Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Im vergangenen Sommer hat Labour nach 14 Jahren konservativer Regierungszeit einen überwältigenden Wahlsieg errungen. Seitdem ist die Partei jedoch dramatisch abgestürzt: In den Umfragen ging es von 34 auf unter 20 Prozent runter, Labour hat eine schmerzhafte Wahl in Wales verloren, und eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ist der Meinung, Keir Starmer solle zurücktreten. Wie erklären Sie einen derart heftigen Einbruch in so kurzer Zeit?
Als Labour im Juli 2024 gewonnen hatte, gab es durchaus Wohlwollen gegenüber der neuen Regierung. Gleichzeitig herrschte aber auch Skepsis, was diese Regierung tatsächlich würde leisten können. Viele machten sich Sorgen über den Zustand, in dem die Konservativen das Land hinterlassen hatten. Und es gab viele Fragen, was Labour mit seinem Wahlkampfslogan „Change“ eigentlich genau meinte.
Nach einem soliden Start, vor allem außenpolitisch, hat die Regierung dann mehrere gravierende Fehler gemacht, die ihr sehr geschadet haben. Am schwersten wog die Entscheidung, den Heizkostenzuschuss zu kürzen – und zwar nicht nur für wohlhabendere Rentnerinnen und Rentner, was nachvollziehbar gewesen wäre, sondern auch für Menschen mit nicht so hohen Renten. Labour wollte damit die Märkte beruhigen und zeigen, dass man verantwortungsvoll mit den öffentlichen Finanzen umgeht. Aber dieser Schritt hat viele verunsichert und Zweifel daran geweckt, wofür Labour eigentlich steht.
Gleichzeitig hat Labour weiter die Konservativen für alles verantwortlich gemacht, ohne selbst klar zu sagen, wohin die eigene Reise gehen soll. Das hat das Vertrauen sowohl der Wirtschaft als auch bei den Wählerinnen und Wählern erodieren lassen. Und als der Haushalt dann verabschiedet wurde, enthielt er eine deutliche Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Viele Unternehmen hatten das Gefühl, das widerspreche allem, was Labour ihnen hinsichtlich Wachstum und Wohlstand zuvor versprochen hatte.
Seitdem haben wir eine enttäuschende wirtschaftliche Entwicklung. Und dann gab es noch den Freebies-Skandal: Es ist völlig normal, dass Abgeordnete Einladungen zu Veranstaltungen, Konzerten oder Abendessen bekommen, sie müssen es nur offenlegen. Als das Ausmaß dieser Zuwendungen jedoch publik wurden, hat das viele Menschen vor den Kopf gestoßen – und Labour hat viel zu lange gebraucht, um das richtig einzuordnen. In der Opposition war es der Partei zuvor gelungen, sich als Vertreterin der arbeitenden Bevölkerung zu positionieren. In der Regierung aber wirkten ihre Entscheidungen und die Art, wie sie damit umging, so, als hätte sie diesen Anspruch verloren.
Labour konnte den Draht zu ihren Wählern daher leider nicht halten. Gleichzeitig ist die rechtsgerichtete Reform Party stark im Aufwind: Sie präsentiert sich als Außenseiterin ohne Altlasten und zieht damit Menschen an, die sowohl von den Konservativen als auch von Labour verprellt wurden. Für Labour ergibt das unterm Strich eine schwierige Situation. Die nächste Parlamentswahl ist aber wahrscheinlich erst in drei oder vier Jahren. Bis dahin kann sich viel ändern. Labour kann sich von diesen Rückschlägen erholen – aber nur, wenn die Partei jetzt klar den Kurs korrigiert.
Der Reform UK-Partei, die mittlerweile in den Umfragen vorne liegt, gelingt es, den Frust vieler Wählerinnen und Wähler aufzugreifen, die sich politisch vernachlässigt fühlen. Was versteht die Partei über die heutige Wählerschaft, was Labour – und große Teile der europäischen Mitte-links-Parteien – noch nicht kapiert hat?
Reform hat das Thema Einwanderung von Beginn an ins Zentrum gestellt. Viele Mitte-links-Parteien in Europa haben lange versucht, über Migration nicht zu sprechen, weil das Thema schnell für Verstimmungen sorgt. Reform macht genau das Gegenteil: Sie setzt das Thema an die erste Stelle und nutzt es dann als Sprungbrett, um ein breiteres Programm zu präsentieren – zur Wirtschaft, zur Reform von Institutionen sowie zu Kürzungen staatlicher Ausgaben. Sie zeigen sehr klar, dass sie mehr sind als nur eine Anti-Migrations-Partei.
Viele Mitte-links-Parteien in Europa haben lange versucht, über Migration nicht zu sprechen, weil das Thema schnell für Verstimmungen sorgt.
