Bangladesch wartet auf den Übergang zu einer demokratischen Ordnung. Nach einer langen Zeit der Ungewissheit wurden jetzt Wahlen angesetzt, die im Februar 2026 stattfinden sollen. Der Reformprozess, den die von Friedensnobelpreisträger Professor Muhammad Yunus angeführte Übergangsregierung sich vorgenommen hatte, tritt jedoch auf der Stelle. Bis Juli wollte die Regierung sich auf eine „Juli-Charta“ verständigen, aber der Termin wurde inzwischen zweimal verschoben. Die jüngste Frist verstrich am 15. September ohne Einigung.
Vor einem Jahr demonstrierte eine breite Protestbewegung, die den Querschnitt der bangladeschischen Gesellschaft abbildete und junge Menschen, Bengalis und Nicht-Bengalis, Muslime und Nicht-Muslime, Männer und Frauen, traditionelle politische Aktivisten und andere Akteure vereinte, ihren Unmut über das zunehmend autoritäre und korrupte Regime. Rund ein halbes Jahr nach einer alles andere als freien und fairen Wahl, bei der die Regierung im Amt bestätigt wurde, eskalierten die Proteste der Studierenden.
Das prägende Merkmal des Regimes, das seit 2009 an der Macht war, waren manipulierte Wahlen, die Ermordung politischer Gegner und Verschleppungen. Die von Studierenden angeführten Proteste, die mehr als zwei Wochen lang friedlich verliefen, schlugen am 16. Juli 2024 in Gewalt um, nachdem die Demonstrierenden von regierungsnahen Schlägern attackiert worden waren. In der Folge erlebte Bangladesch die brutalsten Repressalien seit dem Unabhängigkeitskrieg von 1971. Innerhalb von drei Wochen töteten die Sicherheitsorgane und die Gangs, von denen sie sich unterstützen ließen, rund 1 500 Protestierende und verletzten über 10 000 schwer.
Das einzige, was sie damit erreichten, war noch mehr Empörung: Diverse Bevölkerungsgruppen schlossen sich den Protesten an. Als das Militär ihr die Gefolgschaft aufkündigte, setzte sich Premierministerin Scheikh Hasina am 5. August 2024 nach Indien ab. In der Folge flohen der größte Teil der politischen Führung – Minister, Parlamentsabgeordnete, Parteichefs und Bedienstete des zivilen und militärischen Verwaltungsapparats – und viele Unternehmer außer Landes.
Danach übernahm Muhammad Yunus auf Bitten der Studentenvertreter die Staatsgeschäfte und wurde Chef der Übergangsregierung. Yunus setzte drei prioritäre Vorhaben auf die Tagesordnung: Er kündigte an, die für die Gewalt Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, um für Gerechtigkeit zu sorgen, und durch politische Reformen und Verfassungsänderungen einen Rückfall in autoritäre Herrschaftsformen zu verhindern. Außerdem soll durch freie und faire Wahlen die Macht an eine ordnungsgemäße Regierung übergeben werden.
Am 10. Mai verhängte Yunus‘ Übergangsregierung ein Betätigungsverbot gegen die entmachtete Awami-Liga, das bestehen bleiben soll, bis diejenigen, die für die Tötung und Verletzung der Protestierenden verantwortlich sind, vor Gericht gestellt worden sind. Zuvor hatte die Parteiführung der Awami-Liga mit einer Dauerkampagne in den sozialen Medien versucht, den Übergangsprozess zu torpedieren. Daraufhin hatten Protestierende – einem Aufruf der neuen, von Studenten angeführten National Citizens’ Party folgend – mehrere Tage lang wichtige Verkehrsadern blockiert und mit einer Ausweitung der Proteste gedroht, sollte die Awami-Liga nicht verboten werden. Dennoch kommt das Gerichtsverfahren gegen die führenden Köpfe der Awami-Liga nur schleppend voran.
Inzwischen wurde eine siebenköpfige Nationale Konsenskommission ins Leben gerufen, die sich aus den Vorsitzenden von sechs Reformausschüssen zusammensetzt und vom Regierungschef geleitet wird.
Inzwischen wurde eine siebenköpfige Nationale Konsenskommission ins Leben gerufen, die sich aus den Vorsitzenden von sechs Reformausschüssen zusammensetzt und vom Regierungschef geleitet wird. Unter den wichtigsten Reformen gibt es rund zwanzig, die eine Verfassungsänderung erfordern und deshalb zur Priorität erklärt wurden. Dadurch wurde der anfängliche Reformeifer jedoch gedämpft. Von der Zivilgesellschaft getragene Kommissionen haben umfassende Reformen der Justiz, des korruptionsanfälligen Beamtenapparats, der Sicherheitsorgane sowie der Arbeitnehmer- und Frauenrechte – um nur einige zu nennen – ausgearbeitet, aber die meisten Reformvorschläge wurden erst einmal zurückgestellt.
Rund drei Monate lang führte die Konsenskommission Gespräche mit 37 politischen Parteien und Gruppierungen aus dem politischen Spektrum von rechts über die Mitte bis links, um sich im Dialog auf substanzielle Reformen für den Übergang zu einer demokratischen Ordnung zu einigen. Bei einigen Verfassungsänderungen konnte die Kommission bereits eine Einigung erzielen. So sollen zum Beispiel alle Regelungen aufgehoben werden, die Parlamentarier daran hindern, frei – also auch gegen die Parteilinie – abzustimmen. Die einzigen beiden Ausnahmen sind Misstrauensvoten gegen eine amtierende Regierung und das Haushaltsgesetz, das die finanzielle Handlungsfähigkeit der Regierung sicherstellt.
