut in die indische Mittelschicht heben, doch im bevölkerungsreichsten Land der Welt bleiben die entwicklungspolitischen Herausforderungen groß.

Trotz allem ist Modis BJP dennoch mit großem Abstand stärkste Kraft geworden. Eine weitere Amtszeit scheint dem Premierminister sicher, jedoch ist er auf Bündnispartner angewiesen. Was bedeutet dies für die neue Regierung?

Die Bündnispartner der BJP spielten in der Vergangenheit eine eher untergeordnete Rolle. Dies wird sich nun ändern und vermutlich dazu führen, dass Partikular- und Regionalinteressen nunmehr am Kabinettstisch mitverhandelt werden müssen. Parteien wie beispielsweise die Janata Dal aus Bihar werden für ihre zwölf Sitze der Koalition nun mehr Beachtung und Fokussierung auf die Entwicklung des ärmsten indischen Bundesstaates einfordern. Die BJP und Narendra Modi werden – bisher ungewohnte – Kompromisse aushandeln müssen. Dies mag in der Folge durchaus positiv für die Entwicklung des Landes sein, denn teilt man die vorgenannte Analyse, dann sind eine breitere regionale Entwicklung, die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, gerechtere Verteilungspolitik sowie die Fokussierung auf ärmere Regionen valide Politikansätze, um auf die Wähler zuzugehen.

Der oppositionelle indische Nationalkongress INC konnte seine Sitzzahl im Vergleich zur letzten Wahl beinahe verdoppeln. Ein gutes Zeichen für die indische Demokratie?

Knapp 645 der rund 970 Millionen Wahlberechtigten in Indien haben in sieben Runden und fast 90 Tagen ihre Stimme abgegeben. Keiner der unterlegenen Kandidaten zweifelte im Nachgang das jeweilige Wahlergebnis an, auch nicht von jenen, die nur mit geringem Abstand verloren haben. Die Wahl wurde ohne große Unregelmäßigkeiten durchgeführt und verfügte mit knapp 310 Millionen weiblichen Wählerinnen über die höchste Frauenwahlquote der indischen Geschichte. Indien zeigt damit eindrucksvoll, dass die größte demokratische Übung der Welt mit Integrität, Professionalität und Respekt vor den Wählern über die Bühne gebracht werden konnte. Wie bei jeder demokratischen Wahl sind Machtwechsel oder Veränderungen von Sitzzahlen, Mehrheiten oder Koalitionsgefügen gute Zeichen für die Vitalität der jeweiligen Demokratie. Das ist auch in Indien so.

Keiner der unterlegenen Kandidaten zweifelte im Nachgang das jeweilige Wahlergebnis an.

Der INC konnte seine Sitze fast verdoppeln und wird demnach mit mehr Selbstbewusstsein in die 18. Lok Sabha starten. Erfolgreich war für den INC der sogenannte Bharat Jodo Yatra, eine Art Massenbewegung, bei der führende Politiker der größten Oppositionspartei, angeführt von Rahul Gandhi, quer durch Indien marschierten und von tausenden Menschen begleitet wurden. Die Idee dahinter war der direkte Austausch mit den Wählern und die unmittelbare Kommunikation zwischen politischen Entscheidungsträgern und Menschen jedweder Herkunft und aus allen Teilen des Landes. Der Yatra erzeugte ein großes Medienecho und war ein Erfolg, auch weil er es Rahul Gandhi ermöglichte, sein Image in der Öffentlichkeit zu verändern: weg vom Mitglied der Nehru-Gandhi-Familie und hin zu jemandem, der sich um die Belange der einfachen Bevölkerung kümmert. Diese Art der „direkten Demokratie“ scheint ein Grund für das relativ gute Abschneiden des INC zu sein.

Indiens globales Gewicht ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Welche Auswirkung hat das Wahlergebnis auf die internationale Ausrichtung des Landes?

Außenpolitik war doch nicht, wie erwartet, bestimmend für die Wahlentscheidung: Vor der Wahl teilten Experten und Analysten die Einschätzung, dass die außenpolitischen Erfolge – die im erfolgreichen G20-Gipfel des Jahres 2023 mündeten – für eine wachsende Gruppe der Inder ein bedeutendes Wahlkampfthema sein würden. Die neue Relevanz und politische Bedeutung Indiens in diversen westlichen und nicht-westlichen Institutionen zeugte eindrücklich vom außenpolitischen Erfolgskurs der letzten Jahre. Indien gewann zwar unter Premier Modi und Außenminister Jaishankar an Einfluss und Bedeutung in der internationalen Politik, aber die Gruppe der Wähler, für die diese neue Rolle von wahlentscheidender Bedeutung war, scheint in der Relation immer noch klein zu sein. Für die internationalen Beziehungen, die außen-, sicherheits-, und handelspolitische Agenda sowie für das Agieren auf den großen internationalen Bühnen wird die Wahl jedoch keine Änderungen bringen. Indien wird weiterhin einen Kurs des multi-alignment verfolgen und versuchen, multi-vektoral die eigenen strategischen Interessen zu verfolgen. Auch die vielen deutsch-indischen Vorhaben bleiben von der Wahl unbetroffen. Das wäre wohlgemerkt auch bei einem Machtwechsel in Neu-Delhi der Fall gewesen, denn auch in der indischen Außenpolitik gibt es viel Kontinuität.