Es ist ein Rekord, den die vier Regierungsparteien in den Niederlanden gleich zu Beginn ihrer Amtszeit für sich in Anspruch nehmen können: Nach den längsten Koalitionsverhandlungen in der Geschichte des Landes wurde am 10. Januar eine neue Regierung vereidigt. Während Premierminister Mark Rutte seine vierte Amtszeit antritt – was für die Niederlande ein weiterer Rekord ist –, ist die Ernennung von Sigrid Kaag zur Finanzministerin eine bemerkenswerte personelle Veränderung.

Kaag ist Vorsitzende der liberaldemokratischen und proeuropäischen D66 und eine der Wahlsiegerinnen des vergangenen Jahres. In der Neuauflage des bisherigen Viererbündnisses mit Ruttes rechtsliberaler VVD, der christdemokratischen CDA und der Christen-Union wächst ihr Einfluss. Die entscheidende Frage ist nun, ob Kaags EU-freundliche Haltung auch einen anderen Umgang mit der Eurozone nach sich zieht.

In den vergangenen Jahren haben sich die Niederlande als informeller Anführer der Gruppe der „Sparsamen Vier“ einen Namen gemacht, zu denen noch Österreich, Dänemark und Schweden zählen. Die unnachgiebige Position der Regierung bei den Verhandlungen über den Mehrjahreshaushalt der EU, die zurückhaltende Einstellung gegenüber dem EU-Rettungsfonds von 2020, der die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie ankurbeln sollte, und eine prinzipientreue Haltung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt haben den Niederlanden den Ruf eines finanzpolitischen Falken eingebracht. Ministerpräsident Mark Rutte nahm sich bekanntlich zum EU-Haushaltsgipfel eine Biografie von Frédéric Chopin zum Lesen mit. Zuvor hatte er sogar einmal gescherzt, er trage bei solchen Haushaltsgesprächen eine „geladene Waffe“ bei sich.

Im niederländischen Parlament sitzen viele Euroskeptiker. Jeder Schritt in Richtung einer „Transferunion“ stößt auf breiten Widerstand.

Diese Haltung gegenüber der Eurozone spiegelt sich auch in der niederländischen Innenpolitik wider. Jeder Schritt in Richtung einer „Transferunion“ stößt auf breiten Widerstand. Im niederländischen Parlament sitzen viele Euroskeptiker. 2019 forderte eine Mehrheit des Parlaments die Regierung auf, die Erwähnungen einer „immer engeren Union“ aus den EU-Verträgen zu streichen.

Gleichzeitig sind die Niederlande ein Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaften. Anders als etwa die Dänen haben sie den Euro als Währung eingeführt, und politische Ausnahmeregelungen gibt es für sie nicht. Sie sind die fünftgrößte Volkswirtschaft der EU und tragen maßgeblich zum Funktionieren des Binnenmarktes bei.

Die niederländische Finanzpolitik wird fortan von einer engagierten Europabefürworterin bestimmt. Entsprechend hoch sind von Paris bis Athen die Erwartungen, dass Kaag den finanzpolitischen Falken Niederlande in eine Taube verwandeln wird.

Eines ist sicher: Der Ton wird sich ändern. Als Vorsitzende der Liberaldemokraten verkörpert Kaag mittlerweile die proeuropäische DNA ihrer Partei und setzt sich offen für ein konstruktiveres – manche würden sagen: föderalistischeres – Modell von Europa ein. Der neue Koalitionsvertrag trägt ihre Handschrift. Darin heißt es, dass die Niederlande „eine führende Rolle“ in Europa spielen wollen. Das niederländische Finanzministerium gestaltet den Kurs, den das Land gegenüber der EU fahren wird, entscheidend mit. Damit sitzt es an einer entscheidenden Schaltstelle, um diese Veränderungen in die Tat umzusetzen.

Die Niederlande wollen nicht länger die Staatsverschuldung senken und die Ausgaben eindämmen.

Auch in finanzpolitischen Fragen verschiebt sich das Koordinatensystem. Die Niederlande wollen nicht länger die Staatsverschuldung senken und die Ausgaben eindämmen. Die geplanten Inlandsinvestitionen der neuen Regierung – insbesondere in den Bereichen Klimawandel, Digitalisierung, Wohnungsbau, Bildung und Verteidigung – sind beachtlich. Sie signalisieren eine grundsätzliche Abkehr von der Sparpolitik, die das Land Mitte der 2010er-Jahre betrieb. Wenn die Niederlande zur Defizitfinanzierung übergehen, könnte dies die Staatsverschuldung in den kommenden Jahren sogar auf über 60 Prozent steigen lassen. Das war es dann wohl mit der „Sparsamkeit“.

Das wird vor allem in Südeuropa begrüßt. Denn der neue Koalitionsvertrag macht auch den Weg für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts frei. Viele südliche Mitgliedsstaaten sind der Auffassung, die Eurozone brauche flexiblere Ausgabenregeln, um den fiskalischen Mühlstein vom Hals zu bekommen. Die niederländische Regierung sieht ein, dass eine Modifizierung vonnöten ist, und will für „Aufwärtskonvergenz und ein nachhaltiges Schuldenniveau“ werben. Dieses Thema hat die französische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 auf die Tagesordnung gesetzt. Es gibt also offenbar Verhandlungsspielraum.

Doch trotz der anfänglichen Begeisterung in den südeuropäischen Hauptstädten wird sich möglicherweise weniger ändern als erwartet. Ein neuer Ton aus den Niederlanden ist mit Sicherheit willkommen, aber Den Haag wird sich nicht so leicht von seinem harten Kurs verabschieden. Niedrige Zinssätze und eine solide Bilanz bescheren den Niederlanden einen großen finanzpolitischen Spielraum für ihre neuen Ausgabenpläne. Außerdem macht die Pandemie Konjunkturausgaben erforderlich. Diese günstige finanzpolitische Gesamtsituation dürfte es Kaag erleichtern, in den Sitzungen der Eurogruppe mehr Flexibilität zu zeigen. Das ist allerdings nur eine vorübergehende Veränderung und kein struktureller Wandel. Mit anderen Worten: Wenn es darum geht, mehr Verständnis für die Belange der südeuropäischen Länder zu zeigen, dann wäre dafür jetzt der ideale Zeitpunkt.

Viele südliche Mitgliedsstaaten sind der Auffassung, die Eurozone brauche flexiblere Ausgabenregeln, um den fiskalischen Mühlstein vom Hals zu bekommen.

Selbst wenn das niederländische Staatsdefizit steigt, wird der Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt nicht annähernd das Niveau von Frankreich, Spanien, Italien oder auch Deutschland erreichen. Außerdem werden die Niederländer im Gegenzug für ihre Unterstützung bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts auf Veränderungen an anderer Stelle bestehen, beispielsweise strengere Auflagen bei der Durchsetzung und Kontrolle.

Statt näher an Südeuropa heranzurücken, bemüht sich die neue niederländische Regierung um einen neuen Schulterschluss mit Deutschland. Die Niederlande und Deutschland standen sich in Fragen der Eurozone schon immer nahe. Die niederländischen Finanzminister pflegten gute Arbeitsbeziehungen zu Wolfgang Schäuble. Doch als 2018 die neue deutsche Regierung ins Amt kam, ging man in Den Haag fälschlicherweise davon aus, alles würde beim Alten bleiben. Entsprechend überraschend kam für die Niederlande die deutsch-französische Erklärung von Meseberg, in der ein gemeinsamer Haushalt für die Eurozone angekündigt wurde. Auch wenn diese Vorschläge später abgeschwächt wurden, deuteten sie doch auf eine gewisse Distanz zwischen Berlin und Den Haag in Fragen der Eurozone hin.

Diese Unstimmigkeiten wuchsen sich 2020 zum Dissens aus. Der damalige Finanzminister Olaf Scholz kritisierte offen seinen niederländischen Amtskollegen Wopke Hoekstra, nachdem dieser gefordert hatte, die Europäische Kommission solle prüfen, warum die südeuropäischen Länder auf den exogenen Schock der Pandemie nicht vorbereitet waren.

Statt näher an Südeuropa heranzurücken, bemüht sich die neue niederländische Regierung um einen neuen Schulterschluss mit Deutschland.