Die nächsten Jahre bieten Reform tatsächlich große Chancen. Im Mai 2026 stehen in Großbritannien wichtige Wahlen an. Sie sind so etwas wie unser Pendant zu den US-amerikanischen Midterms: Darunter sind Wahlen zum walisischen und zum schottischen Parlament. Reform will dort deutliche Zugewinne erzielen. Im Moment liegen sie tatsächlich landesweit vor den anderen großen Parteien, und sie werden versuchen, diese Umfragewerte endlich in Wahlerfolge umzusetzen. Gelingt ihnen dies, wird ihnen das noch mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Ihr Programm ist schlicht: gegen Einwanderung, gegen einen zu großen Staat, klar rechts. Irgendwann wird das sicherlich inhaltlich stärker hinterfragt werden. Aber im Moment dominiert bei vielen Menschen vor allem ein Gefühl: Sie wollen Veränderung. Und sie haben nicht das Gefühl, dass Labour ihnen diese bringt. Das Bedürfnis der Bevölkerung nach Wandel ist stärker als der Impuls, beim Altbekannten zu bleiben.
Lassen Sie uns über Großbritannien hinausblicken: Mitte-links-Parteien in ganz Europa – von der SPD in Deutschland bis zur niederländischen Labour Party – tun sich derzeit sehr schwer. Was ist Ihrer Ansicht nach die größte strategische Veränderung, die diese Parteien vornehmen müssen, um wieder stärker zu werden?
Das größte Problem ist, dass sich die Struktur ihrer Wählerschaft verändert hat. Sie ist zwar nicht verschwunden, sie hat aber ein anderes Gesicht bekommen. Diese Parteien sind aus einer sehr homogenen Arbeiterklasse entstanden: einer stark industriellen, überwiegend männlichen, älteren und wenig diversen Wählerschaft. Ich zeige in meinem Buch The New Working Class, dass die Arbeiterklasse sich gewandelt hat. Heute ist sie viel vielfältiger, jünger, weiblicher und stärker im Dienstleistungssektor beschäftigt. In Großbritannien ist sie außerdem viel stärker multiethnisch geworden. Der Verlust einer alten, einheitlichen Basis ist für sozialdemokratische Parteien ein großes Problem. Der Schlüssel liegt aber darin, wirklich zu verstehen, wer ihre neue Basis ist – und wie anders sie heute aussieht.
Natürlich unterscheidet sie sich von Land zu Land, je nach Wahlsystem und gesellschaftlicher Struktur. Aber im Großen und Ganzen haben die Menschen, die heute noch die linke Mitte wählen, eher niedrige bis mittlere Einkommen. Und sie sind eher jünger oder im mittleren Alter. In Großbritannien würde Labour vor allem auf die 35- bis 55-Jährigen schauen – Menschen, die in eine Lebensphase kommen, in der es finanziell enger wird, weil man über Kinderbetreuung nachdenkt oder darüber, ob man sich eine Immobilie leisten kann. Und genau in dieser Phase merkt man dann: Viele Dinge funktionieren einfach nicht so gut.
Wir brauchen also eine richtige Diagnose, nämlich diese strukturelle Klassenverschiebung. Man muss mit diesen Wählerinnen und Wählern über das sprechen, was sie wirklich denken, fühlen und sich wünschen. Und das meiste davon ist völlig vernünftig: einen ordentlichen Job in der Nähe, die Möglichkeit, nicht nur das Nötigste bezahlen zu können, sondern auch mal etwas zurückzulegen, vielleicht sogar in den Urlaub zu fahren. Es ist absolut verständlich, dass Menschen erwarten, dass Politik so etwas möglich macht. Aber aus ganz unterschiedlichen Gründen haben sich viele Mitte-links-Parteien von diesen Alltagsfragen entfernt. Zu diesen einfachen, sehr normalen Lebensrealitäten zurückzufinden – darum muss es in Zukunft gehen.
Wo sehen Sie gute Beispiele für Mitte-links-Parteien, denen es gelungen ist, sich auf die neue Arbeiterklasse einzustellen und politische Angebote zu machen, die bei den Wählerinnen und Wählern wirklich ankommen?
Ein Beispiel ist Australien. Die Labor Party dort hat gerade ihre zweite Wahl in Folge gewonnen. Sie achtet sehr darauf, dass ihre Politik ganz konkret und greifbar ist. Es geht um Dinge, die die Menschen in ihrem Alltag wirklich wiedererkennen. Sie haben verstanden, dass für die Leute vor allem die Energiekosten und die Gesundheitsversorgung wichtig sind. Deshalb haben sie die Entlastung bei den Energiekosten ins Zentrum ihres Wahlkampfs gestellt und angekündigt, einen schnellen Ausbau vergünstigter Solaranlagen voranzutreiben, damit die Stromrechnungen für die Haushalte runtergehen. Sie haben außerdem gemerkt, dass ihre Politik bezüglich ärztlicher Bereitschaftszentren gut ankommt. Also haben sie für die nächste Wahl einen weiteren Ausbau solcher Zentren in Aussicht gestellt. Kurz gesagt: Sie haben sich auf sehr alltägliche Sorgen konzentriert.
Es geht nicht darum, dass alle das dänische Modell kopieren sollen.
In Dänemark hat es bei den Sozialdemokraten eine intensive Auseinandersetzung gegeben, was das dänische Sozialmodell eigentlich ausmacht. Und auch wenn die dänische Migrationspolitik sicher nicht für jedes Land passt, ist es interessant, dass sie ihre Vorstellung von Staatsbürgerschaft eng damit verknüpft haben, was das für die Einwanderung bedeutet. Es geht nicht darum, dass alle das dänische Modell kopieren sollen. Aber sie haben erkannt, dass Einwanderung mit der Frage zusammenhängt, was diese Menschen beitragen und was es bedeutet, Bürger des Landes zu werden. Das sind, glaube ich, ziemlich grundlegende Beispiele dafür, wie Mitte-links-Parteien manche dieser Themen neu denken können.
Apropos Dänemark: Die britische Regierung plant jetzt eine umfassende Reform des Asylsystems, die stark am dänischen Modell orientiert ist. Halten Sie das für einen Schritt in die richtige Richtung?
Ich glaube, es ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil diese Reformen anerkennen, dass die aktuelle Situation unhaltbar ist – sowohl für die Menschen im Vereinigten Königreich als auch für die Migranten selbst, die dadurch in Gefahr gebracht werden. Der Vorschlag, die Zeitspanne für einen dauerhaften Aufenthaltsstatus von fünf auf 20 Jahre zu verlängern, soll Großbritannien für Menschen, die über irreguläre Wege kommen, weniger attraktiv machen und das System für die Steuerzahler fairer gestalten. Die Idee dahinter ist auch, dass sich Migrantinnen und Migranten, wenn sie ankommen, möglichst schnell selbst mittels Arbeit finanzieren.
Diese Reformen müssen Teil eines umfassenderen Ansatzes sein, um wieder Kontrolle über die Migration zu gewinnen. Und wichtig ist, wie gesagt, auch die Lehre aus Dänemark: Dort gingen die migrationspolitischen Reformen Hand in Hand mit einer grundsätzlichen Debatte darüber, was das dänische Sozialmodell eigentlich bedeutet. Mitte-links-Parteien in anderen Ländern können von den dänischen Reformen durchaus lernen, aber die konkrete Ausgestaltung wird natürlich überall anders aussehen, je nach Kultur, Geschichte und der spezifischen Situation in dem jeweiligen Land.
Kritiker sagen häufig, dass die Wählerinnen und Wähler am Ende lieber das „Original“ wählen, wenn Mitte-links-Parteien beim Thema Migration einen härteren Kurs einschlagen. Was antworten Sie denen, die glauben, dass eine strengere Migrationspolitik am Ende nur die Rechtspopulisten stärkt?
Mitte-links-Parteien müssen beim Thema Einwanderung als handlungsfähig und verantwortungsvoll wahrgenommen werden, denn für die Wählerinnen und Wähler ist das Thema ohnehin präsent. Wir entscheiden nicht, ob es auf der Agenda steht – es taucht von selbst auf. Das Thema zu ignorieren, ist einfach keine Option.
Wenn Einwanderung im Wahlkampf zum Top-Thema wird, ist das für Mitte-links-Parteien selten gut. Wegzuschauen oder zu hoffen, dass das Thema von allein verschwindet, bringt aber überhaupt nichts. Im Gegenteil: Wenn Politiker sich weigern, darüber zu sprechen, kann das die Spannungen zwischen Migranten und Nicht-Migranten sogar noch verstärken. Deshalb muss man sich dem Thema stellen.
Das Wichtigste ist, eine Politik zu entwickeln, die tatsächlich kompetent umgesetzt werden kann, sodass die Menschen sehen, das System ist fair und funktioniert. Es geht ja nicht darum zu sagen: „Keine Migration.“ Unsere Volkswirtschaften sind auf einen stetigen Zustrom an Arbeitskräften angewiesen. Aber wenn die Menschen das Gefühl haben, dass es keine Kontrolle an der Grenze gibt, sind sie schnell verunsichert. Das ist eine völlig verständliche Reaktion. Es lässt übrigens auch an der grundsätzlichen Kompetenz einer Regierung zweifeln, wenn sie nicht glaubwürdig vermitteln kann, wer ins Land kommt und wer nicht.
Statt mit harter Rhetorik zu versuchen, die Rechte zu überbieten, ist der bessere Ansatz jedoch, ein funktionierendes, gut verwaltetes Einwanderungssystem zu schaffen, das Vertrauen schafft. So nimmt man die Brisanz aus dem Thema – und genau das hat die australische Labor Party gemacht. Man muss das früh in der Legislatur anpacken und nicht in letzter Minute. Im Wahlkampf will man schließlich über Themen wie Wirtschaft und öffentliche Dienstleistungen reden, also über Bereiche, in denen Mitte-links-Parteien tatsächlich punkten können.
Mein Rat wäre daher: Die Tonlage beim Thema Migration herunterfahren, aber die eigene Handlungsfähigkeit deutlich erhöhen. Die Wählerinnen und Wähler müssen das Gefühl haben, dass die Regierung die Situation an den Grenzen im Griff hat.