Ferner hat man sich darauf geeinigt, dass für die Durchführung der Parlamentswahlen die überparteiliche Interimsregierung wiedereingesetzt wird und dass in einigen wichtigen ständigen Parlamentsausschüssen künftig Oppositionsabgeordnete den Vorsitz übernehmen können. Eingeschränkt werden sollen außerdem die Möglichkeiten des Präsidenten, sein Begnadigungsrecht willkürlich auszuüben, und die Möglichkeiten des Premierministers, einseitig den Präsidenten um die Ausrufung des Notstandes zu ersuchen, durch den die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zeitweilig aufgehoben würden.
Bei anderen wichtigen Reformen der Staats- und Regierungsstrukturen ist eine Einigung jedoch unwahrscheinlich. Das kontroverserste Thema dürfte die Einführung eines Verhältniswahlrechts sein. Das wahlkreisorientierte Mehrheitswahlrecht führt zu einer strukturellen Dominanz der größten Parteien. Die studentennahen Gruppierungen und andere kleine Parteien drängen darauf, dies zu ändern, damit sie die Chance bekommen, in das Parlament einzuziehen, das den Premierminister wählt. Einige etablierte Parteien – vor allem die derzeit wohl stärkste Partei, die Bangladesh Nationalist Party (BNP) – stellen sich dagegen.
Die zweite grundlegende Reform ist die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer, die Senat heißen und mehr Kontrollmechanismen mit sich bringen soll. Dies wird zwar von den meisten politischen Kräften einhellig befürwortet, aber die BNP besteht darauf, dass die Sitze im neu eingerichteten Senat proportional zur Sitzverteilung im Unterhaus vergeben werden, sodass die Machtverhältnisse in beiden Parlamentskammern gleich wären. Das ist für andere inakzeptabel und würde die Reform gegenstandslos machen. Angesichts der gravierenden Interessenunterschiede zwischen den politischen Akteuren ist es wahrscheinlich, dass die Reformen in der Schwebe bleiben. Im demnächst neu gewählten Parlament werden die neuen Kräfte wohl kein Gewicht haben, und aller Wahrscheinlichkeit nach werden alle Reformbeschlüsse von den Interessen der etablierteren Parteien dominiert sein.
Ferner ist es der Konsenskommission bisher nicht gelungen, alle Beteiligten und vor allem die BNP davon zu überzeugen, dass die Häufung einflussreicher politischer Positionen begrenzt werden sollte, um zu verhindern, dass eine Person gleichzeitig Vorsitzender der Regierungspartei, Parlamentspräsident und Regierungschef ist. Diese Ämterhäufung verleiht dem Premierminister eine allmächtige Position und begünstigt den Rückfall in autoritäre Strukturen.
Essenziell ist und bleibt, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte und Chancen haben.
Der Übergangsregierung - bestehend aus rund zwei Dutzend Personen, die mehrheitlich „zivilgesellschaftlichen“ Nichtregierungsorganisationen angehören – gelingt es nicht, zielführend zu regieren und Reformen voranzutreiben, da es ihr allem Anschein nach an politischen Visionen, entschlossenem Engagement und praktischer Erfahrung fehlt. Während die demokratischen Reformen also ausbleiben und die Prozesse gegen die Gewalttäter nur schleppend vorankommen, harrt noch der dritte Punkt auf der von Mohammad Yunus angekündigten Agenda der Verwirklichung: die Parlamentswahlen.
Die Awami-Liga, die bislang keinerlei Reue über ihre Missetaten zeigt, hat kaum eine Chance, an der nächsten Parlamentswahl teilzunehmen. Unterdessen scheint sich die rechte Jamaat-e-Islami (JI) als zweitstärkste politische Kraft hinter der BNP, die der rechten Mitte zuzuordnen ist, zu etablieren. Die linken und liberalen Kreise im Land beobachten mit Sorge, wie die JI und ihre Verbündeten sich daranmachen, ihre reaktionären Wertvorstellungen, die insbesondere Auswirkungen auf die Frauenrechte haben, in die breite Gesellschaft zu tragen.
Die Konsenskommission hatte jedoch bislang nicht einmal den Mut, eine Diskussion zur Abschaffung von Verfassungsartikeln anzuregen, die zum Beispiel einer bestimmten Religion – konkret dem Islam – einen „Sonderstatus“ zubilligen. Essenziell ist und bleibt, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte und Chancen haben. Einer bestimmten Glaubensrichtung einen verfassungsmäßigen Sonderstatus zu gewähren, stellt dagegen eine grundsätzliche Bedrohung für die Rechte von Minderheiten, die in einer Demokratie geschützt werden sollen.
Trotz alledem ist es unwahrscheinlich, dass Bangladesch in absehbarer Zeit in die Verhältnisse vor dem Umsturz zurückfällt. Die Bevölkerung ist durch die Erfahrung eines erfolgreichen Aufstands der Massen politisch gestärkt und würde nicht zulassen, dass die politischen Parteien die Staatsgeschäfte wieder so führen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld