Das Gesetz 12414 wurde letzte Woche hastig verabschiedet und unterzeichnet, um den Einfluss der Generalstaatsanwaltschaft auf die Korruptionsbekämpfungsbehörden auszuweiten. Dass dies eine solche Kettenreaktion auslösen würde, kam für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wohl überraschend. Ursprünglich hatte der Gesetzentwurf gar keinen Bezug zur Arbeit der ukrainischen Korruptionsbekämpfungsbehörden, sondern sollte die Suche nach in Kriegszeiten vermissten Personen vereinfachen. Doch buchstäblich über Nacht wurde der Gesetzentwurf, für den sich unter normalen Umständen nur die Fachwelt interessiert hätte, zum Anlass für die ersten größeren innenpolitischen Proteste in den dreieinhalb Jahren seit Beginn der russischen Vollinvasion.

Dass auf einmal die Befugnisse zweier bislang weitgehend unabhängiger Korruptionsbekämpfungsbehörden – des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Spezialisierten Antikorruptions-Staatsanwaltschaft (SAP) – beschnitten und beide im Grunde dem vom Präsidenten bestimmten Generalstaatsanwalt unterstellt werden sollten, trieb die Menschen nicht nur in Kiew, sondern auch in vielen anderen Städten auf die Straße. Einerseits darf man die Größenordnung dieser Demonstrationen nicht überbewerten. Zwar demonstrierten in Kiew am zweiten Protesttag deutlich mehr Menschen als am Vortag, aber von Massendemonstrationen zu sprechen, wäre dennoch verfehlt. Darum geht es auch nicht. Die Demonstrationen haben nur ein begrenztes Potenzial und werden überwiegend von den Teilen der Zivilgesellschaft getragen, die Selenskyjs Präsidentschaft schon immer skeptisch gegenüberstanden. Die Korruption gilt zwar laut Umfragen eindeutig als eines der drei größten Probleme im Land, aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung weiß nicht, wofür die Abkürzungen NABU und SAP überhaupt stehen. Darum ist es schwer vorstellbar, dass die Proteste über ihre „Bubble“ hinaus weitere Kreise ziehen werden – zumal auch vielen kritisch eingestellten Bürgerinnen und Bürgern klar ist, dass man in Kriegszeiten innere Konflikte nicht auf die Spitze treiben darf.

Bereits ein Teilverlust der europäischen Finanzhilfen könnte für die Ukraine katastrophale Folgen haben.

Andererseits ist die Tatsache, dass innenpolitische Gegensätze zum ersten Mal seit dreieinhalb Jahren auf der Straße sichtbar werden, allein für sich schon aufschlussreich. Es dürften aber kaum die Demonstrationen gewesen sein, die Selenskyj dazu brachten, einen Tag später die Einbringung eines neuen Gesetzentwurfs ins Parlament (Werchowna Rada) anzukündigen, mit dem nach seinen Worten die Autonomie der Korruptionsbekämpfungsbehörden wiederhergestellt werde. Der entscheidende Faktor war vielmehr der teils öffentliche und teils hinter den Kulissen ausgeübte Druck der EU-Funktionäre, die auf die Verabschiedung des Gesetzes ungewohnt scharf reagierten. Vor dem Hintergrund, dass die Steuereinnahmen der Ukraine so gut wie vollständig in die Verteidigung fließen, könnte bereits ein Teilverlust der europäischen Finanzhilfen katastrophale Folgen haben – zumal seit Donald Trumps Einzug ins Weiße Haus höchst unwahrscheinlich ausgeschlossen ist, dass Kiew weiterhin ohne Gegenleistung direkte Finanzhilfen bekommt.

Unterschätzen sollte man die Bedeutung des gesellschaftlichen Drucks im eigenen Land trotzdem nicht. Dieser Druck hängt nicht nur mit dem Inhalt des Gesetzentwurfs 12414 zusammen, der dem Generalstaatsanwalt de facto uneingeschränkten Einfluss auf die Korruptionsbekämpfungsbehörden gewährt. Solange das sofort in Kraft getretene Gesetz nicht aufgehoben wird, hat der vom Präsidenten abhängige Generalstaatsanwalt uneingeschränkten Zugang zu den Ermittlungsunterlagen des NABU, kann bindende Weisungen zur Amtsausübung erteilen oder Vorgänge aus der Zuständigkeit des NABU anderen Stellen zuweisen und de facto sogar die Leitung des SAP übernehmen.

