Dem Misstrauensvotum gegenüber Labour-Chef Jeremy Corbyn wurde von den Abgeordneten mehrheitlich stattgegeben - aber er will bleiben. Wohin wird das führen?
Die britische Labour-Partei steht nun vor der schwersten Krise ihrer Geschichte. Jeremy Corbyn hat das Vertrauen von mehr als achtzig Prozent der Labour-Fraktion verloren, aber behauptet, dass er ein Mandat von Parteimitgliedern im ganzen Land hat. Niemals zuvor in der politischen Geschichte Großbritanniens gelang es einem Parteivorsitzenden im Amt zu bleiben, wenn er die Unterstützung seiner Fraktionsmitglieder verloren hatten, vollkommen egal wie populär er zu diesem Zeitpunkt bei der Parteibasis war (man denke in diesem Kontext auch an Margaret Thatcher). Diese Situation stellt eine Sackgasse dar, die die Partei in eine Art Schockstarre verharren lässt: Corbyn verweigert den Rücktritt, während die Zahl der Austritte aus der „frontbench“ (der Name für die offiziellen Sprecher der Partei im Parlament) dazu geführt haben, dass Labour de facto keine funktionierende Opposition im Unterhaus darstellt. Ein Wettstreit um die Führung scheint unvermeidlich. Die Labour-Abgeordneten stehen dabei unter großem Druck zeitnah einen geeigneten Kandidaten aufzustellen, der Corbyn nicht nur herausfordern, sondern auch die notwendigen 50 Abgeordnetenstimmen hierfür generieren könnte. Zurzeit scheint es so, dass Angela Eagle die gesuchte Kandidatin sein könne. Eagle war im Schattenkabinett als Wirtschaftsministerin vorgesehen und konnte beeindrucken als sie Corbyn bei der Fragerunde an den Premierminister vertrat. Die Abgeordneten wollen eine Einheitskandidaten finden, der nicht nur die beste Chance gegen Corbyn hat, wenn es zu einer Abstimmung der Mitglieder kommt, sondern auch, wenn es zu einer vorgezogenen Neuwahl kommen sollte.
Es stellt sich die Frage, ob Corbyn überhaupt auf dem Stimmzettel für die Wahl des Parteivorsitzenden landen würde, denn dass er genügend Abgeordnete für eine Nominierung aufbringen könnte ist zurzeit unwahrscheinlich. Auch ist nicht sicher, ob er als amtierender Parteivorsitzender nicht automatisch auf den Stimmzettel gesetzt werden müsste. Die Regeln in diesem Fall scheinen unklar, sodass diese im Zweifelsfall vom Labour-Parteivorstand oder sogar von den Gerichten zu entscheiden werden müssten. Einige Abgeordnete fürchten nun einen Krieg mit den Mitgliedern, sollte Corbyn von der Wahl ausgeschlossen werden, andere sehen darin die einzige Chance ihn loszuwerden. Sollte Corbyn nicht in den nächsten Tagen zurücktreten, ist der Konflikt vorprogrammiert.
Corbyn wurde schon vor dem Referendum vom Parteiestablishment in Frage gestellt. Welche Probleme haben die Labour-Abgeordnete mit ihm?
Die Einwände gegen Corbyn gehen weit über das Parteiestablishment hinaus. Im Prinzip geht es um zwei Dinge: Seine Leistung und seine Politik. Zur Leistung: Selbst viele von denen, die Corbyns Wahl als frischen Wind in der Partei begrüßten oder ihm zumindest einen Vertrauensvorschuss entgegenbrachten, sind mittlerweile schockiert, wie wenig es ihm gelungen ist, die Herausforderung als Parteichef anzunehmen und auszufüllen. Seine Auftritte im Parlament sind schwach. Meist scheint er stärkeres Interesse daran zu haben, gegen innerparteiliche Widersacher vorzugehen, als politische Ansätze für das Land darzulegen. Und seine Umfragewerte bei den Wählern sind katastrophal. Das Fass zum Überlaufen gebracht hat seine Haltung zum Brexit Referendum. In der Kampagne war er apathisch und verhinderte eine Kooperation der Partei mit der Remain-Kampagne. Zuletzt kam dann noch raus, dass er trotz seines halbherzigen Plädoyers für Europa am Ende für den Brexit gestimmt haben könnte. Großbritanniens Rolle in Europa liegt fast allen Progressiven sehr am Herzen. Deswegen ist dies Verhalten ein Schlag ins Gesicht all derer, die ihm vertraut haben. Politisch ist Corbyn von jeher ganz links in der Partei verwurzelt gewesen. Aufgeregt hat aber viele, dass er davon besessen zu sein scheint, die Partei nach seinem Vorbild zu formen, anstatt sich dafür einzusetzen, alles für einen Wahlsieg zu tun und für eine Politik, die arbeitende Familien unterstützt.
