Proteste hin oder her: Sonntag ist Ruhetag in Madagaskar. Kirchen sind bis zu den letzten Reihen besetzt, Familien treffen sich im Anschluss wie gewohnt zum Mittagessen, die Straßen sind friedlich und leer. Der Duft der violett blühenden Jacaranda-Bäume weht durch die Luft, Straßenhunde liegen träge in der Sonne. Auch, wenn am Vortag noch tausende Demonstrierende friedlich gegen die Verhältnisse auf die Straße gegangen waren und dabei von Ordnungskräften brutal mit Tränengas und Gummigeschossen malträtiert wurden: am Sonntag sitzen alle Parteien gemeinsam beim Gebet.
Doch selbst sonntags verweisen im Stadtbild die meterlangen Schlangen aus „bidon jaunes“, den gelben Plastikkanistern, vor den öffentlichen Wasserstellen auf ein existentielles Problem: Seit Jahren sind in Madagaskar selbst die Grundlagen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht gesichert, Strom und Wasser fehlen regelmäßig. Wer eine Solaranlage auf dem Dach oder eine eigene Wasserquelle im Garten hat, ist klar im Vorteil. Für alle anderen gehören bis zu dreizehn Stunden Stromausfall am Tag und tage- bis wochenlang trockene Wasserleitungen zum Alltag. Hygieneprobleme, erschwerte Alltagsorganisation und Trinkwasserknappheit prägen das Leben der meisten Menschen. Trotz der stetig wachsenden Frustration kam es lange zu keinen größeren öffentlichen Protesten. Zu tief sitzt die Angst vor Überwachung und Repressionen in einem Staat, der auf dem Papier zwar demokratisch ist, dessen Regime jedoch erschreckend autoritäre Tendenzen aufweist.
Auslöser für die jüngsten Demonstrationen war Mitte September der öffentliche Protest zweier oppositioneller Stadtrat-Mitglieder der madagassischen Hauptstadt Antananarivo vor dem Senat. Nachdem sie in ihrer Rolle als gewählte Vertretung des Volkes Wasser- und Strommangel angeprangert hatten, wurden sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung kurzzeitig verhaftet. Nach ihrer Entlassung am Folgetag riefen sie zu einer Demonstration auf – Studierende und junge Aktivistinnen und Aktivisten folgten nicht nur dem Appell, sondern mobilisierten auch selbst massiv über soziale Medien. In Anlehnung an die Protestbewegungen der Generation Z in Ländern wie Nepal, Kenia und Indonesien gaben sie ihrer Bewegung das Piratensymbol von „One Piece“ mit typisch madagassischem Strohhut als Logo.
Trotz des Verbots finden seither Kundgebungen statt, bei denen Sicherheitskräfte mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die friedlich Demonstrierenden vorgehen.
Trotz des Verbots durch die Behörden finden seither Kundgebungen statt, bei denen Sicherheitskräfte mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die friedlich Demonstrierenden vorgehen. Insbesondere der erste Demonstrationstag war intensiv: Im Tagesverlauf wurden die Häuser zweier Regierungsabgeordneter angegriffen, abends kam es zu Plünderungen – offenbar initiiert von bezahlten Provokateuren und fortgeführt von Gelegenheitsplünderern. Die Generation Z, die eine gezielte Diskreditierung ihrer Bewegung befürchtete, distanzierte sich jedoch klar von den Ausschreitungen und half den Geschädigten am Folgetag beim Aufräumen. Laut UN kamen im Zusammenhang mit den sich anschließenden landesweiten Protesten, Streiks und Plünderungen mindestens 22 Menschen ums Leben, über 100 wurden verletzt – Zahlen, die die Regierung bestreitet. Präsident Andry Rajoelina machte in einer späteren Fernsehansprache Cyberangriffe aus dem Ausland für die Protestbewegungen verantwortlich.
Bemerkenswert war, dass die Generation Z in der darauf folgenden Woche auch die ältere Generation Y und damit große Teile der etablierten Zivilgesellschaft mobilisieren konnte – jene Generation, die den Putsch von 2009 noch sehr präsent hat und die Form des Straßenprotestes in der jüngeren Vergangenheit mied. Ging es der Jugend zunächst um den Rücktritt der Regierung, gingen die Forderungen bald darüber hinaus: Rücktritt des Präsidenten, Auflösung des Senats und der Wahlkommission sowie die strafrechtliche Verfolgung des politisch übermächtigen Unternehmers Mamy Ravatomanga, der als de-facto Königsmacher gilt. Präsident Rajoelina entließ daraufhin Ende September seine Regierung, räumte Fehler ein und gelobte schnelle Besserung. Doch Streiks und Demonstrationen hielten an, selbst nachdem er Dialogtreffen mit unterschiedlichsten Akteurskonstellationen – Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen – ins Leben gerufen hatte.
Wenngleich das Vorgehen der Generation Z teilweise unkoordiniert wirkt und die junge Bewegung zu Beginn beinahe von ihrem eigenen Mobilisierungserfolg überrascht wurde, haben sie der Bevölkerung einen entscheidenden Dienst erwiesen: Sie hat ihre Landsleute wachgerüttelt, die sich lange aus Angst vor Repressionen oder in einer resignativen „es geht schon irgendwie weiter“-Mentalität zu Hause verkrochen hatten. In dieser Atmosphäre wurden Themen wie Präsident Rajoelinas mögliche dritte Amtszeit oder der Einfluss des Unternehmers Ravatomanga nur hinter vorgehaltener Hand und verschlüsselt diskutiert. Die grundlegende Hürde, sich öffentlich als (macht)kritische Bewegung zu zeigen, erscheint damit überwunden – zumindest vorübergehend.
Das Bewusstsein, dass das politische und wirtschaftliche System tiefgreifende Reformen benötigt, wächst.
Doch die Sichtbarmachung der Unzufriedenheit durch die Generation Z auf der Straße ist nur der erste Schritt. Wie kann es von hier aus weitergehen, vorausgesetzt die Bewegung behält ihr Momentum? Das bisherige Bündnis aus Wirtschaft, Politik und Militär steht aktuell weitgehend geschlossen hinter dem Präsidenten, doch die Bevölkerung scheint kosmetische Änderungen nicht länger zu akzeptieren. Das Bewusstsein, dass das politische und wirtschaftliche System tiefgreifende Reformen benötigt, wächst.
Die weitere Vorgehensweise könnte sich an zwei Ansatzpunkten orientieren. Erstens: Es braucht ein gesellschaftlich anerkanntes Dialogforum, das nicht davor zurückschreckt, die strukturellen Wurzeln der Ungerechtigkeiten zu diskutieren. Kirchen genießen traditionell hohes Vertrauen in der Bevölkerung und haben sich historisch mehrfach als Vermittler in Transformationsprozessen bewährt. Sie könnten einen inklusiven Prozess moderieren und dabei sicherstellen, dass alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen und Gruppierungen, insbesondere auch die Generation Z, gehört werden.
Zweitens: Die Forderungen der Protestierenden müssen über einzelne Akteure wie Ravatomanga hinausgehen. Sein mit der Politik verschmolzenes Wirtschaftsimperium ist Ausdruck struktureller Ungleichgewichte und massiver Intransparenz. Ohne grundlegende Systemreform würden sich zwar einzelne Machtpositionen ändern, die zugrunde liegenden Missstände jedoch bestehen bleiben. Ziel muss ein neu verhandelter Gesellschaftsvertrag sein, der Korruption, politische Verflechtungen und wirtschaftliche Ungerechtigkeit offenlegt und gemeinwohlorientierte Alternativen aufzeigt. Das Thema Korruption muss gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet werden, so sehr zieht es sich durch Alltag und Mentalität der Menschen. Es braucht ein gemeinsames Verständnis darüber, wo Korruption auf individueller Ebene beginnt und welchen Schaden sie anrichtet. Transparenz, Gemeinwohlorientierung und eine faire Ressourcenverteilung sind weitere zentrale Elemente einer alternativen Wirtschaftsordnung.
Eine nachhaltige Verbesserung kann nur durch die Kombination aus öffentlicher Mobilisierung, institutioneller Vermittlung und systemischer Reform gelingen – eine, die nicht nur kurzfristige Köpfe austauscht, sondern die Strukturen selbst neu ausrichtet. Deutschland könnte innerhalb der EU verstärkt auf die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte pochen und in Kooperation mit regionalen Partnern langfristige, inklusive Dialogprozesse unterstützen. Außer sonntags, da ist in Madagaskar Ruhetag.