In den fortgeschrittenen Demokratien sind wirtschaftliche Stagnation und wachsende geografische Spaltungen längst nicht mehr nur regionale oder finanzielle Probleme. Sie sind zu politischen Brennpunkten geworden, die den Aufstieg populistischer Bewegungen befeuern. Um diese Entwicklungen umzukehren, braucht es einen mutigen neuen Ansatz: den Aufbau hochmoderner, innovationsgetriebener Volkswirtschaften, die Arbeitsplätze schaffen, Regionen wiederbeleben und somit die demokratische Resilienz stärken.
Die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, vor denen die meisten fortgeschrittenen Demokratien – darunter Kanada, das Vereinigte Königreich, Deutschland und der Großteil Europas – stehen, sind zweifacher Art. Erstens gilt es, angesichts stockenden Wachstums und stagnierender Lebensstandards eine dynamischere, wachstumsstarke und hochtechnologische Wirtschaft in Gang zu setzen. Eine Aufgabe und zugleich ein Weckruf für Europa, wie ihn der Draghi-Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU 2024 formuliert hat. Diese Aufgabe wird noch dringlicher, da die US-Regierung unter Trump sich aus internationalen Handelsbeziehungen und Institutionen zurückzieht und zugleich droht, sicherheits- und verteidigungspolitische Zusagen gegenüber Europa infrage zu stellen.
Wenn einst starke Industrieregionen im wirtschaftlichen Niedergang verharren, sind ihre Bewohner besonders empfänglich für polarisierende, antisystemische populistische Bewegungen.
Zweitens müssen die tiefen geografischen ökonomischen Spaltungen geschlossen werden: etwa jene zwischen den dynamischen Küstenregionen und den kriselnden Rust Belt-Bundesstaaten im amerikanischen Mittleren Westen; zwischen dem wohlhabenden London samt Südengland und den ausgehöhlten Gemeinden in den Midlands und im Norden; oder zwischen früheren Stahl- und Kohlerevieren wie Gelsenkirchen im Ruhrgebiet und Cottbus in der ehemaligen DDR sowie weiteren Regionen Deutschlands. Die Wiederbelebung dieser geschwächten industriellen Kernregionen ist entscheidend, denn andernfalls bilden sie den Nährboden für Populismus. Die Forschungslage wird immer klarer: Wenn einst starke Industrieregionen im wirtschaftlichen Niedergang verharren, sind ihre Bewohner besonders empfänglich für polarisierende, antisystemische populistische Bewegungen. Wenn diese Regionen jedoch eine Wende schaffen und neue, innovationsgetriebene Wirtschaftsmodelle entwickeln – wie es in vielen Orten der USA, Großbritanniens und Europas bereits geschehen ist –, dann verändern sich Einstellungen wie auch Wahlverhalten in Richtung politischer Mäßigung. Das heißt: Lokale Wirtschaftspolitik ist heute zu einem zentralen Bestandteil nationaler Stabilität geworden, weil sie hilft, den Aufstieg populistischer, häufig ethno-nationalistischer Anti-System-Parteien einzudämmen: von der US-amerikanischen MAGA-Bewegung über Reform UK bis hin zur AfD in Deutschland und anderen rechtspopulistischen Kräften in Europa.
Die Antworten auf beide Herausforderungen liegen im Ausbau von Innovation und der schnelleren Kommerzialisierung neuer Technologien, Produkte und Verfahren: durch Start-ups und wachstumsstarke Unternehmen, die regionales wie nationales Wachstum ankurbeln und hochwertige Arbeitsplätze sowie steigende Lebensstandards ermöglichen. Daher ist es für Demokratien dringend geboten, robuste innovationsgetriebene Volkswirtschaften und heimische Hightech-Industrien aufzubauen, insbesondere in jenen Regionen im Strukturwandel, die diesen Weg nicht allein aus eigener Kraft finden.
Europa hat die Faktoren, die den Aufbau einer kreativen, forschungs- und finanzgetriebenen Start-up- und Technologiebranche erschweren, seit Langem diagnostiziert – jedoch kaum behoben. Die „Blockaden“ sind vielfältig: komplexe EU- und nationale Regulierungen; universitäre Anreizstrukturen, die Kommerzialisierung und Unternehmertum eher behindern; Unternehmenskulturen, die inkrementelle Verbesserungen gegenüber disruptiven Durchbrüchen bevorzugen; sowie eine begrenzte Risikobereitschaft und ein kleiner Pool an großvolumigem, schnellem Venturecapital und Frühphaseninvestoren.
Auch in Kanada und dem Vereinigten Königreich – mit anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Traditionen als in Kontinentaleuropa – gilt: Trotz exzellenter Universitäten und beträchtlicher unternehmerischer Forschung und Entwicklung schaffen es zu wenige Entdeckungen, als hochwertige Start-ups in den Markt überzugehen. In fast allen Ländern werden junge Technologieunternehmen zudem frühzeitig von ausländischen Investoren finanziert, aufgekauft und ins Ausland verlagert. Damit entsteht eine gefährliche Abhängigkeit von US-Technologie, nicht zuletzt bei Verteidigungsanwendungen.
Es ist daher entscheidend, aus dem US-amerikanischen Erfahrungsschatz die richtigen Lehren zu ziehen. Die USA haben über Jahrzehnte hinweg wirtschaftliche Cluster und bahnbrechende Technologien hervorgebracht: vom Halbleiter über das Internet bis zu Start-ups, die Google, Uber, Amazon oder Instagram entwickelten. Im Zentrum dieses Innovationsökosystems stehen die Universitäten, ergänzt durch tausende Colleges, Forschungsinstitute sowie medizinische Forschungs- und Lehrkrankenhäuser. Sie alle ziehen weltweit Spitzenkräfte an und bilden sie aus – in Informatik, Ingenieurwesen, Wirtschaft, Finanzen und Medizin.
Die Bedingungen, die das dynamische US-Innovationsökosystem hervorbringen, sind nicht bloß Ausdruck einer „wilden amerikanischen Kultur“. Vielmehr zeigen politische Programme und funktionierende Innovationsökosysteme in ehemaligen Industriemetropolen wie Cleveland oder Pittsburgh sowie in Produktionsstaaten wie Wisconsin, Michigan und North Carolina: Dynamische Innovationslandschaften sind nicht nur im Silicon Valley möglich. Sie entstehen auch andernorts – selbst in Regionen, die einst abschätzig als Rust Belt bezeichnet wurden.
Das politische Erfolgsrezept umfasst: starke öffentliche und private Finanzierung von Forschung; den Ausbau bestehender und den Aufbau neuer Forschungs- und Bildungseinrichtungen; regionale Innovationsfonds.
Das politische Erfolgsrezept umfasst: starke öffentliche und private Finanzierung von Grundlagen- und angewandter Forschung; den Ausbau bestehender und den Aufbau neuer Forschungs- und Bildungseinrichtungen; regionale Innovationsfonds – wie in Michigan oder Indiana oder den Städten Green Bay, Cincinnati und Columbus –, die Risiko- und Wagniskapital in Regionen lenken, in denen es sich sonst kaum bildet. Hinzu kommen öffentlich-private Vermittlungsorganisationen, mit deren Hilfe erfahrene Investorinnen und Unternehmer das Wachstum vielversprechender Start-ups aus regionalen Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen voranbringen. Auf nationaler Ebene haben die Investitionen der Biden-Administration in Wissenschaft und Technologie über den CHIPS and Science Act neue Innovation Engines und Tech Hubs geschaffen; bewusst fern von den Küstenregionen, die bereits Superstar-Ökonomien sind.
Doch für Länder, die ihre eigene Hightech-Ökonomie ankurbeln wollen, geht es nicht nur um die richtige Mischung aus Finanzierung, Anreizen, Regulierung und Programmen. Es geht auch darum, die Kulturen von Universitäten und Forschungseinrichtungen zu verändern; hin zu einer Mission, die Unternehmensgründungen und wirtschaftliches Wachstum aktiv fördert. Diesen Wandel haben die University of Pittsburgh und die Carnegie Mellon University vollzogen – und damit Pittsburghs Transformation von der sterbenden Industriestadt zum florierenden Zentrum für KI, Robotik und IT ermöglicht.
Ein leistungsfähiges regionales Innovationsökosystem stärkt die nationale Hightech-Wirtschaft, aber umgekehrt gilt das nicht immer. Damit solche Ökosysteme ihr volles Potenzial entfalten können, müssen Universitäten aktive Partner regionaler Entwicklung sein. Sie dürfen nicht neutral gegenüber wirtschaftlicher Transformation bleiben. Jetzt ist der Moment für die fortgeschrittenen Demokratien, ihre Selbstbeschränkungen abzulegen: die Vorstellung, Europa könne dem Silicon Valley niemals das Wasser reichen. Europa hat zweifellos die Fähigkeit, neue Technologien und wirtschaftlich transformative Innovationsökosysteme hervorzubringen. Die Herausforderung besteht darin, diese Erfolge zu verbreitern: Zwar entwickeln sich Städte wie Paris, London, Berlin, Stockholm, Amsterdam, Tallinn, Helsinki, Porto oder Vilnius zu starken europäischen Tech Hubs, doch viele Regionen bleiben zurück.
Der internationale Austausch über erfolgreiche Innovationsstrategien wird immer wichtiger, denn der geopolitische Druck wächst. Die USA verfolgen zunehmend eine merkantilistische Politik, die Freunde wie Gegner gleichermaßen belastet. Europas neue sicherheitspolitische Eigenständigkeit wiederum wird durch die Abhängigkeit von US-Technologie erschwert, während amerikanische Tech-Konzerne zugleich ungehinderten Zugang zu europäischen Märkten verlangen. Die gute Nachricht: Innovationsakteure von Universitäten wie Duisburg und Dortmund, Newcastle und Manchester sowie Michigan und North Carolina beginnen, sich enger zu vernetzen, um die gemeinsamen Herausforderungen besser anzupacken. Durch kluge Zusammenarbeit können wir wirtschaftlich abgehängte Regionen Europas erneuern – Regionen, die sonst weiter populistische Kräfte stärken würden, die, wie die USA zeigen, ein ganz anderes Verständnis von Wissenschaft, Universitäten und demokratischen Werten haben. Gleichzeitig können wir nationale Innovationskraft wie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steigern und eine internationale Allianz stärken, die denjenigen entgegentritt, die unsere gemeinsamen demokratischen Lebensweisen untergraben wollen. In unser aller Interesse liegt es, gemeinsam und entschlossen zu handeln, und zwar schnell.





