Das Interview führte Sergio Lirio.
Ist die Welt dabei, sich in zwei Blöcke zu spalten, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, oder bleibt noch Zeit, die Idee der multipolaren Geopolitik wieder aufleben zu lassen?
Diese Einteilungen sind immer willkürlich. Die Welt war auch im Kalten Krieg nie rein bipolar. Es gab zum Beispiel den chinesisch-sowjetischen Konflikt und im Westen suchte Charles de Gaulle eine größere Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Im Rahmen solcher Vereinfachungen sind wir also noch immer in einer multipolaren Welt unterwegs, die allerdings bipolare Elemente aufweist, denn in wirtschaftlicher Hinsicht sind die USA und China die beiden Hauptpole, auch wenn die Europäische Union einen großen Stellenwert besitzt. In militärischer Hinsicht fällt die EU weniger ins Gewicht und die Bedeutung Russlands ist wesentlich größer. Wenn wir also von einer multipolaren Welt sprechen, dann ist dies teils eine Feststellung, teils ein Wunsch. Es gibt keine absoluten Tatsachen.
Lateinamerika muss sich stärker zusammenschließen. Die Region durchläuft derzeit einen großen Wandel: Chile, Kolumbien, Argentinien trotz seiner Krise, Mexiko mit einer viel unabhängigeren Politik und Bolivien, das wieder ein Entwicklungsmodell hat. Ohne übertriebenen Patriotismus kann man jedoch sagen, dass Brasilien das Land ist, welches den Unterschied macht. Wie mein Freund Paulo Nogueira Batista Jr. stets betont, sind wir eine der wenigen Nationen, die auf allen Top-Ten-Listen zu finden sind: die zehn größten Staatsgebiete, die zehn bevölkerungsreichsten Länder, die zehn stärksten Volkswirtschaften – Letzteres vielleicht nicht derzeit, aber wir werden es wieder sein. Das allein bringt schon einen großen Einfluss auf dem Subkontinent mit sich, von unserer historischen Beziehung zu Afrika ganz zu schweigen, die uns eine enorme Mobilisierungsfähigkeit verleiht. Brasiliens Entscheidung, sich für eine stärkere süd- und lateinamerikanische Integration einzusetzen wie unter der Regierung Lula, und hoffentlich auch wieder in Zukunft, hat maßgeblich zur Multipolarität beigetragen. Das Land war ein Vorreiter: Es hat die Gründung der BRICS und der IBAS (Indien, Brasilien, Südafrika) unterstützt. Heute ist mitunter von einer neuen Konstellation die Rede unter der Einbeziehung von Indonesien und Argentinien. Brasilien muss auf jeden Fall präsent sein. Mexiko hat derzeit eine extrem mutige Regierung, aber ihr Spielraum ist natürlich wegen der räumlichen Nähe zu den Vereinigten Staaten eingeschränkt. Die Multipolarität ist gleichzeitig eine Tendenz und ebenso ein Ziel.
Wie könnten sich Brasilien und Lateinamerika angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China neu positionieren? Zur Erinnerung, Außenminister Ernesto Araújo schlug unter der Regierung Bolsonaro eine „christliche Achse“ zur Bekämpfung der chinesischen Expansion vor. Auf jeden Fall nimmt dieser Konflikt neue Dimensionen an und ist nicht derselbe wie vor 15 Jahren, als Sie noch unter der Regierung Lula im Außenministerium waren.
Zunächst kann man nicht wirklich in Betracht ziehen, was unter der Bolsonaro-Regierung passiert ist. Es war, als wäre Brasilien betrunken gewesen, es gab keine Richtung, nichts war vorhersehbar. Mit Ernesto Araújo wollte das Land ein „Paria“ sein und hat dies erreicht. Brasilien wird gemieden, selbst von den Mitte-rechts-Regierungen der Welt, und seine Gesellschaft wird nicht mehr geschätzt. Wir hoffen und vertrauen weiter darauf, dass wir zur Normalität zurückkehren werden. Als ich Außenminister war, habe ich unter der Leitung von Präsident Lula eine aktive und selbstbewusste Politik verteidigt und praktiziert. Vorherige Regierungen hatten bereits die Verfassungsgrundsätze der Unabhängigkeit, der Selbstbestimmung der Völker, der Menschenrechte, der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten vertreten, aber wir taten dies mit Nachdruck. Ich bin mir sicher, dass wir diese Haltung zurückgewinnen werden, falls Präsident Lula mit Geraldo Alckmin als Stellvertreter wieder die Regierung übernimmt. Ich kann mir die Wiederwahl Bolsonaros nur schwer vorstellen. Es wäre für mich das Ende Brasiliens, so wie ich es kenne.
Brasilien kann sich nicht für die eine oder die andere Seite entscheiden.
Aber zurück zum Kern der Frage. Es wird nicht einfach, die Welt hat sich stark verändert. Offensichtlich existierte schon zu jener Zeit eine Rivalität zwischen den USA, Russland und China, aber sie trat nicht so klar zutage, die nordamerikanische Hegemonie war sehr stark. Brasilien – und das gilt ebenso für unsere Partner in Süd- und Lateinamerika – kann keine Wahl treffen, es kann sich nicht für die eine oder die andere Seite entscheiden. Dies ist untrennbar mit der stärkeren regionalen Integration verbunden, die in zwei verschiedenen Geschwindigkeiten verläuft, da in einem bestimmten geographischen Kontext manches möglich ist, manches nicht. In Bereichen wie Gesundheit, Zusammenarbeit im Weltraum, Wissenschaft und Technologie bestehen für eine breit aufgestellte Zusammenarbeit zwischen den Ländern Lateinamerikas und der Karibik keine Hindernisse. In Verteidigungsfragen ist sie nicht unmöglich, aber schwierig, angesichts der geographischen Nähe einiger Länder zu den USA. Selbst wenn sie eine unterschiedliche Geschwindigkeit hat, wird Lateinamerika mit einer stärkeren Integration die Voraussetzung für unabhängiges Handeln schaffen.
Vor kurzen äußerte der ehemalige Präsident Lula auf einer Veranstaltung des Industrieverbands des Bundesstaats São Paulo, er sei erschrocken über die Invasion chinesischer Produkte auf dem brasilianischen Markt. China ist ein wichtiger Partner für Brasilien und Südamerika, aber die aktuellen Bedingungen scheinen für die Länder unserer Region ungünstig zu sein. Wie kann man diese Beziehung verändern?
Die Schuld liegt bei uns, nicht bei den Chinesen. Denn wir haben es, mit Ausnahme einiger kurzer Episoden, über Jahrzehnte hinweg versäumt, eine moderne Industrie- und Technologiepolitik zu entwickeln. Gerade Brasilien hat eine große Verantwortung und enorme Möglichkeiten, gar einen Trumpf, wenn es um die nachhaltige Entwicklung geht. Die Nutzung unserer Biodiversität, die Tatsache, dass unser Energiemix weniger umweltschädlich ist …
Wenn China sich nicht ausbreiten würde, dann würden es die Vereinigten Staaten tun.
Wenn China sich nicht ausbreiten würde, dann würden es die Vereinigten Staaten tun. Ich sage erneut: Wir müssen die Einheit Südamerikas stärken. Es kann nicht jedes Land für sich verhandeln, das Augenmerk nur auf die unmittelbaren Vorteile gerichtet, ohne Blick auf die Nachteile für alle anderen. Die Chinesen müssen schrittweise verstehen, dass bloße Handelsströme nicht ausreichen. Sie müssen zur technologischen Entwicklung der Partner beitragen. Und selber tun, was China für den Marktzugang verlangt: Investitionen mit Partnerschaften. China muss zu einer ausgewogeneren technologischen Entwicklung des Planeten beitragen. Unser Weg muss darin bestehen, viele kluge Köpfe aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenzubringen, um öffentliche Politik zu gestalten. Die Regierung Bolsonaro hat Wissenschaft und Technologie auf ein Minimum reduziert, von der höheren Bildung ganz zu schweigen. Wir werden deswegen unsere Anstrengungen verdoppeln müssen.
Haben Sie mehr von der Regierung Biden erwartet, insbesondere was die Außenpolitik angeht?
Wir sind immer optimistischer, als die Realität tatsächlich ist. In Bezug auf Lateinamerika hatte ich zumindest mit einer Rückkehr zur Politik der Obama-Regierung gerechnet, die Beziehungen zu Kuba unterhielt und kein Veto gegen die Teilnahme des Inselstaats am Amerika-Gipfel einlegte, sondern mit der Union Südamerikanischer Nationen (Unasul) im Dialog stand. Während die brasilianische Rechte die Unasul als „bolivarisch“ bezeichnete, bat Obama um Treffen mit dieser Staatengruppe. In diesem Punkt wurde ich enttäuscht. Ebenso wenig bin ich mit der Teilung der Welt in Autokratien und Demokratien einverstanden. Es wäre gut, wenn man die Dinge etwas rationaler, pragmatischer betrachten würde, im steten Bemühen, die Menschenrechte zu stärken, aber nicht indem man etwas aufzwingt, sondern durch Überzeugungsarbeit. Andererseits ist die Aufnahme des Dialogs mit Venezuela im Vergleich zur Trump-Administration ein Fortschritt. Und es war sehr wichtig, das muss stets anerkannt werden – auch wenn man einwenden könnte, das sei ja das Mindeste, aber selbst das Minimum wird nicht immer gewährt –, dass die Vereinigten Staaten uneingeschränkt die Achtung des Wahlprozesses in Brasilien verteidigt haben. Unter der Trump-Administration hat das Weiße Haus den Staatsstreich in Bolivien gefördert und Venezuela gedroht.
Bolsonaros Wirtschaftsminister Paulo Guedes sagte, die Europäische Union „zähle nicht mehr“ und der Weg bestehe darin, engere Beziehungen zu China zu knüpfen. Zählt Europa noch?
Definitiv. Ich halte es für wichtig, ausgeglichene Beziehungen anzustreben. Weder Brasilien noch Südamerika können sich einfach aus der Umarmung der Vereinigten Staaten lösen, um direkt in die Arme Chinas zu fallen. Europa hat im multipolaren Spiel nicht nur politisch gesehen eine große Bedeutung, sondern auch wirtschaftlich. Daher darf das Abkommen Mercosur-Europäische Union nicht einfach verworfen werden, sondern muss überarbeitet und verbessert werden. Viele Europäerinnen wünschen sich ein Umdenken beim Klimaschutz. Das sollten wir uns zunutze machen und Änderungen jener Punkte vorschlagen, die die Industrie- und Technologiepolitik behandeln.
In welchen Punkten muss das Abkommen Mercosur-Europäische Union abgeändert werden?
Es wäre gut, zunächst innezuhalten und erstmal nachzudenken: Was wollen wir mit diesem Abkommen erreichen? Man kann nicht im Interesse aller weitere Anstrengungen im Kampf gegen die Erderwärmung fordern und gleichzeitig technologische Entwicklungen und die Schaffung eines zwischenstaatlichen Beschaffungssystems verhindern, welches lokale Industrien und insbesondere den Ausbau endogener oder angepasster Technologien fördert. Es existiert kein Land, das nicht über das öffentliche Beschaffungswesen Industriepolitik betreibt, es sei denn, es wird wie in Ostasien auf verwerfliche Praktiken zurückgegriffen: die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte, die keinerlei Rechte haben. Wir wollen die Arbeits- und Umweltstandards einhalten, aber dafür benötigt es Forschung und Entwicklung und vor allem die Befähigung zur lokalen Entwicklung. Brasiliens Deindustrialisierung war eine der schnellsten und perversesten, da sie gute Arbeitsplätze schlicht vernichtete. Anders sah es beispielsweise in Großbritannien aus, wo sich einfach das Stellenangebot verschob, weg vom Industriesektor zu anderen Bereichen mit höheren Löhnen, wie zum Beispiel der Hochtechnologie. In Brasilien herrschen prekäre Arbeitsverhältnisse. Nichtsdestotrotz denke ich, dass es besser ist, bedacht vorzugehen, nichts zu überstürzen. Das gilt erst recht für den Beitritt zur OECD. Wenn ich eines am Verhandlungstisch gelernt habe, dann Folgendes: Eile ist ein schlechter Berater. Es ist wie beim Torwart, der sich vor dem Schuss bewegt. Vielleicht hält er den Ball, aber seine Chancen stehen deutlich schlechter.
Eine längere Version des Interviews auf Portugiesisch finden Sie auf der Webseite der FES Brasilien.
Aus dem Portugiesischen von Stephan Wirtz