Und doch hat Labour viele neue Mitglieder gewonnen, seitdem Corbyn die Führung übernommen hat. Wie könnte es gelingen, die Partei mit dieser neuen Basisbewegung zu versöhnen?
Das Problem ist die demografische Kluft zwischen denen, die gerade beigetreten sind, den traditionellen Labour-Wählern und den Wählern, die Labour von den Konservativen zurückgewinnen muss. Viele der traditionellen Labour-Wähler haben für den Brexit gestimmt und werden nun von UKIP umworben.
Das neue Wahlsystem für die Labour-Führung, in dem sich Menschen für drei Pfund als Unterstützer anmelden und die gleichen Stimmrechte erhalten wie Vollmitglieder, stammt aus der Vor-Internet Zeit. Niemand konnte damit rechnen, dass sich eine solch große Zahl von wohlhabenden „clicktivists“ anmelden würde. Diese Unterstützer von Corbyn stammen völlig überproportional aus London und den liberalen Universitätsstädten. Die Befürchtung ist nun, dass das, was diese Leute von einem Labour-Führer erwarten, nicht das ist, was die Wähler von Labour erwarten. Die Abgeordneten sind davon überzeugt, besser zu wissen, was die Wähler wollen.
Viele Leute in Labour sind dabei auch frustriert, dass die neuen Mitglieder zwar gerne Corbyn-Posts auf Facebook mit „Gefällt mir“ markieren, aber keinerlei Interesse daran haben, an Türen zu Klopfen und im Gespräch Wählern zurückzugewinnen, die für Labour verloren zu sein scheinen.
Was bedeutet dieser Konflikt innerhalb der Labour-Partei im Hinblick auf mögliche Neuwahlen in Großbritannien?
Die Möglichkeit von Neuwahlen hat die Abgeordneten zum Handeln gebracht. Zwar sind Neuwahlen bislang nur eine Möglichkeit aber die Umfragen und das katastrophale Abschneiden des Remain-Lagers in Labours Kernländern deuten darauf hin, dass die Partei unter Corbyn die Hälfte ihrer Abgeordneten verlieren könnte, wenn es im Herbst zu vorgezogenen Wahlen kommen würde. Diese drastische Aussicht wird nicht nur Labour Mitglieder beschäftigen, sondern auch jeden Herausforderer – sofern es eine Kampfabstimmung um den Labour-Vorsitz gibt.
Die Fragen stellte Hannes Alpen.





8 Leserbriefe
Die Tories liegen am Boden und müssten für den Austritt aus der EU werben.
Labour könnte sich für den Verbleib aussprechen und gleichzeitig ein soziales Europa und ein Ende des Merkel-/Junkereuropa fordern.
Selbst die Wirtschaft würde Labour unterstützen müssen, da sie einen Verbleib in der EU will..
Welch eine verrückte und doch erfolgversprechende Konstellation und am Ende könnte tatsächlich ein soziales Europa der Bürger und nicht des Kapitals stehen.
Vielleicht bemerkt das Labour Establishment ja noch rechtzeitig, dass Labour die einzige Partei weltweit ist, deren Führer die Mitgliederzahl von 200,000 auf 400.000 verdoppelt hat und beginnt mit einer Kooperation mit diesem interessanten, neuen Liebling der Bürger.
wie Corbyn sie ja auf seinen Veranstaltungen immer wieder ausführt. Bei einer Neuwahl des Parteivorsitzes ist m. E. der Vorsitzende, wenn er nicht zurücktritt, gesetzt. Der Herausforderer müsste sich Unterstützer suchen. Nach der Kampfsbstimmung über den Parteivorsitz wird es wieder zu einer sozial und demokratischen Politik unter Corbyn kommen.
Die deutsche Sozaldemokratie sollte sich ein Beispiel an Corbyn nehmen.
Allein in den USA mehr als 70% (Trump- plus Corbynwähler).
In anderen Ländern erstarken neue, nationalistische Kräfte.
Woran liegt das denn wohl ?
Könnte es sein, dass unter der Propaganda von der "Wettbewerbsfähigkeit" immer mehr Bürger in prekären Arbeitsverhältnissen landen, immer mehr Rentner und Junge merken, dass sie im Alter als Bettler auf den Stufen des Sozialamtes enden werden und dass Chancengleichheit immer mehr zu einem hohlen Geschwätz geworden ist?
Hoffnungslosigkeit ist in immer weiteren Kreisen der Bevölkerung weltweit eingetreten.
Die Zeit der Rattenfänger kommt, wenn das Establisment nicht bald merkt, dass Politiker wie Bernie Sanders und Corbyn wieder Hoffnung geben
Ich wünsche mir, dass derartige Think Tanks nicht nur politische Lobby-Arbeit für die herrschenden Machtkartelle betreiben, sondern auch den von diesen ausgelösten gesellschaftlichen Krisen auf den Grund gehen. Das hieße freilich auch, die eigene Rolle hierbei zu reflektieren.
Hinzukommt bei Corbyn seine schwache Figur im Referendumswahlkampf.