Erdoğan hat schon im ersten Wahlgang mit 51,7 % die absolute Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen geholt, hat also wieder Erfolg gehabt – warum?

Ministerpräsident Erdoğan ist seit über einer Dekade die alles dominierende Person in der türkischen Politik. In seine Amtszeit fällt ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung, von dem alle Teile der Bevölkerung profitiert haben, eine deutlich gewachsene und aktivere Rolle der Türkei auf internationalem Parkett und nicht zuletzt die Einleitung eines Friedensprozesses zur Lösung des jahrzehntealten Konflikts mit den Kurden im Land. In der Rolle des gläubigen Muslims, der sich gegen das politische Establishment und die säkulare (ehemalige) Elite des Landes durchgesetzt hat, verkörpert er für eine große Gruppe der Menschen immer noch zum einen das Symbol des Aufstiegs. Zum anderen aber – und das ist noch wichtiger – hat er gläubigen, eher konservativen Türken ein Gefühl der Wertschätzung (zurück-)gegeben, das ihnen von den alten Staatseliten versagt geblieben war. Erdoğan weiß, dass sich seine Wahlerfolge vor allem auf diese Gruppe stützen; und er hat in der Vergangenheit bewiesen, dass er es als Meister der Polarisierung wie kein Zweiter versteht, seine Wähler hinter sich zu scharen. Verlassen konnte er sich dabei bislang leider auch immer auf die Schwäche der Opposition.

Warum blieb die Opposition auch diesmal schwach und holte nur 38%, obwohl sie ja sogar einen gemeinsamen Kandidaten aufgestellt hatte?

Die Nominierung des  ehemaligen Generalsekretärs der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Ekmeleddin İhsanoğlu, durch die beiden größten Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die nationalistische MHP, erschien anfangs wie ein echter Coup. İhsanoğlu bezeichnet sich als sehr gläubigen Menschen, vertritt liberale Ansichten und war nicht parteipolitisch vorbelastet. Mit seiner Aufstellung versuchten CHP und MHP das Signal auszusenden, dass es nach den teils heftigen politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre nun eines Mannes bedürfe, der ausgleichend wirken und ein Präsident aller Türken sein könne. Man erhoffte sich, mit İhsanoğlu jene gläubigen Wähler von Erdoğan abziehen zu können, die sich ein Ende der gesellschaftlichen Polarisierung und Spaltung wünschen. Dies mag teilweise gelungen sein, allerdings hat vor allem die CHP in ihrem eigenen Lager für große Irritationen gesorgt, da sich wohl die wenigsten Stammwähler ernsthaft mit dem Kandidaten identifizieren konnten. Zwar liegen hierzu noch keine Daten der Meinungsforschungsinstitute vor, aber die relativ geringe Wahlbeteiligung von rd. 73% ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass İhsanoğlu die eigenen Lager von CHP und MHP nicht genügend mobilisieren konnte. Und letztlich wurde wohl auch die vorherige fast völlige Unbekanntheit des Kandidaten unterschätzt. In zwei Monaten Wahlkampf, die in die Ramadan- und Urlaubszeit fielen, konnte dieses Defizit nicht mehr aufgeholt werden.

Ein recht gutes Ergebnis konnte hingegen der dritte Kandidat, Selahattin Demirtaş, von der linksliberalen, kurdischen HDP mit knapp 10% Stimmenanteil verbuchen. Er ist sicher neben Erdoğan der zweite Gewinner dieser Wahl.

Was bedeutet das für die künftige Entwicklung der Türkei?

Zuerst einmal muss man nun sehen, wie sich die Regierungspartei AKP neu aufstellt. Als Staatspräsident kann Erdoğan die Partei nicht mehr führen – das verbietet die Verfassung. Es müssen also jetzt sehr schnell die Weichen gestellt werden für seine Nachfolge als Parteivorsitzender sowie als Ministerpräsident. Beides soll wohl wieder in einer Person vereint werden – und man kann davon ausgehen, dass Erdoğan an dieser Entscheidung maßgeblich beteiligt ist. Aber auch ungeachtet dessen, wer ihm nachfolgt, wird sich das institutionelle Gefüge des Landes unter einem Präsidenten Erdoğan verändern. Erdoğan leitet, das hat er in den letzten Wochen und Monaten immer wieder betont, aus der Tatsache, dass er der erste vom Volk direkt gewählte Präsident der Türkei ist, eine besondere Legitimation für das Amt und sich selbst ab. Dass er nun sogar bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit bekommen hat, dürfte ihn hierin noch bestärken. Er wird ein Präsident sein, der aktiv versuchen wird Politik zu gestalten. Laut Verfassung kann der Präsident Kabinettssitzungen einberufen. Von diesem Recht wird Erdoğan Gebrauch machen. Der lange gehegte Wunsch der Regierung, das parlamentarische System hin zu einem präsidialen zu verschieben, war bislang an der fehlenden Zwei-Drittel-Mehrheit der AKP und dem Widerstand der Opposition gescheitert. Es wird spekuliert, dass Erdoğan die für Sommer 2015 anstehenden Parlamentswahlen schon früher einberufen könnte, sollte die politische Stimmung im Herbst entsprechend günstig für die AKP sein.

Wie wird sich das Verhältnis zu Europa entwickeln?

Die Türkei bleibt ein wichtiger Partner in der Region – aber das Verhältnis wird mit einem Präsidenten Erdoğan sicher nicht einfacher. Dazu muss man sich nur die Äußerungen Erdoğans hinsichtlich des Gaza-Konfliktes in den letzten Wochen anschauen. Erdoğan hat aber auch als Ministerpräsident immer wieder gezeigt, dass er plötzliche Kehrtwendungen vollziehen kann, wenn es ihm politisch von Nutzen ist. Angesichts sich verdüsternder Aussichten für die Wirtschaft sowie der Konflikte in Syrien und Irak, die auf die Türkei überzugreifen drohen, wird sich Erdoğan eine Abkehr vom Westen nicht leisten können. Die Türkei unternimmt große Anstrengungen z.B. bei der Bewältigung des Flüchtlingsansturms aus Syrien. Weit über eine Million Menschen sind bisher ins Land geströmt. Die türkische Regierung möchte zunächst einmal Anerkennung und Wertschätzung von den europäischen Partnern erfahren für ihren humanitären Einsatz. Wird die Türkei hierfür stärker öffentlich gewürdigt, wird sie sich auch wieder konstruktiver bei der Lösung der regionalen Konflikte zeigen – aus purem Eigeninteresse.