Von außen wirkt Chile oft wie ein Musterland Lateinamerikas: stabile Institutionen, funktionierende Demokratie, wachsendes Umweltbewusstsein, solide Wirtschaftsdaten. Doch hinter dieser Fassade brodelt es. Nur noch wenige Tage trennen das Land von einer Wahl, die weit mehr ist als ein gewöhnlicher Urnengang. Am 16. November wird sich entscheiden, ob Chile den Kurs sozialer Reformen fortsetzt – oder ob es, wie so viele Länder der Region, einem autoritär-konservativen Rechtsruck verfällt.

Acht Kandidatinnen und Kandidaten stehen zur Wahl, doch realistisch wird sich alles zwischen vier entscheiden. Auf der linken Seite tritt Jeannette Jara an, Kommunistin, ehemalige Arbeitsministerin in der Regierung des linken Präsidenten Gabriel Boric und Einheitskandidatin des progressiven Lagers. Auf der anderen Seite stehen gleich drei Bewerber der Rechten – Evelyn Matthei, Jose Antonio Kast und Johannes Kaiser – mit unterschiedlichen Nuancen desselben Programms: mit Law and Order, wirtschaftlichem Liberalismus, kulturellem Rollback.

Vor vier Jahren schien das Land im Aufbruch. Nach den massiven sozialen Protesten von 2019 wählte die chilenische Bevölkerung mit Boric einen Hoffnungsträger, der die Energie der Straße ins Regierungshaus tragen sollte.

Vor vier Jahren schien das Land im Aufbruch. Nach den massiven sozialen Protesten von 2019, die mehr soziale Gerechtigkeit, faire Renten, Bildung und Gesundheit forderten, wählte die chilenische Bevölkerung mit Boric einen Hoffnungsträger, der die Energie der Straße ins Regierungshaus tragen sollte. Doch die Euphorie ist verflogen. Die Verfassungsprozesse sind gescheitert, viele Reformen blieben im Parlament stecken, und die gesellschaftliche Ungeduld wuchs. Nicht weil die Ziele falsch waren, sondern weil der Weg dorthin unterschätzt wurde. Ein Land, das Jahrzehnte neoliberaler Politik hinter sich hat, lässt sich nicht von heute auf morgen transformieren. Die Enttäuschung über unerfüllte Versprechen hat das Vertrauen in progressive Politik erodieren lassen.

In dieses Klima der Frustration stößt die Rechte mit altbekannten Rezepten: Angst vor Kriminalität, mit dem Versprechen einer harten Hand, mit nationalistischer Rhetorik. Die Zahlen spielen ihr in die Hände – steigende Unsicherheit, sichtbarere Armut, organisierte Kriminalität. Laut aktuellen Umfragen nennen 61 Prozent der Bevölkerung „Sicherheit“ als ihr größtes Anliegen. Der rechtsextreme Kandidat Jose Antonio Kast hat aus seiner Niederlage gegen Boric vor vier Jahren gelernt. Seine harten Angriffe auf Feminismus, Abtreibung und Genderrechte sind aus dem Wahlkampf verschwunden – nicht weil er sie aufgegeben hätte, sondern weil er gelernt hat, sie zu verschleiern. Stattdessen inszeniert er sich als seriöser Staatsmann, als Retter der Ordnung.

Diese Strategie funktioniert auch, weil Johannes Kaiser mit seiner offen misogynen, xenophoben und autoritären Rhetorik das Spektrum nach rechts verschiebt. Neben ihm wirkt Kast beinahe gemäßigt. Es ist ein bekanntes Spiel: Der Radikalste bereitet den Boden, der „Gemäßigte“ erntet den Gewinn. Evelyn Matthei wiederum versucht, die Stimme der Vernunft zu sein – doch ihre frühere Verteidigung der Militärdiktatur lässt Zweifel aufkommen. Wenn selbst die „rechte Mitte“ nostalgisch auf Ex-Diktator Pinochet blickt, dann ist das politische Zentrum längst verrutscht.

Hier liegt ein zentraler Fehler der chilenischen Linken: Sie hat es versäumt, die soziale Wut in konkrete, greifbare Fortschritte umzuwandeln.

Jeannette Jara steht inmitten dieses Spannungsfelds. Sie verkörpert, was von der Idee der sozialen Gerechtigkeit übriggeblieben ist: Bodenhaftung, Glaubwürdigkeit, Nähe zu den einfachen Leuten. Doch sie trägt eine Hypothek – sie ist die Kandidatin der Regierungslinken, deren Bilanz viele Wählerinnen und Wähler als enttäuschend empfinden. Hier liegt ein zentraler Fehler der chilenischen Linken: Sie hat es versäumt, die soziale Wut in konkrete, greifbare Fortschritte umzuwandeln. Statt die neue Verfassung als langfristiges und gesamtchilenisches Projekt zu begreifen, verstrickte sie sich damals in ideologische Grabenkämpfe, in Symbolpolitik und interne Machtspiele. Währenddessen nutzte die Rechte die Zeit, um sich neu zu erfinden – nicht inhaltlich, aber rhetorisch. Wenn Jara eine Chance haben will, muss sie den Mut finden, ehrlich über diese Fehler zu sprechen. Nur wer die eigene Verantwortung anerkennt, kann verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.

Angst spielt eine zentrale Rolle in diesem Wahlkampf. Angst vor Kriminalität, vor Armut und selbst vor dem Kommunismus. Kast und Kaiser instrumentalisieren sie mit kalkulierter Präzision. Dabei ist die Lage komplexer, als es die Schlagworte „Chaos“ oder „Abgrund“ suggerieren. Chile steht nicht am Rande des Kollapses: Die Demokratie funktioniert, die Wirtschaft stagniert zwar, ist aber stabil und die Institutionen tragen. Aber der gefühlte Kontrollverlust ist real. Und wer Angst verspürt, wählt selten mutig. Neu ist in diesem Jahr die Wahlpflicht mit automatischer Registrierung. Etwa ein Drittel der Wählerschaft gilt als „unbekannt“ – Menschen, die in den letzten Jahren nie zur Wahl gegangen sind. Unter ihnen sind viele aus prekären Verhältnissen, viele Junge, viele Desillusionierte.

Jara könnte bei ihnen punkten. Ihre Biografie – sie stammt aus einfachen Verhältnissen –, ihre direkte, warme Art wirken authentisch. Doch auch hier ist nichts sicher. Schon beim ersten Verfassungsreferendum hoffte die Linke, die Nichtwähler würden sie tragen – doch am Ende profitierten die Rechtsextremen. Das wohl einzige Szenario, das Jaras Chancen deutlich erhöhen würde, wäre eine Stichwahl gegen Johannes Kaiser – einen Mann, der selbst vielen Rechten zu radikal ist. In diesem Fall könnte sich wiederholen, was 2021 geschah, als die Angst vor dem damals als zu extrem empfundenden Kast den linken Studentenführer Boric ins Präsidentenamt trug. Doch realistischer ist das Duell Jara gegen Kast. Und dann stünden die Zeichen auf Rechtsruck – nicht aus Überzeugung, sondern wohl eher aus Erschöpfung.

Ein Sieg Kasts wäre kein gewöhnlicher Machtwechsel. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die rechten Parteien auch im Parlament die Mehrheit erringen. Damit hätte Kast gute Chancen, seine Agenda auch umzusetzen – von verschärften Sicherheitsgesetzen über neoliberale Wirtschaftspolitik bis hin zur Aushöhlung progressiver Errungenschaften. Auch wenn sich Kast heute gemäßigter präsentiert, bleibt seine politische DNA dieselbe. Früher oder später würde er, wie seine ideologischen Amtskollegen à la Milei oder Trump, einen Kulturkampf anzetteln: gegen Abtreibung, Sexualaufklärung, gendergerechte Sprache und Überfremdung. Vielleicht nicht sofort, aber sicher irgendwann.

Früher oder später würde Kast, wie seine ideologischen Amtskollegen à la Milei oder Trump, einen Kulturkampf anzetteln: gegen Abtreibung, Sexualaufklärung, gendergerechte Sprache und Überfremdung.

Für die Linke wäre eine doppelte Niederlage – Präsidentschaft und Parlament – verheerend. Die fragile Einheit der progressiven Allianz zwischen Frente Amplio, Sozialisten und Kommunisten könnte zerbrechen. Gabriel Boric, heute noch Präsident, morgen Oppositionsführer, müsste die Trümmer einer enttäuschten Bewegung zusammenkehren. Chile steht nicht vor dem Kollaps, aber an einer Weggabelung. Es braucht keine „starke Hand“, sondern einen starken Staat, der Vertrauen schafft. Einen Staat, der nicht nur reagiert, sondern gestaltet. Es braucht gute öffentliche Schulen, ein besseres öffentliches Gesundheitssystem und ein neues Entwicklungsmodell, das Innovation fördert und existenzsichernde Arbeit schafft.

Die Linke wäre gut beraten, ein neues politisches Projekt zu entwerfen, das echte Lösungen für reale Verluste anbietet und dabei die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in sich trägt. Das bedeutet, Politik wieder mehr als Werkzeug der Veränderung zu verstehen – nicht als moralische Geste, sondern als handfeste Arbeit für mehr Gleichheit und Sicherheit.

Am 14. Dezember, nach der Stichwahl, wird sich zeigen, ob Chile der Angst nachgibt – oder ob es noch genug Mut hat, an eine gerechtere Gesellschaft zu glauben. Vielleicht wird Jeannette Jara verlieren – nicht nur, aber auch, weil sie Kommunistin ist. Ihre Chancen, im zweiten Wahlgang weitere Stimmen aus der Mitte oder dem Mitte-rechts-Lager hinzuzugewinnen, sind für die gar nicht so kommunistische Kommunistin gering. Wahrscheinlicher ist, dass erstmals die extreme Rechte, die extremer ist, als sie sich derzeit gibt, das Ruder in Chile übernehmen wird. Doch vielleicht kommt es auch zu einem kleinen Wunder, denn eines hat Chiles Geschichte schon mehrfach bewiesen: Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt.