Warum ist Donald Trump so mächtig? Wie hat er es geschafft, sich eine der beiden großen Parteien und die Präsidentschaft unter den Nagel zu reißen? Ist es seine Frisur? Seine Leibesfülle? Nein, es liegt an den Narrativen, die er verbreitet. Trump erzählt wirkmächtige Geschichten, die Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern für glaubhaft halten.
Dem wichtigsten Narrativ zufolge wird Amerika von den korrupten Eliten der Küstenstaaten zugrunde gerichtet. Das „Regime“, so der Begriff der Trumpianer, sei ein gut verzahntes Netzwerk einer gebildeten Schicht: Die Machtelite in Washington, liberale Medien, große Stiftungen, Eliteuniversitäten und „woke“ Unternehmen. Diese Leute seien korrupt, respektlos, unmoralisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Weil Trump ihnen die Stirn biete, hätten sie es auf ihn abgesehen. Und sie hätten es nicht nur auf Trump abgesehen, sondern auf uns alle.
Dieses Narrativ hat einen wahren Kern. Die gebildeten Großstadteliten haben sich zu einer Art geschlossener Brahmanenkaste entwickelt. Aber in der Trump’schen Propaganda wird aus dieser durchaus beklagenswerten gesellschaftlichen Spaltung eine bösartige Verschwörungstheorie gestrickt. Wider alle Belege lautet die schlichte Grundannahme, dass die maßgeblichen gesellschaftlichen Institutionen von Natur aus korrupt, arglistig und parteiisch sind sowie entsprechend böswillig agieren.
Die einfachen Leute seien die Anständigen, und als Beweis dafür wird angeführt, dass sie vom Regime unter Beschuss genommen würden. Trumps politische Laufbahn profitiert seit Anbeginn von der Verachtung der Eliten. Je mehr ihn das Establishment verachtet, desto mehr lieben ihn die Republikaner. Eine Führungsrolle in der Republikanischen Partei sichert man sich heutzutage in erster Linie durch die Auswahl der richtigen Feinde.
Trumps politische Laufbahn profitiert seit Anbeginn von der Verachtung der Eliten.
In dieser Situation tritt das FBI auf den Plan. Wir wissen nicht viel über die Durchsuchung von Mar-a-Lago, aber wir wissen, wie die Grand Old Party (GOP), die Republikanische Partei darauf reagiert hat. Auf der rechten Seite meines Twitter-Feeds herrschte Ekstase. Seht nur! Man verfolgt uns tatsächlich! Es erschienen Beiträge mit Überschriften wie „Das Regime nimmt Rache“, und Ron DeSantis twitterte: „Die Razzia in MAL ist eine weitere Eskalationsstufe in der Instrumentalisierung von Bundesbehörden im Kampf gegen die politischen Regimegegner.“ Wie üblich war der Ton apokalyptisch. „Das ist der schlimmste Anschlag auf die Republik in der neueren Geschichte“, rief Fox News-Moderator Mark Levin.
Die Ermittlungen gegen Trump wurden allenthalben als abscheulicher Komplott des Regimes dargestellt. Fürs Erste zumindest hat die Durchsuchung die politische Landschaft der Republikanischen Partei erschüttert. Vor einigen Wochen noch war laut einer Umfrage von New York Times und Siena College die republikanische Wählerschaft etwa zur Hälfte bereit, Trump den Rücken zu kehren. In dieser Woche versammelte sich ein großer Teil der Partei hinter ihm. Republikanische Strategen, die Trumps potenzielle Vorwahlgegner beraten, hatten allen Grund zur Verzweiflung. „Das war für ihn ein Rettungsanker“, wurde einer von ihnen in Politico zitiert. „Unglaublich ... Das hat die Leute wieder auf Trump-Linie gebracht. Allen anderen wurde der Wind aus den Segeln genommen.“
Laut einer Umfrage der Trafalgar Group/Convention of States Action gaben 83 Prozent der potenziellen Republikaner-Wählerinnen an, die FBI-Durchsuchung motiviere sie zu einer Teilnahme an den Kongresswahlen 2022. Mehr als 75 Prozent dieser Wählerschicht glauben, dass nicht die unparteiische Justiz, sondern Trumps politische Gegner hinter der Durchsuchung stecken. Immerhin 48 Prozent aller Wahlberechtigten, die in der Kongresswahl voraussichtlich ihre Stimme abgeben werden, glauben dies ebenfalls.
In einer normalen Gesellschaft wirken sich Ermittlungen oder eine Anklage gegen einen Politiker für ihn negativ aus. Das gilt in der GOP nicht mehr. Rechtssystem und Staatswesen prallen womöglich mit einer noch nie da gewesenen Wucht aufeinander.
Was geschieht, wenn ein Staatsanwalt Anklage gegen Trump erhebt und er, auf dem besten Wege zur GOP-Nominierung oder gar zur Präsidentschaft, verurteilt wird? Was geschieht, wenn das Rechtssystem nach seinen Kriterien entscheidet, dass Trump genau in dem Moment ins Gefängnis wandern soll, in dem das Wahlsystem nach seinen Kriterien entscheidet, dass er ins Weiße Haus einziehen soll?
Die Ermittlungen gegen Trump wurden allenthalben als abscheulicher Komplott des Regimes dargestellt.
Ich vermute, man würde Trump unter diesen Umständen verhaften und ins Gefängnis stecken. Und ich vermute auch, es würde massenhaft politisch motivierte Gewalttaten durch aufgebrachte Trumpwähler geben, die zu dem Schluss gelangen, dass das Regime ihnen ihr Land gestohlen hat. Meiner Auffassung nach wäre dies das wahrscheinlichste Szenario für den Zusammenbruch der Demokratie.
In der Theorie ist die Justiz blind, und natürlich darf niemand über dem Gesetz stehen. Aber wie Damon Linker in einem Substack-Beitrag schrieb: „Dies ist ein politisches System, kein Graduiertenseminar in Kantischer Ethik.“ Wir leben in einer spezifischen realen Situation, und wir alle müssen für die realen Folgen unseres Tuns Verantwortung übernehmen.
Jemanden, der ein Verbrechen begeht, muss der amerikanische Staat auf jeden Fall bestrafen. Andererseits muss Amerika auf jeden Fall verhindern, dass Trump eine weitere Amtszeit als Präsident erhält. Was tun wir, wenn eine Strafe die zweite Amtszeit wahrscheinlicher macht? Ich habe keine Ahnung, wie wir aus diesem potenziellen Konflikt zwischen rechtlicher und politischer Realität herauskommen sollen. Wir leben in einer Legitimationskrise, in der das Misstrauen gegenüber der etablierten Macht so verbreitet ist, dass alles, was die Eliten tun, nach hinten losgehen kann, egal, wie gut sie es begründen.
Ich glaube, das FBI hatte legitime Gründe für sein Vorgehen. Ich vermute, man wird belastende Dokumente finden, die den Rückhalt für Trump aber nicht schwächen werden. Und ich bin überzeugt, dass man mit der Aktion zumindest für den Moment Trumps Wiederwahlchancen ungewollt erhöht hat. Trumps potenziellen Herausforderinnen und Herausforderern in den Vorwahlen wurde das Leben ungewollt noch schwerer gemacht, seine Basis angespornt. Es ist, als steuerten wir auf einen Sturm zu und könnten auf rechtschaffene Weise unseren Kurs nicht ändern.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.
Aus dem Englischen von Anne Emmert