Die Niederlande betrachten die EU traditionell weniger als politisches Projekt denn als Absatzmarkt. Finanzwirtschaftliche Fragen behandeln sie eher abgekoppelt von allgemeinen politischen Überlegungen. Deutschland teilt zwar die niederländischen Bedenken über die nicht mehr tragbare Verschuldung des Südens und steht einer Fiskalunion ablehnend gegenüber, aber Berlin sieht sich zugleich in der historischen Verantwortung, die EU zusammenzuhalten. Dies führte immer wieder zu Disharmonien zwischen der niederländischen und der deutschen Politik in der Eurozone. Kaag wird jetzt also eine politische Korrektur vornehmen müssen, die längst überfällig ist.

Im niederländischen Koalitionsvertrag findet sich vieles aus seinem deutschen Pendant wieder. Die Niederlande haben inzwischen erkannt, dass die EU auch eine Wertegemeinschaft ist. Ihre Zustimmung zur Modernisierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts lehnt sich in der Wortwahl an die entsprechenden Absätze aus dem deutschen Koalitionsvertrag an. Ihr umfangreiches Investitionsprogramm für den Klimaschutz stimmt mit den Zielsetzungen der deutschen Regierung überein. Auch Berlins Standpunkt, dass der EU-Konjunkturfonds zeitlich begrenzt ist, wird nachdrücklich unterstützt. Kaag wird sich, auch wenn sie für Flexibilität eintritt, mit ihrem deutschen Amtskollegen schnell darauf einigen, dass es bei der Reform der Eurozone keine Blankoschecks gibt.

Von allen Beziehungen, die Finanzministerin Kaag knüpfen wird, ist die zu ihrem Amtskollegen Christian Lindner vielleicht die spannendste. Obwohl Lindner und Kaag in Europa aus der gleichen politischen Familie stammen, gehören sie verschiedenen Flügeln an und nehmen in ihrem Kabinett jeweils unterschiedliche Rollen ein. Lindner ist zwar ein finanzpolitischer Hardliner, aber seine sozialdemokratischen und grünen Koalitionspartner werden ihn dazu drängen, innerhalb der EU mehr Flexibilität zu zeigen. Im Gegensatz dazu ist Kaag die ranghöchste Verfechterin der europäischen Solidarität in einem niederländischen Kabinett, das an vielen seiner Sparprinzipien festhält. Die Frage, wie Kaag und Lindner zusammenarbeiten, könnte die Debatte über die Zukunft der Eurozone maßgeblich beeinflussen.

Die Frage, wie Kaag und Lindner zusammenarbeiten, könnte die Debatte über die Zukunft der Eurozone maßgeblich beeinflussen.

Ein erster Test wird die Beantragung eines Corona-Wiederaufbaufonds bei der Europäischen Kommission sein. Die Niederlande reichen als letzter EU-Mitgliedsstaat ihren Antrag ein, der sich auf sechs Milliarden Euro belaufen könnte. Die Mittel sind allerdings an Bedingungen geknüpft. Um sie zu erhalten, müssen sich die Niederlande zu Reformen ihres Arbeitsmarktes und ihres Hypothekensystems verpflichten.

Sollte Kaag beschließen, die Gelder nicht zu beantragen, werden andere Hauptstädte mit dem Finger auf sie zeigen und sagen, dass die niederländischen Finanzminister es schon immer an Solidarität in der EU fehlen ließen. Sie werden den Niederländern vorwerfen, dass sie die Medizin, die sie anderen gerne verschreiben, selbst nicht schlucken wollen. Dies wäre das Aus für eine niederländische „Führungsrolle“ in der EU. Beantragt Kaag die Mittel hingegen, wird sie im eigenen Land dafür kritisiert werden, dass sie sich den Forderungen der EU beugt und Brüssel mehr Mitspracherecht bei den niederländischen Finanzen einräumt. Sie sollte ihren Mut zusammennehmen und es dem Nachbarn Deutschland gleichtun, der ähnliche Mittel beantragt hat. Die Niederlande müssen den Antrag noch vor dem Sommer vorlegen. Erst dann wird sich zeigen, ob der Falke sein Federgewand wirklich wechseln kann.

Aus dem Englischen von Christine Hardung