In letzter Minute hat sich in Katalonien eine neue Regionalregierung gebildet und Neuwahlen wurden verhindert. Wie kam dies zustande?

Ganz Spanien ist überrascht, dass diese Regierung buchstäblich in letzter Minute zustande kam. Möglich wurde dies dadurch, dass die früher führende katalanische Regionalpartei, die Con­ver­gen­cia Democrática de Cataluña (CDC), darauf verzichtete, ihren Führer Artur Mas wie­der in das Amt des Regie­rungspräsidenten zu heben, und dass acht Abgeordnete der links­radikalen Candi­datura de la Unidad Popular (CUP) für den CDC-Kompromisskandidaten Carles Puig­demont stimmten. Die CDC hatte es trotz eines Wahlbündnisses mit der zweiten großen Re­gionalpartei, der Repu­blikanischen Linken (ERC), in den Regionalwahlen vom 27. Sep­tem­ber nicht geschafft, die Mehr­heit der Parlamentssitze zu erringen. Sie war und ist von den zehn Sitzen und Stimmen der CUP abhän­gig. Dabei ist im Rahmen einer kapitalistischen Demokratie kaum ein Bündnis merkwür­di­ger als das zwischen CDC und CUP. Die CDC ist die politische Vertretung des katala­ni­schen Groß­bür­gertums und eng mit den Unternehmern verbunden. In ihrer Regierungszeit ließ sie So­zi­alleistungen ebenso brutal kürzen wie die Regierung Rajoy auf nationaler Ebene. Die CUP da­gegen will nicht nur Katalonien in die Unabhängigkeit führen, sondern die gesamten „katalanischen Lan­de“, zu denen auch ein Teil Südfrankreichs gehört. Und sie will Katalonien aus der EU, dem Euro und der NATO lö­sen. Beide Parteien eint einzig die Forderung nach der Unabhängigkeit.

Zunächst einmal haben die letzten Regionalwahlen gezeigt, dass es in Katalonien keine Mehrheit für die Un­abhängigkeit gibt.

Das wohl wichtigste Motiv der Regierungsbildung war auf der Seite der CDC wahrscheinlich die Angst vor Neuwahlen. In den nationalen Parlamentswahlen vom 20. Dezember halbierte sich die Zahl der von ihr in den Kongress entsandten Abgeordneten, und in regionalen Neuwahlen wäre ihr Ergebnis wohl deutlich schlechter gewesen als im September. Die CUP dagegen dürfte mit ihrer Stimmabgabe für Puigdemont ihre Selbstauflösung eingeleitet haben: Ihre Mitgliedschaft wird ihren Abgeordneten das Votum für eine CDC-Regierung kaum verzeihen.

Der neue Regierungschef gilt als noch vehementer in seiner Forderung nach einem unabhängigen Katalonien als sein Vorgänger Artur Mas. Was ist von ihm zu erwarten?

Carles Puigdemont ist außerhalb Kataloniens kaum bekannt. Allerdings gilt die Stadt Girona, de­­ren Bürgermeister er war, als Hochburg der Unabhängigkeitsbewegung. Er hat angekündigt, dass er der Politik von Artur Mas folgen will. Ich fürchte allerdings, dass Puigdemont nicht wie Artur Mas ein Opportunist ist, der sich durch die Instrumentalisierung der Unabhängigkeitsfrage an der Macht halten will, sondern ein wirklich „identitärer“ Katalane, mit dem auch kein Kom­pro­miss zu schließen ist.

Welche Chancen haben die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens?

Zunächst einmal haben die letzten Regionalwahlen gezeigt, dass es in Katalonien keine Mehrheit für die Un­abhängigkeit gibt. Die Parteien für die Unabhängigkeit haben nur 47 Prozent der Wäh­­lerstim­men gewonnen. Dass sie damit die Mehrheit der Parlamentssitze erringen konnten, liegt an einem Wahlsystem, das ländliche und kleinstädtische Wahlkreise begünstigt.

Die Mehrheit des katalanischen Parlaments hatte im November angekündigt, innerhalb von 18 Monaten die Grundlagen für die Unabhängigkeit zu schaffen, also Zentralbank, Steuerbehörden, Sozialversicherung usw.  Hierfür sollten mit Spanien und der EU Verhandlungen eröffnet werden. Es gibt für die spanische Zentralregierung aber keinen Grund für Verhandlungen, wenn die Unabhängigkeit Kataloniens schon vor diesen Verhandlungen feststeht, anstatt eines ihrer möglichen Ergebnisse zu sein. Sollte die Unabhängigkeit dagegen einseitig erklärt werden, wäre Katalonien automatisch nicht mehr Mitglied der EU. Der neue Staat würde nicht aus der EU und der Eurozone „hinausgeworfen“ werden, aber auf seinem Territorium würde keine EU-Politik – et­wa die gemeinsame Agrarpolitik – mehr realisiert werden. Katalonien müsste die Mitglied­schaft neu beantragen, und alle EU-Mitglieder – einschließlich Spaniens – müssten dem zustim­men. Den katalanischen Unternehmern ist klar, welches wirtschaftliche Risiko eine einseitige Er­klä­rung der Unab­hän­gigkeit mit sich brächte. 700 Unternehmen sollen Katalonien bereits ver­lassen haben.

Der große Nutznießer der katalanischen Unabhängigkeitspolitik wird die konservative Re­gie­rung des spanischen Zentralstaats unter Mariano Rajoy sein. Angesichts der Stimmenverteilung im spanischen Kongress gibt es zur Zeit keine Mehrheit für eine Regierungsbildung, so dass Neu­wahlen auch auf nationaler Ebene nicht ausgeschlossen sind. Rajoy könnte sich im nächsten Wahlkampf als der Retter des einigen Vaterlands profilieren – oder aber angesichts der Be­dro­hung der nationalen Einheit die sozialistische PSOE in eine große Koalition zwingen – was diese wohl nicht überleben würde.

 

Die Fragen stellte Hannes Alpen.