Die Fragen stellte Philipp Kauppert.
Sie sprachen zu Beginn des Krieges in Gaza von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was hat Ihre Einschätzung geändert? Warum sprechen Sie jetzt von Genozid?
Ich habe meine Einschätzung im Mai 2024 geändert. Ich habe das in einem Artikel beschrieben, der im August im Guardian veröffentlicht wurde. Nach dem 7. Oktober gab es zwei Arten von Äußerungen aus Israel. Einerseits eine ganze Reihe von Aussagen von Politikern und Militärs, die klar auf einen genozidalen Vorsatz hindeuteten. Sie sprachen davon, Gaza zu „plätten“, zu zerstören, den Menschen Wasser, Nahrung und Strom zu entziehen. Sie bezeichneten die Palästinenser als „menschliche Tiere“. Solche Aussagen, von Personen in exekutiven Positionen, kann man nicht nur als genozidal deuten, sondern auch als Aufruf an die Truppen.
Andererseits erklärte Israel offiziell, die Kriegsziele seien die Befreiung der Geiseln und die Zerschlagung der Hamas. Das schien zunächst plausibel. Deshalb sprach ich im November – als bereits rund 10 000 Menschen in Gaza getötet worden waren – von Kriegsverbrechen und, angesichts der Zahl ziviler Opfer, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich warnte jedoch, dass sich die Lage zu einem Genozid entwickeln könnte, wenn sie nicht gestoppt werde. Im Mai 2024, als die israelischen Streitkräfte in Rafah einrückten und rund eine Million Menschen – also etwa die Hälfte der Bevölkerung Gazas – in das Küstengebiet von Al-Mawasi vertrieben, das keinerlei humanitäre Infrastruktur hatte, und Rafah anschließend zerstörten, war für mich klar: Die Armee verfolgte nicht mehr die offiziellen Kriegsziele. Sie handelte stattdessen im Einklang mit den früheren, radikalen Aussagen, die Gaza unbewohnbar machen wollten.
Wer heute immer noch leugnet, was sich dort abspielt, verweigert schlicht die Realität.
Das war der Punkt, an dem mir klar wurde: Es handelt sich nicht mehr um Kollateralschäden oder Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben – sondern um gezieltes Handeln. Wie wir inzwischen wissen, gab es eine bewusste Zerstörung des Gesundheitssystems. Etwa 90 Prozent der Schulen wurden zerstört, ebenso Universitäten, Museen. Es wurde deutlich: Diese Aussagen, die zunächst wie rhetorische Entgleisungen wirkten, wurden tatsächlich in die Tat umgesetzt. Seitdem ist das Ausmaß noch drastischer geworden. Wer heute immer noch leugnet, was sich dort abspielt, verweigert schlicht die Realität.
Nun kündigte der Premierminister erneut an, ganz Gaza einnehmen zu wollen. Wieder ein Politikwechsel. Seine neue Formel lautet „Alles für alles“ – aber das hat nichts mehr mit dem Vorschlag der Hamas vom Mai 2024 zu tun, der einen Austausch aller Geiseln gegen Gefangene und ein Ende des Krieges vorsah. Was Netanjahu jetzt meint, ist die vollständige Kontrolle – auch wenn das den Tod der restlichen Geiseln bedeutet – und die weitere Konzentration der Bevölkerung in 25 Prozent des Gebiets. Laut Verteidigungsminister Katz scheint das Ziel zu sein, ein riesiges Lager über den Trümmern von Rafah zu errichten, in dem zunächst über eine halbe Million Menschen eingesperrt werden. Die Menschen sollen entweder dortbleiben oder Gaza ganz verlassen. Das ist die Logik des Geschehens. Mein Meinungsartikel dazu in der New York Times erschien Mitte Juli, ich hatte die erste Fassung schon im Mai geschrieben. Mittlerweile sind diese Analysen endlich auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen.
Hat die jüngste Ankündigung des Premierministers Ihre Einschätzung nochmal verändert?
Meine Einschätzung stand bereits fest. Aber das, was derzeit geschieht, ist außergewöhnlich. Man muss verstehen: Was Israel in Gaza tut, hat direkte Auswirkungen auf das, was in Israel selbst passiert. Die genozidale Kampagne in Gaza geht mit dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Israel einher. Die Generalstaatsanwältin wurde illegal von der Regierung entlassen. Israel steckt in einer Verfassungskrise. Der Oberste Gerichtshof ist geschwächt. Weder das Gericht noch die Generalstaatsanwältin haben sich zur Lage in Gaza geäußert – selbst zur Hungersnot nicht. Dabei sollen sie eigentlich die letzten Hüter von Grundrechten sein. Selbst die Armee will Netanjahus Kurs nicht mehr mittragen. Nicht etwa, weil sie besonders humanitär agieren würde – sondern weil sie weiterhin versucht, das Leben der verbliebenen 20 Geiseln zu schützen, und weil ihr schlicht das Personal fehlt, um diese Politik umzusetzen.
Der Generalstabschef will keine weiteren Reservisten einziehen. Die Truppen sind erschöpft. Es gibt viele Verluste, auch durch Übermüdung, Fehler, Disziplinlosigkeit. Die Zahl der Suizide nimmt zu. Dieser Generalstabschef wurde eingesetzt, weil man sich von ihm ein „kämpferischeres“ Vorgehen erhoffte als vom Vorgänger. Jetzt werden noch extremere Figuren ins Spiel gebracht – etwa David Zini, der als neuer Chef des Inlandsgeheimdienstes gehandelt wird. Es herrscht also auch in Israel ein interner Ausnahmezustand. Und wir sehen: Die genozidale Politik in Gaza geht einher mit einem exekutiven Machtanspruch im Innern. Das eine kaschiert das andere.
Kommen wir zurück zur juristischen Dimension. Im Zentrum der Definition von Genozid steht die Absicht zur Zerstörung. Wie lässt sich diese Absicht beweisen? Andere sagen: Das sei nur Rhetorik oder Taktik gegen Hamas. Wie sehen Sie das?
Dieses Argument ist absurd. Natürlich ist es schwierig, eine genozidale Absicht nachzuweisen. Man braucht zwei Dinge: Entweder explizite Aussagen oder ein deutliches Operationsmuster. Die meisten Regierungen, die Genozid begehen, sagen nicht: „Wir führen einen Genozid durch.“ Sie sagen: „Es gibt eine Sicherheitsbedrohung“, „das sind Feinde“, „wir müssen uns verteidigen“. Sie verwenden beschönigende Begriffe – insbesondere das Wort „Krieg“. Aber spätestens seit Mai 2024 gibt es in Gaza keinen Krieg mehr. Der Begriff „Krieg“ ist selbst ein Euphemismus – genau wie die „humanitäre Stadt“ in Rafah, die in Wirklichkeit ein Konzentrationslager ist. Die israelische Armee zerstört Gaza systematisch – Tag für Tag. Häuser werden mit schwerem Gerät abgerissen, beauftragt und bezahlt von israelischen Firmen.
Im Fall Israels gibt es sowohl Aussagen als auch Handlungsmuster. Netanjahu sagt auf Englisch, man kämpfe nur gegen die Hamas. Auf Hebräisch spricht er davon, Gaza zu vernichten – er zitiert biblische Vernichtungsbefehle, etwa über Amalek. Die Absicht ist nicht schwer zu erkennen. Und das Operationsmuster bestätigt sie. Wenn man heute nach Gaza blickt, sieht man Bulldozer, die leere Häuser zerstören – dort ist keine Hamas, keine „menschlichen Schutzschilde“. Es geht nur noch um Abriss, Woche für Woche. Über 70 Prozent der Gebäude wurden zerstört.
Gegner dieses Vorwurfs sagen: Israel hatte keine andere Wahl. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober musste man reagieren. Was entgegnen Sie dem?
Selbst wenn man den Hamas-Angriff als genozidal bezeichnen möchte, weil man sich etwa auf die Charta der 1980er Jahre bezieht: Genozid ist nie legitim. Auch nicht als Reaktion auf einen anderen Genozid. Die Hamas hat keine Mittel, einen Völkermord an Israel zu begehen. Keine Panzer, keine Luftwaffe, keine Marine. Selbst wenn man ihnen unterstellt, das sei ihre Absicht – es rechtfertigt nichts. Alle Regime, die einen Genozid verübt haben – das Deutsche Reich in Südwestafrika, das Osmanische Reich, die Nationalsozialisten –, haben sich selbst als Opfer dargestellt, als Verteidiger gegen eine Bedrohung. Das ist immer das gleiche Narrativ. Aber Genozid bleibt ein Verbrechen – unabhängig vom Auslöser.
Lassen Sie uns auch noch über die Rolle Europas sprechen – vor allem Deutschlands. Wie beurteilen Sie die spezielle Verantwortung der Bundesregierung?
Deutschland und die USA sind tief in das Geschehen verstrickt. Sie liefern Waffen und geben diplomatische Rückendeckung. Die EU ist Israels wichtigster Handelspartner. Deutschland hat angekündigt, Israel vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Südafrika zu verteidigen. Ich verstehe, dass Deutschland aus historischen Gründen zögert, Israel zu kritisieren. Ich verstehe die Schwierigkeit, das Wort „Genozid“ zu verwenden. Aber was ich nicht verstehe, ist, dass aus dem Vorsatz, Israel zu schützen – wie Angela Merkel es formulierte – ein Freifahrtschein wird. Auch dann, wenn Israel gegen internationales Recht verstößt.
Deutschlands erste Verpflichtung muss dem Völkerrecht gelten.
Deutschlands erste Verpflichtung muss dem Völkerrecht gelten. Das ist die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese gesamte Architektur des Rechts wurde als Reaktion auf die NS-Verbrechen geschaffen. Wenn Deutschland Israel unterstützen will, dann sollte es das demokratische, rechtsstaatliche, menschenrechtsorientierte Israel unterstützen. Nicht das Israel, das von jüdischen Suprematisten, Rassisten und Gewalttätern regiert wird, die nicht nur die palästinensische Bevölkerung unterdrücken, sondern auch die jüdische Opposition im eigenen Land. Deutschland könnte sagen: Wir haben eine Erfahrung gemacht. Wir wissen, wie man nach einer nationalen Katastrophe weitermacht – konstruktiv, nicht destruktiv. Aber stattdessen verharrt es in einem Zustand der Verdrängung.
Zum Abschluss: Warum ist die Debatte über Genozid überhaupt wichtig? Manche sagen, das sei eine rein theoretische Frage und helfe den Menschen in Gaza nicht.
Natürlich wird der Begriff oft als moralischer Aufschrei benutzt. Aber es gibt eine klare juristische Definition – und sie hat konkrete Folgen. Erstens: Die Genozidkonvention verpflichtet Staaten, Genozide zu verhindern, zu stoppen und zu bestrafen. Deshalb vermied es die US-Regierung, den Völkermord in Ruanda so zu benennen – weil daraus Handlungsdruck entstanden wäre.
Zweitens: Genozid ist ein soziales Verbrechen. Es betrifft nicht nur einzelne Täter. Es erfasst die gesamte Gesellschaft: Medien, Justiz, Medizin, Wissenschaft. In Israel machen die Medien freiwillig mit. Die Hochschulen schweigen. Das ist Teil des Problems. Drittens: Wenn es keine Rechenschaft gibt, gibt es auch keine Abschreckung. Straflosigkeit bedeutet Wiederholung. Genozid als solchen anzuerkennen, ist ein bedeutender Schritt – für die Opfer, aber auch für die Tätergesellschaft. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollten wir auch sehr ernst nehmen, aber Völkermord hat nochmal eine ganz andere Dimension.