Schon die Verabschiedung des Gesetzes wirkte wie eine vorausgeplante Aktion – zumal nachdem der Inlandsgeheimdienst SBU kurz zuvor Durchsuchungen bei NABU-Mitarbeitern durchgeführt hatte, mit der Begründung, der „russische Einfluss“ müsse „neutralisiert“ werden. Die Parallelen zu den Zeiten des 2014 nach Russland geflüchteten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowytsch werden zwar übertrieben, sind aber nicht zu übersehen. Insbesondere nach Janukowytschs Flucht nach Russland und den Maidan-Protesten, die in der Ukraine „Revolution der Würde“ genannt werden, begann sich in einem offenen Wettbewerb und mit aktiver Unterstützung der EU ein weit verzweigtes Netzwerk von Korruptionsbekämpfungsbehörden herauszubilden, zu dem auch NABU und SAP gehören.

Die Fachwelt ist geteilter Meinung, ob es richtig war, neue Organe aufzubauen, statt sich auf die Reform der schon bestehenden Strafverfolgungsbehörden zu konzentrieren. Für einen Neuanfang sprach vor allem, dass die vorhandenen Strukturen bis 2014 zutiefst korrupt und massiv von russischen Agenten unterwandert waren. Als mögliche Problemherde erkannte man schon damals die unvermeidlichen Dauerkonflikte zwischen den traditionellen Organen und den „Korruptionsbekämpfern“, die weder zu Zeiten des Präsidenten Petro Poroschenko noch unter seinem Nachfolger Wolodymyr Selenskyj jemals aufhörten.

Trotz der vielen Ermittlungen und aufsehenerregender Verhaftungen kommt es nur bei einem Prozent der eröffneten Verfahren zur Verurteilung – eine kümmerliche Bilanz.

Heute – elf Jahre später – lässt sich das Korruptionsbekämpfungs-System der Ukraine schwerlich als absolute Erfolgsgeschichte werten. Trotz der vielen Ermittlungen, die hohe Wellen schlugen, und aufsehenerregender Verhaftungen kommt es nur bei einem Prozent der eröffneten Verfahren zur Verurteilung – eine kümmerliche Bilanz. Hinzu kommt, dass laut einer Erhebung des Razumkov Centre  62 Prozent der ukrainischen Bevölkerung kein volles oder gar kein Vertrauen in NABU und SAP haben. Dieser Indikator ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: Da beide Behörden der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind, ist diese Zahl eher Ausdruck eines allgemeinen Misstrauens gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und nicht gegenüber der konkreten Arbeit von NABU und SAP. Allerdings ist die Kritik, sie würden ineffektiv und zu langsam arbeiten, durchaus berechtigt.

Andererseits ist es NABU und SAP als Verdienst anzurechnen, dass die Ukraine seit 2014 im Kampf gegen die Korruption tatsächlich einen großen Schritt vorangekommen ist. Ein prominentes Beispiel ist der spektakuläre Fall des ehemaligen Vizepremiers Oleksij Tschernyschow, der lange als Selenskyjs Günstling galt und enge Beziehungen zu dessen früherem Geschäftspartner Timur Minditsch pflegte. Vor einem Monat geriet Minditsch, der bis zuletzt großen Einfluss auf Selenskyj hatte, in den Verdacht, in eine Korruptionsaffäre in der Baubranche verwickelt gewesen zu sein, als er das Infrastrukturministerium leitete. Das für Korruptionsbekämpfung zuständige Gericht setzte Tschernyschow zwar gegen eine Kaution von rund 2,5 Millionen Euro auf freien Fuß, aber der Verdacht gegen ihn wurde als begründet eingestuft. Damit ist Tschernyschow die ranghöchste Person, die während Selenskyjs Präsidentschaft in einem Korruptionsprozess eine Rolle spielt.

Ob dieser Vorgang und mögliche Ermittlungen gegen weitere Personen aus dem relativ nahen Umfeld des Präsidenten der unmittelbare Auslöser für den Angriff auf NABU und SAP war, ist nicht bekannt. Es ist sehr gut möglich, dass auch der USA-Faktor eine Rolle spielte – denn das Schicksal der Korruptionsbekämpfungsbehörden in der Ukraine dürfte für Donald Trumps Regierung keinen so hohen Stellenwert haben wie für Trump-Vorgänger Joe Biden. Klar ist jedenfalls: Die Verabschiedung des Gesetzes 12414 hat in jedem Fall sowohl innen- als auch außenpolitische Auswirkungen und stärkt jene Kritiker Selenskyjs, die ihm vorwerfen, er leiste autoritären Tendenzen Vorschub. Und für den Präsidenten und für die sich gegen die russische Aggression verteidigende Ukraine wäre es besser gewesen, wenn das Gesetz so schnell wie möglich aufgehoben worden wäre.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld