Wenn nicht in letzter Minute noch diplomatische Anstrengungen die Wende bringen, dürfte die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) ihr 50-jähriges Bestehen im nächsten Monat nicht nur mit drei Mitgliedstaaten weniger begehen, sondern sich auch mit dem Beginn eines Handelskriegs konfrontiert sehen. Der Konflikt droht, jahrzehntelange Bemühungen um regionale Integration und Freihandel zunichtezumachen.
Seit Juli 2023 steckt das 1975 gegründete, 15 Mitglieder zählende Bündnis in einer Legitimationskrise – ausgelöst durch seinen Umgang mit der Welle von Militärputschen in der Region. Zwischen 2020 und 2023 wurden in Mali (2020 und 2021), Burkina Faso (2022) und zuletzt in Niger (2023) gewählte Regierungen gestürzt und die Macht von Militärjuntas übernommen. Letztere kehrten westlichen Verbündeten – etwa Frankreich, den USA, Deutschland und der EU – den Rücken und orientierten sich, getragen von einer Welle antiwestlicher Stimmung in der Region, stattdessen an Russland und China.
Doch erst mit dem Putsch der von General Tchiani geführten Junta in Niger im Juli 2023 eskalierte die latente Unzufriedenheit innerhalb der Gemeinschaft zum offenen Bruch. In dessen Folge entstand die Allianz der Sahelstaaten (AES) – ein Verteidigungspakt, bestehend aus den ausgetretenen Staaten Mali, Burkina Faso und Niger. Seit ihrem Auftreten auf der westafrikanischen Bühne hat sich die AES rasch zu einem ernst zu nehmenden regionalen Gegenspieler entwickelt – mit einer eigenen Agenda für monetäre, wirtschaftliche, handelspolitische und kulturelle Integration. Ende Januar erklärten die drei Staaten nach Ablauf der einjährigen Kündigungsfrist offiziell ihren Austritt aus der ECOWAS. Die AES verfügt mittlerweile über eine eigene Flagge, einen eigenen Pass sowie soll eine Investitionsbank geschaffen werden.
Ende März verhängte die AES einen Importzoll in Höhe von 0,5 Prozent auf sämtliche Waren aus ECOWAS-Staaten – ein Schritt, der die Gefahr eines Handelskriegs erhöht. Die Maßnahme, die sofort in Kraft trat, gilt für alle Waren mit Ausnahme humanitärer Hilfsgüter. Sie widerspricht dem Ziel der ECOWAS, im Rahmen des Handelsliberalisierungssystems (ETLS) sowie der gemeinsamen Investitionspolitik weiterhin offene Grenzen und freien Warenverkehr auch mit den ausgetretenen Ländern sicherzustellen.
Die AES verteidigte den Zoll mit dem Argument, Einnahmen zur Finanzierung ihrer Aktivitäten zu benötigen. Angesichts chronischer Geldknappheit und begrenzter Verwaltungskapazitäten überrascht es nicht, dass sie auf ein solches Mittel zurückgreift. Importzölle sind eine Maßnahme, die schneller Erträge bringt als langfristige Investitionen in Exportmärkte oder andere komparative Vorteile. Zugleich können sie jedoch schnell in den Abgrund führen. Sollte die ECOWAS mit Gegenmaßnahmen reagieren, könnte eine Eskalation folgen, die die Lage weiter verschärfen würde.
Der neue Zoll könnte Handelsströme stören und die Lebensmittelpreise in der gesamten Region in die Höhe treiben.
Der neue Zoll könnte Handelsströme stören und die Lebensmittelpreise in der gesamten Region in die Höhe treiben. Besonders hart dürfte es aber die AES-Staaten selbst treffen, die zu den ärmsten Ländern der Welt gehören. Als reine Binnenstaaten sind sie auf den Handelsweg über Seehäfen ihrer südlichen ECOWAS-Nachbarn angewiesen – vor allem über Côte d’Ivoire, Ghana, Togo, Senegal und Benin. Eine Zollbelastung verteuert folglich die Einfuhr lebenswichtiger Güter, etwa von Lebensmitteln. So bezieht Niger Strom und Treibstoff aus Nigeria, das nach Frankreich und Mali drittgrößter Handelspartner ist. In jüngster Zeit kam es dort immer wieder zu Engpässen.
Der AES-Zoll vergrößert zudem die ohnehin erheblichen strukturellen, logistischen und politischen Hürden, die das Wachstum des innerafrikanischen Handels und insbesondere die Umsetzung der Afrikanischen Freihandelszone (AfCFTA) behindern. Diese trat 2021 in Kraft und soll mit 1,3 Milliarden Menschen die größte Freihandelszone der Welt bilden. Bislang jedoch mit wenig Erfolg. Laut dem Trade Data Monitor betrug das Handelsvolumen innerhalb Afrikas 2023 nur 192,2 MilliardenUS-Dollar, was lediglich 14,9 Prozent des gesamten afrikanischen Außenhandels ausmacht.
Ob Westafrika zukünftig wieder mehr auf Freihandel setzt, hängt davon ab, ob es gelingt, die AES-Staaten bis Juli 2025 zur Rückkehr in die ECOWAS zu bewegen – dann nämlich endet die beim Austritt gewährte Übergangsfrist. Die drei Länder machen rund 17 Prozent der ECOWAS-Gesamtbevölkerung von 446 Millionen aus, mehr als die Hälfte der Fläche von über fünf Millionen Quadratkilometern und knapp acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ihr Austritt hat die Staatengemeinschaft in die tiefste Krise ihrer 50-jährigen Geschichte gestürzt.
Dabei war diese Krise nicht unausweichlich. Vielmehr steuerte die ECOWAS sehenden Auges in sie hinein. Denn betrachtet man alle Faktoren, so erscheint die Abspaltung als Quittung für die Abkehr vom eigenen panafrikanischen Gründungsversprechen – und für den misslungenen Umgang mit dem Putsch in Niger. Bei ihrer Gründung stand die ECOWAS für Solidarität, kollektive Eigenständigkeit, Gewaltverzicht sowie Frieden und Stabilität in der Region. Doch im Laufe der Jahrzehnte entfernte sich das Bündnis zunehmend von diesen Idealen. Die Alibi-Verteidigung der Demokratie bei gleichzeitiger Duldung autoritärer Langzeitpräsidenten wie Faure Gnassingbé in Togo hat der moralischen Glaubwürdigkeit der ECOWAS massiv geschadet.
Die Rhetorik der AES richtet sich vorrangig auf die Wahrung staatlicher Souveränität und den Antiimperialismus. Damit verschärft der Dreistaatenbund die Legitimationskrise der ECOWAS und positioniert sich als glaubwürdige Alternative. Doch der Weg politischer Polarisierung und eines möglichen Zollkriegs führt unweigerlich in den gemeinsamen Niedergang. Deshalb ist es jetzt umso dringlicher, dass die ECOWAS sich nicht zu Vergeltung hinreißen lässt, sondern auf Diplomatie setzt, um die durch die Importzölle der AES ausgelösten Spannungen zu entschärfen.
Denn gerade der Mangel an Diplomatie hatte das Patt überhaupt erst herbeigeführt. Diese Lektion muss die ECOWAS nun verinnerlichen, wenn sie ihre Rolle als regionale Kraft neu definieren will. Sollte dies nicht gelingen, könnte dies eine weitere Erosion des Einflusses und der Bedeutung des Blocks in den kommenden 50 Jahren bedeuten.