Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09, die Flüchtlingskrise 2015, die Corona-Krise 2020/21, der Ukraine-Krieg und die darauf folgende Energiekrise 2022 sowie die alles übergreifende Klimakrise zeichnen eine Abfolge und Dichte von Krisenereignissen, die politisches Handeln immer mehr in einem Krisenmodus gefangen hält. Unter dem Eindruck solch aufschaukelnder multipler Krisenerfahrungen verfestigt sich im politischen Handeln ein reaktives Muster, da die Bewährungs- und Belastungsproben für politische Entscheidungsprozesse immer enger getaktet auftreten.

Der Nationalstaat tritt in die Rolle eines „lender of last resort“ ein, demokratisches Regieren erfährt einen Formwandel in Richtung des durchgreifenden Entscheidens statt des deliberativen Ausgleichs. Politik wird auf den Output in Form von Rettungsprogrammen verkürzt. Effektives Krisenmanagement gerät zum Ausdruck maximaler politischer Gestaltungsfähigkeit, transformatorische Impulse versiegen oder werden den Krisenlogiken untergeordnet. Die Ausnahmesituation wird zur Regel und damit auch zur Begrenzung des politisch Denkbaren und Möglichen.

Die Krisenbewältigungsmaßnahmen verstärken die negativen Symptome anderer Krisen, die Zeithorizonte für die angestrebte Krisenbewältigung geraten ins Schwimmen. Politik vermittelt den Eindruck kontinuierlich nachlaufender Reaktionen, eine Gestaltungsrolle ist immer weniger erkennbar. Mit den angesagten Rettungsaktionen löst sich die Gestaltung der Zukunft in der Gegenwart auf. Gleichzeitig wird innenpolitisch durch extreme Parteien die individuelle Verantwortungslosigkeit propagiert, die mit einer Entpolitisierung durch Verschwörungstheorien einhergeht. Der Verfall des öffentlichen Diskurses ist die Folge, die politische Produktivität im Sinne der angestrebten Neuordnung von Zukunft kommt dabei unter die Räder. Politisches Handeln wird auf die Rettung angesichts der gerade anstehenden Krise reduziert. Letztlich ist die Politik nicht mehr in der Lage, aus dem Krisenmodus herauszukommen. Dem ersten Rettungsschirm folgt das nächste Entlastungspaket, um Folgen der Krisen abzufedern und Handlungsstärke zu beweisen.

Die Rettungsformeln vom „Wir schaffen das“ bis zu „You never walk alone“ vermitteln ein Politikverständnis, das dem Individuum die Unsicherheit angesichts externer Bedrohungen und Herausforderungen nehmen soll. Zwar wird dadurch Gemeinsamkeit und kollektive Lösung suggeriert, letztlich geht es aber um die Abwendung und Kontrolle möglicher Risiken für das individuelle Leben beziehungsweise die Lebensgestaltung. Furcht oder Resignation angesichts überwältigender Krisenbedrohung aus dem externen Bereich sollen aufgefangen werden, die Lebensführung nicht oder nur begrenzt beeinträchtigt werden. Letztlich wird damit ein Bild vermittelt, dass die Krisen nur Störungen seinen, die den gewohnten Alltag unterbrechen, die Notwendigkeit des Wandels wird damit kaum vermittelt. Es treten Schatten auf, die durch mehr Licht aus anderer Richtung vertrieben werden und so den Weg in die etablierte Zukunft nicht verstellen können. Es gilt das Versprechen des Staates, sich so um die Daseinsfürsorge und darüber hinaus zu kümmern, dass keine oder nur mindere Verwerfungen auftreten, die Richtung aber dadurch nicht in Frage gestellt wird.

Politisches Handeln wird auf die Rettung angesichts der gerade anstehenden Krise reduziert.

Doch diese Logik der Rettung und der damit verbundene Aktionismus verstellen nicht nur den Blick auf die hinter dem Krisengeschehen verborgenen Machtsysteme und Identitätsprojektionen. Die eigentlich notwendige gemeinsame Suche nach neuen Wegen, nach dem Umsteuern, nach Wandel im umfassenden Sinn findet nicht statt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in der Gesellschaft, aber auch international sich widerstreitende Rettungsstrategien angeboten werden: Im Inneren wird einerseits die Rückkehr zur Schuldenbremse, andererseits die Ausweitung von Staatsausgaben propagiert. Im internationalen Feld ist es die Suche nach nationalstaatlicher Autonomie beziehungsweise europäischer Souveränität oder die Beschwörung des Multilateralismus. In beiden Fällen findet eine gemeinsame Auseinandersetzung darüber kaum statt. Sie erstirbt durch das Staatshandeln, durch eine Staatspraxis, die sich eher beiläufig der Frage nach einer Gestaltung der Zukunft entledigt und sich in der Gegenwart der Krise erschöpft. Dabei könnte auch die Konkurrenz der Rettungsvorschläge genutzt werden, um von ihnen ausgehend Fragen nach der Art des zukünftigen Zusammenlebens zu stellen, Gemeinschaft(en) zu begründen und kollektives Handeln zu ermöglichen.  

In der Hilflosigkeit, dem dauerhaften Ausgesetztsein unterschiedlicher Krisenanforderungen, wird der Nationalstaat zum Rettungsanker. Der Brexit ist insoweit ein Symptom dafür, wie das Vereinigte Königreich die Zukunft in der Vergangenheit suchte und sich damit ausufernden Anforderungen zu entziehen versuchte. Doch die Gefahr besteht, dass das Streben nach Sicherheit und Autonomie im nationalen Rahmen nur zu Selbstbezogenheit führt – bei der Bevölkerung wie den politisch Handelnden. Die Neigung der Versicherheitlichung einer Fülle von internationalen Bezügen, von der Rohstoffversorgung über die Lieferketten bis zur Medikamentenproduktion, suspendiert die notwendige Abwägung, wo Interdependenz und Abhängigkeit erträglich, notwendig oder gar unverzichtbar sind, wenn es sich um anderweitig nicht verfügbare Güter handelt. Der Weg in Mikrowelten, die vorgebliche Sicherheiten suggerieren und gleichzeitig immer identitärer werden, muss daher kritisch hinterfragt werden. Die Wiederkehr des nationalstaatlichen Rettungshandelns ist nur eine Seite der Medaille, die notwendige Verankerung in den internationalen Beziehungen – vor allem aber deren Mitgestaltung – die andere.

Die Welle der Erosion demokratischer Regime lässt die „Partnerlandschaft“ deutlich schrumpfen.

Litt Außenpolitik bislang an Interdependenzüberflutung, so setzt sich im Zeichen der jüngsten Corona- und Energiekrise und natürlich dem Ukraine-Krieg eine Logik durch, die Interdependenzverwundbarkeit zu reduzieren. Ressourcensouveränität und strategische Autonomie sind dabei die maßgeblichen Kriterien. Die Welt wird zunehmend in verlässliche und weniger vertrauenswürdige Partner aufgeteilt, das binäre Muster von Freund und Feind bemächtigt sich des politischen Handelns. Eine Politik der „roten Linien“ wird daraus begründet, dass sie die aus nationalen Vorgaben abgeleiteten Verhaltensmaßregeln international verpflichtend umsetzen will. Doch diese aus der Rettungslogik entwickelte Bestimmung für die Außen- und Sicherheitspolitik gerät schnell an ihre Grenzen: Die anvisierten „Partner“, insbesondere im Globalen Süden – zumal wenn sie über strategische Rohstoffe verfügen –, wollen sich diesen Geboten nicht fügen und setzen dem ihre eigene Handlungsautonomie entgegen.

Der Weg einer geopolitisch ausgelegten Globalisierung, die von den Staaten des „Westens“ angestrebt wird, versucht letztlich den erweiterten territorialen Aktivitätsspielraum von transnationalen Unternehmen zurückzuführen. Die über Jahre eingetretene „De-Territorialisierung“ durch internationalisierte Produktionsstandorte und Lieferketten, insbesondere bei als strategisch eingestuften Produkten und Dienstleistungen, soll wieder eingefangen werden. Im Nationalstaat wächst das Bedürfnis an Marktüberwachung, um ungewünschte Abhängigkeiten aufzulösen und stärker nach dem Prinzip des „friend-shoring“ kontrollierbare Produktionsbedingungen zu schaffen, um Ausfälle und Störungen besser koordinieren zu können.

Die Welle der Erosion demokratischer Regime lässt die „Partnerlandschaft“ deutlich schrumpfen, die Beschädigung oder gar Suspendierung von Menschen- und Bürgerrechten reduziert weltweit die Chance, auf geeignete Wegbegleiter für den Bau einer neuen internationalen Ordnung rechnen zu können. Eine Politik der Rettungslogiken reduziert damit politische Handlungsspielräume und Kooperationsoptionen, ohne gleichzeitig am Aufbau neuer internationaler Ordnungsmuster zu arbeiten. Selbst wenn eine neue internationale Ordnung im Zeichen der Großmachtkonkurrenz und der Wiederkehr von Krieg eher konfliktiv zu denken sein mag, sind dennoch Wege jenseits von Rettungswegen und Insellösungen zu suchen, um ein Zusammenleben auf der internationalen Ebene zu ermöglichen. Hier gemeinsam mit anderen Ländern – auch des Globalen Südens und über den „Westen“ hinaus – ein Nachdenken zu beginnen, ist mehr als überfällig.