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Interview von Joanna Itzek
Die EU hat eine neue Strategie für Zentralasien vorgestellt. Die erste wurde 2007 eingeführt und 2015 überarbeitet. Wo sehen Sie Verbesserungen?
Unsere neue Strategie ist auf zwei wichtige Prioritäten ausgerichtet: Erstens wollen wir die Fähigkeit der zentralasiatischen Staaten und Gesellschaften stärken, interne und externe Schocks zu überwinden und Reformen durchzuführen. Dies sollte dann in eine engere Zusammenarbeit bei den Themen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit münden. Dazu gehört ferner eine engere Kooperation in Sicherheitsfragen – etwa beim Kampf gegen Radikalisierung und Terrorismus, aber auch in den Bereichen hybride Bedrohung und Cyber-Sicherheit. Außerdem wollen wir mit den Ländern der Region zusammenarbeiten, um ökologische Herausforderungen in Möglichkeiten zu verwandeln.
Zweitens möchten wir unsere Zusammenarbeit verstärken, um die wirtschaftliche Modernisierung zu unterstützen. Es gibt vieles, was die EU tun kann, um in der Region die Entwicklung eines stärkeren und wettbewerbsfähigeren privaten Sektors zu fördern. Außerdem geht es darum, das Investitionsklima zu verbessern. Dabei setzt sich die EU weiterhin für den Beitritt zentralasiatischer Länder zur WTO ein.
Wo liegen die Interessen der EU in Zenatralasien?
Zentralasien war für Europa schon immer wichtig: aufgrund seiner Geschichte, seiner Kultur und seiner Rolle für die Verbindung zwischen Ost und West. Heute erhält die Region ihre historische Rolle als Tor zwischen Europa und Asien zurück.
Zentralasien ist ein junger und wachsender Markt mit unerschlossenem Potenzial für Handel und Transport, aber auch ein wichtiger Baustein für die Sicherheit unserer Energieversorgung. So hat die EU ein starkes Interesse daran, dass sich die Region zu einem friedlichen, widerstandsfähigen und stärker miteinander verbundenen ökonomischen und politischen Raum entwickelt.
Auch was die Sicherheit betrifft, ist Zentralasien für die EU von entscheidender Bedeutung. Da die Region an Afghanistan grenzt, haben ihre Länder viele Probleme gemeinsam – von illegalem Drogenschmuggel und ungeregelter Migration bis hin zu der Bedrohung durch gewalttätigen Extremismus und Terrorismus. Angesichts dieser Herausforderungen sitzen wir alle im selben Boot. Insofern ist Zentralasien für die EU sogar ein noch engerer Nachbar, als es den Anschein hat: Erlebt diese Region eine entscheidende Sicherheitskrise, werden die Länder der EU zu den ersten gehören, die die Folgen tragen müssen.
Neben dem Brexit und Konflikten innerhalb Europas bindet auch das angeschlagene transatlantische Verhältnis derzeit den Fokus der EU. Wie viel Aufmerksamkeit kann Zentralasien in den kommenden Jahren überhaupt erwarten?
Ich glaube, unsere Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen haben mir bei der Beantwortung dieser Frage bereits dadurch geholfen, dass sie die neue europäische Strategie gegenüber Zentralasien tatsächlich umsetzen. Dadurch bekräftigt die EU ihre langfristige Verpflichtung für die Sicherheit und die Stabilität in der Region.
Auch wage ich zu behaupten, dass die EU bereits im letzten Vierteljahrhundert zur nachhaltigen Entwicklung der Region beigetragen hat. So konnten die Länder Zentralasiens stabil bleiben und ihr Staatswesen, ihre Identität und ihre Souveränität stärken. Angesichts der Probleme in der Region muss diese Unterstützung auch in absehbarer Zukunft fortgesetzt werden. Es liegt in unserem Interesse, Zentralasien im Auge zu behalten und dazu beizutragen, die Widerstandskraft der Region zu stärken. Ich glaube, unsere bescheidenen Investitionen in die Fähigkeiten und die Ausbildung der Menschen, in die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und Verwaltung können die Bedingungen schaffen, um das Potenzial der Region zu verwirklichen – und zu verhindern, dass sich negative Tendenzen in große Stabilitätsrisiken verwandeln.
Schauen wir uns die jüngste Vergangenheit an, als die EU-Mitgliedstaaten vor sieben Jahren die Haushaltszuweisungen für das zentralasiatische mehrjährige Initiativprogramm (MIP) für 2014 bis 2020 festlegten: Dabei erkennt man, dass die EU die Finanzierung zur Umsetzung verschiedener regionaler und bilateraler Projekte in Zentralasien um über 50 Prozent steigern konnte. Ich sehe dies als ein klares Zeichen für ein strategisches Interesse an der Region.
Mit Russland und China sind in der Region zwei geopolitische Schwergewichte präsent. Wie wird im Vergleich zu ihnen die EU als Akteur vor Ort wahrgenommen?
Einer der Gründe, warum die zentralasiatischen Länder eine engere Partnerschaft mit der EU anstreben, besteht in ihrem natürlichen Interesse, ihre Wahlmöglichkeiten und Optionen zu diversifizieren. In der Nachbarschaft derart großer politischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Akteure wie China und Russland betrachten unsere zentralasiatischen Partner die EU als ausgleichendes Gegengewicht im regionalen Kräfteverhältnis. Wir wollen eine stärkere und moderne Partnerschaft mit der Region eingehen, die niemanden ausschließt und nicht auf Wettbewerb und Rivalität beruht, sondern auf Zusammenarbeit und Verbundenheit.
Diese Partnerschaft ist nicht gegen jemand anderen gerichtet. Die Zentralasiaten schätzen unsere Fähigkeit, uns auf nicht-exklusiver Grundlage zu engagieren, ohne eine Entscheidung für eine bestimmte Seite zu erzwingen. Die EU beabsichtigt nicht, an einem „großen Schachbrett“ ein „großes Spiel“ zu spielen. Stattdessen möchte sie für die Region ein verlässlicher und engagierter Partner sein.
Wir sind gegenüber jedem, also auch China und Russland, offen für Zusammenarbeit und Synergien. Dieser Prozess muss allerdings sehr transparent stattfinden und das Eigentum und die Souveränität der zentralasiatischen Staaten vollständig respektieren.
Die zunehmende einseitige Verschuldung von Ländern wie Kirgisistan und Tadschikistan durch chinesische Kredite befeuert unter den Bevölkerungen Sorge um die staatliche Souveränität. Was kann die EU konkret tun, um auch weniger entwickelten Staaten echte Alternativen zu bieten?
Die EU bietet den Ländern Zentralasiens tatsächlich eine echte Alternative. Über bilaterale und regionale Programme hat die Zusammenarbeit der EU mit der Region bereits jetzt einen Umfang von über einer Milliarde Euro erreicht. Gemeinsam mit anderen Instrumenten ist dieses Volumen sogar noch höher – nämlich etwa zwei Milliarden Euro.
Um das wirtschaftliche Potenzial Zentralasiens verwirklichen zu können, ist mehr nötig als große Infrastrukturprojekte oder Güterzüge, die lediglich durch diese Länder fahren. Wir brauchen echte, langfristige Investitionen, die den lokalen Gemeinschaften nutzen und auf nachhaltigen und dauerhaften Lösungen beruhen.
Es geht darum, die Verbindungen zwischen Europa und Zentralasien zu entwickeln und zu stärken – ob es sich dabei nun um Transport, digitale Infrastruktur, Energienetze oder Kontakte zwischen den Menschen handelt. So können neue Arbeitsplätze geschaffen, Innovationen gefördert und Modernisierungen eingeleitet werden, was Zentralasien in die Lage versetzt, Schuldenfallen und minderwertige Projekte zu vermeiden.
Es geht uns nicht darum, durch Verbindungen Einflusssphären zu schaffen, darum darf es auch niemals gehen. Sie sollen stattdessen Möglichkeiten eröffnen, die allen zugutekommen.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff