Indiens Außenpolitik wird im Westen häufig missverstanden. Läuft es mit den USA gut, wittern Beobachter eine entschlossene Hinwendung zum Westen. Kommt es jedoch zwischen Washington und Neu-Delhi zu Spannungen, wie derzeit, wird eine Annäherung an China oder die BRICS prophezeit. Doch beide Lesarten verwechseln bloße Bewegung mit tatsächlicher strategischer Richtung. Indien optimiert seine Position entlang seiner eigenen Prioritäten: dem wirtschaftlichen Aufstieg und der Wahrung strategischer Unabhängigkeit. Bespielt Europa dieses indische „Multi-Alignment“ klug, hat der alte Kontinent gute Chancen, mit Indien eine der zentralen Partnerschaften der multipolaren Welt aufzubauen.

Von der Blockfreiheit bis zu heutigen Konzepten wie „strategischer Autonomie“ und „Multi-Alignment“ ist ein Prinzip der indischen Außenpolitik konstant geblieben: die Weigerung, die Rolle des Untergeordneten in einer Allianz einzunehmen. Das bedeutete jedoch nie Wertefreiheit oder geopolitische Gleichgültigkeit. Es hieß vielmehr, jede außenpolitische Frage anhand des ordnenden Prinzips der nationalen Interessen zu bewerten.

Öffentliche Kränkungen durch den amerikanischen Präsidenten, wie die Tweets von Donald Trump, schmerzen in Delhi einerseits wegen ihres beleidigenden Tons, andererseits aber auch, weil sie einen tieferen Instinkt berühren: Indien lässt sich nicht in Positionen drängen, die seinen Interessen schaden. Weder wird es in unvorteilhafte Handelsabkommen gezwungen, noch folgt es der Erzählung, Trump habe im Mai dieses Jahres zwischen Indien und Pakistan vermittelt. Die Erfahrung kolonialer Herrschaft hat Indien misstrauisch gegenüber Druck gemacht, und seine heutige Diplomatie beruht auf der Überzeugung, dass Engagement freiwillig, wechselseitig und auf Augenhöhe erfolgen muss.

Auch Indiens geografische Lage prägt diese außenpolitische Tradition: Im Norden steht es China gegenüber, das wohlhabender, technologisch fortgeschrittener und zugleich systemischer Rivale ist. Mit dem derzeit ramponierten Verhältnis zu Washington vollzieht sich eine praktische Wiederannäherung an Peking: Der kommerzielle Flugverkehr wird wieder aufgenommen, Handelsvolumina werden diskutiert, und beide Seiten testen, ob begrenzter Pragmatismus mit strategischer Rivalität koexistieren kann. Im Westen bleibt Pakistan ein herausfordernder Nachbar, der Delhis sicherheitspolitische Ausrichtung weiterhin bestimmt. Phasen relativer Ruhe wechseln sich mit plötzlichen Spannungen ab.

Multi-Alignment ist kein Zaudern, sondern aktives Positionieren, das den eigenen Handlungsspielraum maximiert.

Wer nach einer großen ideologischen Herleitung der indischen Position sucht, missversteht Neu-Delhis transaktionale Klarheit. Öl, das zu Rabattpreisen gekauft wird, ist aus indischer Sicht keine Unterstützung Russlands, sondern ein Instrument zur Inflationskontrolle und zur Energiesicherheit einer weiterhin aufstrebenden Volkswirtschaft. Die Teilnahme an BRICS ist keine geopolitische Loyalitätserklärung; Indien sieht darin ein Forum, um für eine gerechtere Finanzarchitektur zu werben, die Stimme des Globalen Südens zu stärken – und China „auszubalancieren“. Auch die Beziehungen zu den USA sind kein Schritt in Richtung eines formellen Bündnisses, sondern eine Wette auf Technologietransfer, industrielle Modernisierung und ein Kräftegleichgewicht im Indopazifik. Multi-Alignment ist kein Zaudern, sondern aktives Positionieren, das den eigenen Handlungsspielraum maximiert und einseitige Abhängigkeiten minimiert. Es verlangt permanente Balanceakte – zwischen Wachstum und Sicherheit, zwischen Werten und Interessen, zwischen kurzfristigen und langfristigen Partnerschaften.

Nirgendwo wird das Missverständnis indischer Positionen kostspieliger sein als in Europa. Allzu oft pendelt die Debatte zwischen dem Verweis auf gemeinsame demokratische Werte und der Irritation darüber, dass Indien seine Politik nicht konsequent daran ausrichtet. Doch Indiens Außenpolitik zielt nicht auf ideologische Anlehnung, sondern auf Autonomie und nationale Interessen.

Europas Chance besteht darin, mit dieser Logik zu arbeiten. In einer zunehmend multipolaren Welt, die weniger abhängig vom transatlantischen Anker ist, bietet der Aufbau einer stärkeren Partnerschaft mit Indien den praktikabelsten Weg für Europa, sein wirtschaftliches Gewicht in strategischen Einfluss umzuwandeln. Delhi hat dabei eigene Aufgaben zu bewältigen: Strukturreformen, Infrastrukturmodernisierung und regulatorische Stabilität werden entscheidend dafür sein, ob das Potenzial der Partnerschaft mit Europa ausgeschöpft wird. Indien, das unter hohen US-Zöllen leidet und beim Ausbau seiner Industrieproduktion stagniert, braucht Europas Markt heute mehr denn je. Ein EU-Indien-Freihandelsabkommen könnte dringend benötigte Investitionen mobilisieren, Indiens „China+1“-Strategie stärken und seine regionale Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Nach den jüngsten FTAs mit dem Vereinigten Königreich und der EFTA ist der Moment günstig, um auch mit der EU eine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung zu schließen.

Europa kann Indiens Autonomie entweder beklagen oder mit ihr arbeiten.

Doch der Übergang von wohlklingenden Botschaften zu belastbaren Angeboten erfordert konkrete Vorschläge. Die Verteidigungs- und Dual-Use-Kooperation etwa sollte sich von Einzelverkäufen hin zu gemeinsamer Entwicklung und Produktion weiterentwickeln – unterstützt durch verlässliche Lizenzen, geteiltes geistiges Eigentum und Kapital, das Instrumente wie Global Gateway oder die Europäische Investitionsbank mobilisieren können. Widerstandsfähige Wertschöpfungsketten sollten gemeinsam aufgebaut werden: von pharmazeutischen Wirkstoffen über Batterien bis zu Seltenen Erden. Der EU-India Trade and Technology Council könnte dabei eine zentrale Rolle spielen. Auch die Klimakooperation ist ein zentrales Feld: Die gemeinsame Finanzierung von Netzmodernisierung, Speicherinfrastruktur, Wasserstoff-Hubs und grünen Schifffahrtskorridoren sowie die Lokalisierung der Produktion von Turbinen, Elektrolyseuren und Batterien würden Europa zu einem echten Partner bezüglich Indiens Energiewende machen.

Dafür braucht es eine sorgfältige Abstimmung der CO2-Bilanzierung, damit Maßnahmen wie der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) nicht zu faktischen Handelsbarrieren werden. Indien seinerseits kann Genehmigungen beschleunigen, regulatorische Klarheit schaffen und Pilotprojekte ausweiten, die skalierbare Modelle für grüne Kooperation mit Europa demonstrieren. In Sicherheitsfragen kann Europa eine nützliche unterstützende Rolle im Indopazifik spielen – etwa durch maritime Lagebilder, Ausbildung von Küstenwachen, durch Hafensicherheit und koordinierte Präsenz, besonders im westlichen Indischen Ozean. Konnektivitätsinitiativen wie der India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) müssen zudem vom Papier ins Metall überführt werden. Ein umfassendes Freihandelsabkommen bleibt der Anker der wirtschaftlichen Beziehung, muss jedoch nicht als Alles-oder-nichts-Projekt verstanden werden.

Frühe Fortschritte in Bereichen wie Dienstleistungsmobilität, digitaler Handel und Zoll würden neuen Schwung erzeugen, während schwierigere Kapitel wie Arbeits- oder Umweltstandards realistisch sequenziert werden sollten. Schließlich ist der Ton ebenso wichtig wie der Inhalt. Zusammenarbeit muss auf Augenhöhe erfolgen – ohne Belehrungen und ohne die Erwartung, dass Indien automatisch europäische Positionen übernimmt. Wenn Europa anerkennt, dass Indiens strategische Autonomie ein Merkmal und kein Mangel seiner Außenpolitik ist, kann es eine vertiefte Partnerschaft mit einer aufsteigenden Macht aufbauen.

Das geopolitische Zeitfenster für Europa bleibt nicht ewig offen. Ein transaktionaleres Amerika, ein machtbewussteres China und ein schwer beschädigtes multilaterales System sind Tatsachen, keine Prognosen. Europa kann Indiens Autonomie entweder beklagen oder mit ihr arbeiten. Multi-Alignment ist kein Zeichen von Unentschlossenheit, sondern eine Strategie im Zeitalter der Multipolarität. Indien beherrscht diese seit Jahrzehnten und wird dieses Prinzip auch künftig fortführen. Je schneller europäische Hauptstädte dies verinnerlichen und ihre Angebote entsprechend anpassen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Indien zu Europas zentralem Partner wird.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Originalartikels „Cast aside shibboleths: Europe needs to understand the logic of India’s multi-alignment“ ausIndia’s World.